Die direkte Ansprache des Einzelnen wird zum Schlüsselfaktor im Handel, sagt Dr. Carsten Keller, Vice President Direct to Consumer bei zalando, im Interview mit Fashion Today. Die Berliner beschäftigen nach eigenen Angaben mehr als 2.000 Tech-Experten, die dazu die technologische Entwicklung vorantreiben sollen. zalando durchlebt eine Morphose von einem puren Online-Player zu einer Plattform, die den stationären Handel für ihre Zwecke einbindet. Profitieren sollen beide. Wie Keller die Zukunft von zalando sieht und wohin die stationären Gehversuche die Berliner mit dem Kauf der Kette KICKZ. und dem ersten stationären Beauty-Laden in Berlin-Mitte führen. Klar ist: Strategisch bleibt zalando ein „Digital Native“.
FT: Herr Dr. Keller, gibt es ein Produkt, das Sie niemals online kaufen würden?
Dr. Carsten Keller: „Interessante Frage (grinst). Ich glaube, das Produkt wird es nicht mehr geben. Über die letzten zwei Jahrzehnte haben wir so viel Innovation gesehen, die immer neue Kategorien online verfügbar gemacht hat. Heute liefert der Kurier spät am Abend meinen neuen Roman, meine neuen Sneakers, meine Bestellung vom Supermarkt, liefert mein neues Playstation-Spiel und übergibt meine Pho-Bo-Suppe an der Wohnungstür.
Freilich gibt es Produkte, die wir traditionell noch offline kaufen. Eine Frau, die ihr Hochzeitskleid online kauft – warum eigentlich nicht? Und dafür gibt es einen einfachen Grund: Wir sehen gerade in China, wie die Online-Welt und die Offline-Welt zu einem neuen Ganzen verschmelzen. Hier kann das Hochzeitskleid vorab daheim entworfen, im Store weiter angepasst und dann – nach Rücksprache mit den Freundinnen – nach Hause geliefert werden.
Eine Trennung von Online und Offline gibt es beispielsweise in China bald nicht mehr. Hier vernetzen Plattformen wie Alibaba und JD.com alle Anbieter – unabhängig von dem jeweiligen Geschäftsmodell. Diese neue Welt bietet wahnsinnige Chancen für den Kunden und damit auch für die Anbieter – online wie offline. Und deshalb glaube ich nicht an das Produkt, das ich nicht online kaufen würde.“
Der stationäre Handel rüstet technologisch auf, um mit der Dynamik des digitalen Handels mithalten zu können. Stichwort elektronische Regalverlängerung, Kundenmanagement. Welchen Vorsprung hat die Online-Branche hier gegenüber dem stationären Handel?
„Ich sehe die technologische Dynamik im Offline-Markt als eine Vorstufe zur stärkeren Integration des Online-Handels in den stationären Handel. Wir sehen, dass Händler unter anderem RFID benutzen, um ihre Bestände jederzeit akkurat zu kennen. Wir sehen auch, dass in bestimmten Kategorien Technologien genutzt werden, um den Weg des Kunden durch den Laden genau abbilden zu können. Und wir sehen, wie Händler immer stärker in eine Vernetzung der Daten investieren, um ihre Kunden besser zu verstehen.
Der stationäre Handel schließt damit glücklicherweise zum Online-Handel auf. Doch geht es dabei nicht darum, einen Vorsprung abzubauen. Beide Modelle haben jeweils starke strukturelle Vorteile. Wir glauben, dass im Rahmen der entstehenden Plattformen die Vorteile beider Modelle verschmelzen. Und über die stärkere Digitalisierung des Offline-Handels wird das gerade erst möglich.“
Wo sehen Sie im Augenblick die größten Synergien des bestehenden Händlernetzes für zalando?
„Bei zalando versuchen wir, diese Konvergenz gerade durch unser Connected-Retail-Modell zu befördern. In diesem Modell verbinden wir physische Stores von Marken und Händler technisch mit unserer Plattform. Bestellt einer unserer Kunden online bei zalando einen Artikel und wir sehen, dass ein Händler den Artikel noch verfügbar hat oder schneller liefern kann, schicken wir die Bestellung an den betreffenden Laden. Er übergibt das Paket dann an den Kurier. So können wir überschüssige Nachfrage mit dem stationären Handel teilen und den Kunden glücklich machen. In Zukunft werden wir das Modell auch für Lieferungen am selben oder nächsten Tag nutzen, da die Offline Stores unserer Partner häufig näher am Kunden sind, als ein Zentrallager das sein könnte. Signifikante Synergien ergeben sich in diesem Modell an mehreren Ecken.
