Ein Zettel, der das Leben zweier Familien veränderte, und was die Textilindustrie damit zu tun hat. Im Jahr 2005 findet die Arzthelferin Claudia Klütsch in einem neuen Herrenhemd einen Zettel. Darauf steht der Hilferuf eines armen Textilarbeiters aus Bangladesch. Er bleibt nicht ungehört und das Leben zweier Familien ändert sich komplett. Doch wandeln sich die Branche, die billig produzieren – und der Verbraucher, der billig kaufen will?
Hand aufs Herz: Was würden Sie tun, wenn Sie in Ihrer neuen Bekleidung eine Nachricht finden, auf der jemand um Hilfe bittet, weil er arm ist und Geld braucht? Wegwerfen oder der Sache nachgehen? Eine schwierige Frage, vor der vor mehr als zehn Jahren auch eine Frau aus Wesseling bei Köln stand. Claudia Klütsch fiel aus dem Kragen des neuen Herrenhemds ihres Mannes ein Stück Pappe entgegen, auf dem in gebrochenem Englisch folgende Botschaft stand: „Ich bin ein armer Mann. Ich brauche Geld. Bitte helft mir, Gott schütze euch.“ Dazu noch eine Adresse in Bangladesch.
Was also in einem solchen Fall tun? Ignorieren oder helfen? Claudia Klütsch beschloss nach einigem Zögern nachzuforschen, fand zwar weder Name noch Anschrift im Internet, hatte aber das Gefühl, dass sie etwas unternehmen musste. Kurz entschlossen steckte sie Dollars für rund 30 Euro in einen Briefumschlag und schickte sie an die Adresse. Acht Wochen später kam ein Brief zurück, von Gazi, dem Verfasser des Zettels, der in der Textilfabrik in der Verpackungsabteilung arbeitete. Er schickte seinen Dank und Familienfotos und berichtete, dass er von seinem Lohn von rund 55 Euro im Monat kaum überleben, geschweige denn seine Familie ernähren könne und aus Verzweiflung die Nachricht in das Hemd gesteckt habe.
So begann eine Brieffreundschaft, aus der, nachdem Familie Klütsch zusammen mit einem Fernsehteam vor Ort in Bangladesch war, im Laufe der Jahre eine enge Freundschaft wurde. Das Ehepaar lernte Gazi und seine schwangere Frau Raija in ihrem Dorf kennen – und lieben. Sie waren schockiert, wie arm und elend die Menschen lebten. Also „adoptierten“ sie ihre Brieffreunde und überwiesen monatlich 30 Euro – bis heute.
13 Jahre später, 2018, fuhren die Klütschs nochmals nach Bangladesch und sahen, was aus ihrer Unterstützung entstanden ist. Gazi hatte vom Geld Steine zurückgelegt, baute daraus ein Haus, arbeitete als Fischer und schickte seine Kinder in die Schule statt zur Arbeit. Er hatte einen Brunnen gebaut, aus dem das ganze Dorf mit frischem Wasser versorgt wird.
Über diese wunderbare Geschichte, die fast wie ein Märchen klingt, ihre Reisen nach Bangladesch, die Lebensbedingungen dort und auch die Besichtigung einer Textilfabrik hat Claudia Klütsch zusammen mit dem Journalisten Dirk Höner, der sie beide Male auf ihren Reisen begleitete, ein Buch geschrieben: „Von einem kleinen Zettel, der in einem Herrenhemd um die halbe Welt reiste und unser Leben für immer veränderte“. Als es im Oktober 2018 herauskam, war das Medienecho gewaltig: Zeitungen, Zeitschriften und das Fernsehen berichteten. Also müsste sich doch etwas bewegt haben, oder?
„Es lief schallende Bollywood-Musik“
Bildung sei der einzige Weg aus Armut und Ausbeutung, sagt Claudia Klütsch Fashion. Billigketten seien genauso schuldig wie die namhaften Anbieter. Die engagierte Frau zieht gegenüber FT Bilanz.
Fashion Today: Frau Klütsch, wie lautet Ihr Fazit ein halbes Jahr nach Erscheinen des Buches? Wie war die Resonanz?
