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Für ein Fachmagazin stehen politische Themen eigentlich nicht ganz oben auf der Agenda. Doch am 23. Februar steht eine Richtungswahl an, die unser Land für Jahrzehnte prägen kann. Ich will keine Wahlempfehlung abgeben. Doch in den vergangenen Wochen und Monaten ist zu viel geschehen, das Einfluss auf diese Bundestagswahl hat – leider überwiegend im Negativen. Drei Punkte will ich exemplarisch ansprechen.
Die islamistisch motivierten Terroranschläge sind zu verurteilen. Gar keine Frage. Die Täter sind Mörder und gehören als solche bestraft. Die Anschlagserie hat genau die Wirkung erzielt, die sie beabsichtigte: Sie schafft ein Klima der Angst und Verunsicherung – beides schlechte Ratgeber. Es erschüttert mich, dass Menschen sterben müssen, weil andere im Wahn bestrafen und töten wollen. Es fällt schwer, an die Opfer und ihre Angehörigen zu denken und das Geschehene zu begreifen. Dennoch dürfen diese Opfer nicht politisch missbraucht werden – genau das passiert aber derzeit. Die CDU will die Grenzen dicht machen und dies mit der Ausrufung einer Notlage in Deutschland begründen. Abseits der ohnehin fragwürdigen Erfolgsaussichten nach EU-Recht entspricht das schlicht nicht der Realität. Unser Land ist so sicher wie seit Jahren nicht. „Grundsätzlich hat die Gesamtkriminalität – und auch in vielen spezifischen Bereichen – in den letzten 20, 30 Jahren abgenommen“, sagt Frank Asbrock, Professor an der TU Chemnitz und Direktor des Zentrums für Kriminologische Forschung Sachsen.
Rechte Denke ist salonfähig geworden und ganz offenbar in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Ein CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz spricht im Bundestag von wöchentlichen Massenvergewaltigungen – wohl wissend, dass das frei erfunden ist –, um anschließend mit den Stimmen der AfD zu entscheiden. Das ist beschämend. Offenbar ist die Mitte der Gesellschaft weit nach rechts gerückt – wenn sich Merz da als Mann der Mitte definiert. Eine Brandmauer sollte rechtsradikale Kräfte vom politischen Geschehen ausschließen. Doch das Gegenteil ist passiert. Inzwischen wird über Abschiebung und die Abschaffung des Asylrechts gesprochen, als seien die Erfahrungen von Terror, Tod und Elend aus zwei Weltkriegen vergessen – ebenso wie die Verfolgung und Ermordung von Millionen Menschen durch das Dritte Reich, weil sie jüdischen Glaubens waren, den falschen Pass hatten, politisch anders dachten oder frei leben wollten. Der Holocaust-Überlebende Albrecht Weinberg aus Leer hat sein Bundesverdienstkreuz zurückgegeben – aus Protest gegen die Abstimmungen zur Migrationspolitik im Bundestag Ende Januar. Und nein, das ist nicht die Schuld der Grünen oder der SPD. Die Tatsache, dass Robert Habeck, Kanzlerkandidat der Grünen, und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nicht erst nach dem Münchner Attentat erklären, wie kompromisslos sie straffällige Migranten und solche ohne Bleibeperspektive abschieben (wollen), macht das nicht eben besser. Ich schäme mich dafür, gerade im Ausland erklären zu müssen, warum die Faschisten wieder an Boden gewinnen.
