Autorin: Katja Vaders
Die gesamte Modebranche spricht von „Diversity“. Mode, die den speziellen Anforderungen für Menschen mit Behinderung entspricht, sucht man bei den meisten Brands allerdings vergeblich. Glücklicherweise gibt es dennoch einige Labels und Unternehmen, die „adaptive Mode“ produzieren. FT liefert einen Überblick.
„Diversity“ ist derzeit DAS Trendthema. Schaut man allerdings etwas genauer hin, wer in der Wahrnehmung der meisten Medien und Unternehmen unter diesen Begriff fällt, sind es fast ausschließlich People of Color, Transgender oder queere Personen sowie Menschen, die auf den ersten Blick nicht dem gängigen Körperschema entsprechen. Eine weitere Gruppe, die ebenfalls nicht der Norm entspricht, aber einen großen Anteil an der Bevölkerung hat, wird bei der Diskussion um mehr Diversität oft vergessen: Menschen mit Behinderung.
Dabei lebten laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2019 rund 7,9 Millionen schwerbehinderte Menschen allein in Deutschland – das entspricht einem Anteil von 9,5 Prozent. Darunter waren knapp 4,9 Millionen Personen im Alter zwischen 15 und 64 Jahren; mehr als eine Milliarde sind es weltweit. Auch wenn diese Menschen zum Teil spezielle Bedürfnisse haben, kämpfen sie für eine gleichberechtigte Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Die Chance auf Teilhabe scheitert jedoch für die meisten bereits im Kindesalter. Von einem inklusiven Schulsystem entsprechend der UN-Behindertenrechtskonvention ist Deutschland nämlich derzeit noch weit entfernt: Nur 15 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden in den weiterführenden Schulen bundesweit inklusiv unterrichtet.
Kein Wunder, dass sich diese Entwicklung in den meisten gesellschaftlichen Bereichen fortsetzt, leider auch in der Modebranche. Viele der Menschen mit Behinderung benötigen nämlich mal mehr, mal weniger spezielle Kleidung. Dieser offensichtlich sehr große Markt wird derzeit jedoch vor allem von kleineren Herstellern versorgt. Und diese haben ihren Fokus eher auf die Herstellung praktischer Bekleidung gelegt, die leider oft nicht den neuesten Trends entspricht. Aber gehört es nicht auch zur gesellschaftlichen Teilhabe, dass sich Personen mit körperlichen Beeinträchtigungen modisch kleiden können?
Bei den großen Vertikalen von H&M über RESERVED bis zu ZARA sucht man jedoch vergeblich nach Mode für Menschen mit Behinderung. Eine erfreuliche Ausnahme stellt hier das amerikanische Label TOMMY HILFIGER dar: Als eine der wenigen hat die Brand bereits seit 2016 eine Linie für Menschen mit körperlichen Einschränkungen im Programm; seit 2020 ist „TOMMY ADAPTIVE“ auch in Europa erhältlich. Die Teile dieser Kollektionen haben Magnetverschlüsse statt Knöpfe, an der Seitennaht zu öffnende Hosen oder Reißverschlüsse in Überlänge, verstellbare Säume und extra breite Beinöffnungen integriert. Für Rollstuhlnutzende gibt es kürzere Vorder- und längere Rückseiten, verstellbare Träger, elastische Taillen oder Zuggurte und Schlaufen, die das An- und Ausziehen erleichtern. Wichtig ist neben den technischen Features, dass die „ADAPTIVE“-Kollektionen komplett im klassischen Tommy-Hilfiger-Design gehalten sind und nichts an den oft leicht verstaubten Look gängiger Reha-Mode erinnert.
Ähnlich fashionable sind die Teile des Wiener Unternehmens „Mode ohne Barrieren“, kurz MOB. Ihre Kollektionen entwickeln die Designerinnen und Designer von MOB gemeinsam mit Rollstuhlfahrerinnen und -fahrern sowie jungen Modelabels. Wichtig ist den Österreichern vor allem, praktische Funktionalität mit einem modischen Anspruch zu vereinen. Darüber hinaus legt man großen Wert auf die Verwendung ausschließlich hochwertiger Materialien und innovativer Verschluss-Systeme, alles übrigens made in Austria.