Claudia Klütsch: „Die Resonanz von offizieller Seite her war absolut enttäuschend. Von der Modebranche gab es keine einzige Reaktion. Das hätte ich nicht erwartet, zumal auch Namen genannt wurden. Allerdings kamen Rückmeldungen von Privatleuten, die fragten, wie sie helfen und was sie tun können.“
Was haben Sie geraten?
„Bildung ist der einzige Weg, um die Situation der Menschen nachhaltig zu verbessern. Deshalb war es mir auch so wichtig, dass Gazi seine Kinder zur Schule schickt. Daher verweise ich bei Anfragen auch immer auf das Hilfsprojekt ,Kinder in Bangladesch‘, den Verein eines Bremer Arztes, der vor Ort aus Spendengeldern eine Schule baute und betreibt und gezielt einzelne Projekte unterstützt.“
Sie haben bei Ihrem Besuch 2018 auch eine Textilfabrik besucht. Wie war Ihr Eindruck?
„Zunächst dachte ich: ‚Ach, das ist doch gar nicht so schlimm.‘ Alle arbeiteten und es lief schallende Bollywood-Musik. Als wir dann baten, diese auszumachen, weil wir uns nicht unterhalten konnten, wurde erst der ganze Schrecken deutlich: 800 Menschen in einem Raum vor ratternden Maschinen! Es war so laut. Deshalb auch die Musik. Und beim genauen Hinsehen wurden die Mängel deutlich, zum Beispiel, dass es zwar Brandschutztüren gab, diese aber nicht schlossen. Natürlich wird inzwischen etwas für bessere Arbeitsbedingungen getan, aber das ist bei Weitem nicht genug.“
Zumindest schreiben Leser nach der Lektüre Ihres Buches, dass sie nun über ihr Kaufverhalten nachdenken. Was empfinden Sie, wenn Sie die ganzen Mode-Billigketten sehen?
„Das ist nicht nur das Problem von Billigketten, auch teure Markenlabels lassen in Bangladesch fertigen. Der Unterscheid ist einfach nur die Gewinnmarge des Unternehmens. Ich habe es selbst gesehen: der gleiche Stoff, die gleichen Näherinnen, unterschiedliche Marken. Einfach nur ein anderes Label. Billigketten sind genauso schuldig wie die namhaften Anbieter.“
Also ist der Endverbraucher gefragt?
„Bei dem ganzen Thema ist eindeutig die Politik gefordert, von deren Seite aus muss viel mehr getan werden. Für den Endverbraucher sind die Arbeitsbedingungen meist schwierig zu beurteilen. Man kann das oft gar nicht mehr durchschauen, wo etwas gefertigt wird, zumal ja auch Etikettenschwindel betrieben wird. Die Sachen werden irgendwo hergestellt und dann kommt zum Beispiel ein Zubehörteil in Polen dazu und auf dem Etikett steht am Ende ,Made in Poland‘. Außerdem darf man die Käufer von Billigshirts nicht pauschal verurteilen. Viele verdienen auch in Deutschland trotz Vollbeschäftigung so wenig, dass es nicht reicht und sie gar nicht woanders einkaufen können.“
Das wissen Sie aus eigener Erfahrung …
„Ja, wir sind eine Familie mit vier Kindern und lebten teilweise von einem Gehalt. Da waren auch die 30 Euro im Monat nicht wenig – aber die Spende hat unser Leben verändert, bereichert und uns glücklich gemacht. Wissen Sie, trotz der Armut und des Elends sind die Menschen in Bangladesch so offen und freundlich, sie zeigen Solidarität und helfen einander. Als Gazi unsere ersten 30 Euro erhalten hat, hat er all seine Nachbarn eingeladen. Jetzt stellen Sie sich mal vor, jemand in Deutschland würde einen Monatslohn geschenkt bekommen, was würde er tun? Andere einladen?“
Claudia Klütsch mit Dirk Höner: „Von einem kleinen Zettel, der in einem Herrenhemd um die halbe Welt reiste und unser Leben für immer veränderte“
Blanvalet; ISBN: 978-3764506803, 16,00 Euro