Kommen wir zur Wirtschaft. Glaubt ernsthaft jemand, dass drei Jahre Ampel-Regierung verantwortlich sind für die desolate Infrastruktur Deutschlands? Dafür, dass Bahnfahrten mittlerweile einem Abenteuertrip mit ungewissem Ausgang gleichkommen? Dass jede zweite Brücke marode ist, Schulen chronisch unterfinanziert sind und Deutschland bei der Ausbildung – egal ob Studium oder dual – im Abseits dümpelt? Warum haben die Topmanager der hochgelobten Autoindustrie unbekümmert auf den Verbrenner gesetzt und sogar Betrugssoftware eingesetzt, um weiter den großen Reibach mit einer längst abgeschriebenen Technologie zu machen? Bei der Digitalisierung sind wir nur Mittelmaß. All das soll in drei Jahren passiert sein? Ernsthaft? Und dann wäre da noch die Debatte um Verteilungs- und Leistungsgerechtigkeit. Mit Leistung meine ich nicht die Gerechtigkeit, nach der sich Leistung wieder lohnen müsse, und auch nicht die Fähigkeit, den eigenen Steuersatz möglichst zu minimieren, sondern die Verpflichtung und den Willen, angemessen Steuern zu zahlen und so seinen Anteil am Gemeinwesen zu leisten, von dem man selbst profitiert. AfD, FDP und CDU wollen eine Steuerreform, die vor allem Reichen zusätzliche Vorteile bringt, mittlere Einkommen kaum entlastet und geringe Einkommen nur noch homöopathisch. Das ist nicht meine Behauptung, sondern das Ergebnis von Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung. Dazu kommt, dass wir uns Steuergeschenke gar nicht leisten können – im Gegenteil: Um die Konjunktur wieder anzuschieben und die Zukunftsfähigkeit unseres Landes zu sichern, müssen wir massiv investieren – jetzt und ja, schuldenfinanziert. Viele Ökonomen, darunter der Ex-Wirtschaftsweise Peter Bofinger, fordern genau das. Deutschland ist kein Haushalt von Lieschen Müller, die zehn Jahre spart, um das marode Dach ihres Hauses reparieren zu lassen, nur um dann festzustellen, dass es längst abrissreif ist, weil der Regen, der durchs Dach gekommen ist, die Substanz zerstört hat.
Der dritte Punkt, der mich fassungslos macht, ist die Dreistigkeit, mit der Politik aktuell berechtigte Meinungsäußerungen mundtot machen will. Markus Söder, Bayerns Ministerpräsident, empfiehlt den Kirchen, sich doch wieder aufs Beten zu konzentrieren, statt am politischen Diskurs teilzunehmen – andernfalls könnte der Geldhahn zugedreht werden. Oder der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Union, Mathias Middelberg, kündigt an, die Gemeinnützigkeit von Vereinen zu prüfen, die gegen die fragwürdige Interpretation der Brandmauer durch die CDU protestieren. Was ist eigentlich mit dem Bund der Steuerzahler, auch ein gemeinnütziger Verein, dessen bayerischer Landesverband ganz offen Kontakte zur AfD hält und bei deren Veranstaltungen auch mal Bayerns Vize Hubert Aiwanger (Freie Wähler) auftritt? Auch Friedrich Merz’ jüngste Äußerung zum internationalen Haftbefehl gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu hat mich erstaunt. Man könne ja wohl kaum die Einreise eines Repräsentanten der einzigen Demokratie im Nahen Osten verweigern, meint er – da müsse man „juristische Lösungen“ finden. Klar, wir beugen das Recht, bis es bricht? Netanjahu wird vom Internationalen Strafgerichtshof wegen Kriegsverbrechen gesucht – nicht von einem totalitären Staat. Und um das klarzustellen: Die Kriegsverbrecher der Hisbollah und anderer radikaler Gruppen gehören ebenso vor den Internationalen Strafgerichtshof. Vor Gericht ist jeder gleich ‒ oder etwa nicht?
Ich könnte jetzt noch über die drohende Klimakatastrophe schreiben, über globale Krisen und die Verantwortung der Industrieländer für eine Welt, die sie sich lange untertan gemacht haben, über Verflechtungen von Politik und der Wirtschaft, bei der so manche eine schlechte Figur machten, wie beim Cum-Ex-Skandal Bundeskanzler Olaf Scholz. Die Liste ließe sich problemlos verlängern. Doch mein vorrangigster Wunsch lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Alle Parteien – nicht nur die Unionsparteien und die FDP, sondern auch SPD und Grüne – sollten sich besinnen und den Rechtsruck, den sie vollzogen haben, schnell und konsequent korrigieren. Wir Wähler haben es in der Hand. Sonst werden die AfD und ihre mächtigen Allianzen ihre Korrekturen vornehmen. Und das dürfen wir nicht zulassen. Die Gefahr österreichischer Mehrheitsverhältnisse ist real.
Ihr Markus Oess