Diejenigen unter uns, die ihre Kindheit in den 1970ern oder frühen 1980ern erlebt haben, erinnern sich garantiert noch an den Kleidungsstil ihrer Großväter. Alter machte unsichtbar, was sich natürlich auch im Erscheinungsbild widerspiegelte: Für die Familienfeier holte der Opa seinen schlecht sitzenden Anzug aus dem Schrank, für Freizeitaktivitäten wie die alljährliche Butterfahrt oder eine Kegeltour nach Willingen im Sauerland stand eine bescheidene Auswahl pflegeleichter Ensembles in Beige oder Grau zur Verfügung.
Schaut man sich heutzutage die 50- oder 60-jährigen Herren an, hat man bisweilen große Mühe, ihr Alter zu schätzen oder sie sogar in die Kategorie „Großvater“ zu stecken. Wir leben im Zeitalter der spätrömischen Dekadenz, die dementsprechend eine Generation älterer Männer hervorbringt, die auch modemäßig einem fast schon hedonistischen Individualismus frönen.
Das aktuelle 60 ist das, was man in den 1970ern und 1980ern wahrscheinlich als 30 bezeichnet hätte. Abgesehen davon, dass Männer mit grauen Schläfen von jeher als interessant und sexy galten, lässt diese Lebensphase heutzutage die wenigsten wirklich alt aussehen. Der modebewusste 60-Jährige 2020 trägt vielmehr Tattoos, einen Hipster-Bart, Schlägermütze und Skinny Jeans. Denn sind wir mal ehrlich: Wann hört Jugend auf und fängt Alter an? Die Grenzen sind fließend und wer hat das Recht, dem modernen Mann zu diktieren, dass er plötzlich keine Denims oder Sneaker mehr tragen darf, nur weil er eine gewisse Altersgrenze überschritten hat? Der Lifestyle des gemeinen Mitteleuropäers hat sich in den letzten Jahrzehnten gravierend verändert. Im Jahr 2020 ist es keine Seltenheit mehr, dass Männer über 50 sich in „coolen Medienberufen“ verdingen, ihr Leben in vollen Zügen genießen oder sogar noch Nachwuchs bekommen.
Deutschland gehört im internationalen Vergleich zu den ältesten Gesellschaften. Im Jahr 2020 leben rund 21 Millionen Rentner in unserem Land, mehr als 34 Millionen Deutsche sind über 50. Die zunehmende Zahl älterer Menschen ist ein wichtiger Faktor im demografischen Wandel – Tendenz steigend: Da die jüngeren Geburtsjahrgänge immer weniger Deutsche hervorbringen, stellen die über 65-Jährigen im Zeitverlauf einen immer größeren Teil der Gesamtbevölkerung. Laut Statistischem Bundesamt stieg ihr Anteil von 15 Prozent im Jahr 1991 auf 22 Prozent im Jahr 2019. Aufgrund der sich stetig verbessernden Lebensumstände bleiben die Deutschen im Alter zudem auch noch deutlich länger fit.
Ein Umstand, der selbstverständlich auch für die Wirtschaft interessant ist. Während noch vor gar nicht allzu langer Zeit vor allem die werberelevante Gruppe der 14- bis 49-Jährigen im Fokus der Marketingabteilungen stand, rückt die Altersgruppe ab 50 vermehrt ins Zentrum der wirtschaftlichen Aufmerksamkeit. Einen Namen für diese kaufkräftige Generation hat man längst gefunden: Sie heißen Best Ager oder Silver Surfer, reisen nicht nur gern, sondern investieren ihr Geld zunehmend in ihr gutes Aussehen. Jugend ist heutzutage unbestritten auch ein wirtschaftlicher Faktor, ist sie doch ein Symbol für Dynamik und damit Leistungsfähigkeit.
Auch in der Mode machen die Silver Surfer ihr eigenes Ding: Die Junggebliebenen kopieren längst nicht mehr die Trends der Jungen, sondern setzen sie selbst. Zu sehen ist das nicht nur auf den Straßen internationaler Metropolen oder Fashion Weeks, sondern auch auf Instagram, wo auf Accounts wie „#fashiongrandpas“ den Looks der stilbewussten Best Ager eine Plattform geboten wird. Das gilt aber nicht nur für dandyeske Fashion-Ikonen, sondern auch für diejenigen, für die irgendwann der Begriff „Berufsjugendlicher“ geprägt wurde: Männer mit einem gewissen jugendlichen Charme, die sich einfach nicht von ihren Sneakern, Beanies oder Caps, Surf- oder Bandshirts, Hoodies und Denims trennen können. Warum auch? Wer auf sich achtet, sich pflegt und in mehr oder weniger klassischer Streatwear auftritt, kann dies gerne bis in hohe Alter tun. Warum sollte man sein liebstes Denim-Modell nicht auch noch auf dem Tanztee im Seniorenstift tragen? Keith Richards ist schließlich nicht der einzige Mann, der 60 Jahre lang den gleichen Look tragen darf!