Eher sportlich orientiert ist die niederländische Brand KINETIC BALANCE, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die „weltweit wichtigste Marke für Rollstuhlfahrerkleidung zu werden“. Um eine möglichst hohe Reichweite zu bekommen, haben die Holländer unter anderem die prominente und international erfolgreiche Rollstuhl-Skaterin Lisa Schmidt als Markenbotschafterin mit ins Boot geholt.
Made in Duisburg hingegen sind die Kollektionen des Labels esthétique, dessen Produktionsstätte in die Duisburger Werkstatt für Menschen mit Behinderung integriert ist. Das Besondere an der Mode von esthétique: Hier wird Bekleidung nicht nur für, sondern vor allem von Menschen mit Behinderung hergestellt. Stefanie Cosenza ist hier stellvertretende Leiterin Innovationsmanagement und Kommunikation. Was steckt hinter ihrer Arbeit? „Die Duisburger Werkstatt für Menschen mit Behinderung gGmbH steht für berufliche Rehabilitation und Integration. Menschen mit einer geistigen Behinderung oder einer psychischen Erkrankung finden hier berufliche Bildung und Teilhabe am Arbeitsleben“, erklärt sie. Derzeit arbeiten mehr als 1.300 Beschäftigte in sieben Duisburger Betriebsstellen, die Konzepte wie ein Café-Restaurant, einen eigenen Concept Store oder eine Fahrradwerkstatt umsetzen.
Ziel der Arbeit der Duisburger Werkstatt für Menschen mit Behinderung sei es unter anderem, die gesellschaftliche Inklusion zu fördern. „In der Betriebsstelle für Menschen mit psychischer Behinderung wird das eigene Modelabel esthétique in der Schneiderei gefertigt“, so Stefanie Cosenza weiter. Die Idee, das Label zu gründen, habe sich ergeben, da man innerhalb der Werkstatt eine eigene Schneiderei betreibe. „2015 haben wir uns gedacht, dass in einer Schneiderei natürlich auch Mode gefertigt werden sollte. Wir haben uns bewusst für ein nachhaltiges Modelabel entschieden, weil das gut zu uns passt und wir hier unsere Nische finden konnten. Wir schauen immer, dass wir unseren Mitarbeitenden viele verschiedene Angebote machen können, damit für jeden etwas dabei ist. Mit unserem Modelabel esthétique können wir anspruchsvolle Tätigkeiten in unserer Schneiderei bieten. Neben den Mitarbeitenden, die in der Schneiderei beschäftigt sind, gibt es allerdings auch noch unsere Designerinnen und Designer, die Zeichnungen einbringen, und natürlich unsere eigenen Models, die die Kollektionsteile präsentieren. Alle sind unglaublich stolz auf das, was sie tun.“
Dabei sieht die Arbeit hier sehr ähnlich aus wie bei den meisten anderen Labels: Aktuell ist Startschuss für die neue Kollektion, gemeinsam mit der Schneiderei werden die entsprechenden Teile geplant. Ende Juli, August laufen die Orders für die nächste Frühjahr/Sommer-Saison, dann die Fotoshoots für das neue Lookbook. „Bereits vor Weihnachten wird die neue Kollektion in unserem AV CONCEPT STORE, dem Flagship-Store im Duisburger Zentrum, präsentiert“, freut sich Stefanie Cosenza. Insgesamt wird esthétique in über 20 Stores verkauft. „Außerdem haben wir einen eigenen Online-Shop und werden uns in Kürze auch im avocadostore präsentieren“, erzählt sie stolz. Hört sich nach einer Erfolgsgeschichte an. esthétique zeigt, dass Inklusion in der Branche möglich ist. Man muss sie nur angehen.