Erstens: Je mehr Stores sich mit der Plattform verbinden, desto größer ist die Warenverfügbarkeit für den Kunden. Um hier ein Gefühl zu geben: 2017 haben uns unsere Kunden mehr als 30 Millionen Mal gebeten, sie zu benachrichtigen, wenn ein bestimmter Artikel wieder verfügbar ist. Diese Übernachfrage würden wir im Sinne des Kunden sehr gern gemeinsam mit dem stationären Handel teilen.
Zweitens: Je mehr Offline Stores sich mit der Plattform verbinden, desto schneller erhält der Kunde seine Ware.
Und drittens: Je stärker stationärer Handel und Plattform vernetzt sind, umso besser kann der jeweilige Händler sein Sortiment an lokale Nachfrage anpassen.“
Neben Schuhen verkaufen Sie seit 2010 Textilien und seit Anfang 2018 Beauty. Wie kommt das Angebot an?
„Beauty-Produkte vervollständigen den individuellen Look der zalando-Kunden durch eine umfassende Stilberatung und ein breites Spektrum an Marken. Unsere Kunden nehmen das zalando-Beauty-Angebot sehr gut auf und schätzen, dass sie passend zu ihrem Kleid nun auch den passenden Lippenstift auswählen können. Ab Oktober starten wir mit Pflege für Männer in Deutschland und expandieren noch vor Weihnachten mit dem kompletten Beauty-Angebot nach Österreich und Polen.“
Wo hat das ‚System gaxsys‘ seine natürlichen Grenzen?
„Wir arbeiten im Bereich des Connected Retail unter anderem mit dem externen System namens gaxsys zusammen. Hierüber können sich vor allem kleinere Händler, die über wenig IT-Infrastruktur verfügen, ohne viel Aufwand mit zalando verbinden. Größeren Unternehmen und Flagship Stores bieten wir hingegen eine Tiefenintegration über unsere eigene Software-Schnittstelle an. Diese Lösung erlaubt uns, die Bestellungen lokal optimiert auszusteuern. So können wir kürzeste Lieferzeiten und geringste Umweltbelastungen durch den Transport garantieren. Gestartet sind wir hier im Sommer 2016, mittlerweile sind 30 Partner wie etwa ESPRIT, MORE & MORE, TOMMY HILFIGER, seidensticker, BESTSELLER angebunden. Über gaxsys arbeiten wir parallel bereits mit über 180 lokalen Händlern zusammen.“
Immer, überall und alles – On- und Offline wachsen zusammen. Lautet die Maxime für zalando auch in Zukunft noch, vorhandene stationäre Strukturen zu nutzen, statt eigene aufzubauen?
„zalando hat vor etwa vier Jahren begonnen, sich von einem Online-Retailer zu einer Plattform zu entwickeln. Die Plattform als offenes Ökosystem richtet sich vor allem darauf aus, alle relevanten Gruppen in der Modeindustrie zu verbinden – im Sinne einer besseren Kundenerfahrung. Denken Sie an Marken und Händler, Influencer und Kreative, Hersteller und Eigenmarken. Um das zu tun, haben wir unser System geöffnet. Heute können sich all diese Gruppen auch technisch einfach mit unseren Systemen verbinden. Im Rahmen von Connected Retail tun das Ende des Jahres bereits mehr als 600 physische Stores.
Ein zentraler Grundsatz der Plattform-Ökonomie ist das Miteinander der verschiedenen Akteure. Hier heißt es Online UND Offline. Hier heißt es: alle für den Kunden –for the good of all. Und so leben wir das mit unseren vielen Marken- und Handelspartnern. Wir glauben, der wahre Mehrwert besteht darin, dass jeder Teilnehmer an der Plattform seine besten Fähigkeiten einbringt. Und wir glauben, dass zalando mit seinen digitalen Fähigkeiten und der Plattform-Architektur auch in der Zukunft den größten Beitrag leisten kann. Das schließt natürlich einzelne Investments im Offline-Bereich nicht aus, bedeutet aber vor allem, dass wir weiter im Kern digital bleiben werden, um mit unseren Partnern auch aus dem stationären Handel neue Opportunitäten zu identifizieren.“
Wie passt da der Kauf der Kette KICKZ. ins Bild?
„Mit dem Erwerb von KICKZ. stärken wir das eigene Sortiment im Bereich Sport und unterstützen das zukünftige Wachstum von KICKZ. im Ausbau von deren Sortiment und Reichweite. Der Kauf von KICKZ. fügt sich also nahtlos in unsere Plattform-Strategie ein.“
Hat sich seit dem Kauf in der strategischen Betrachtung des stationären Geschäftes etwas getan? Inzwischen ist die zalando beauty station in Berlin-Mitte eröffnet.
„Die Integration von KICKZ. hat gezeigt, wie zalando den stationären Handel als Kanal in die Plattform verweben kann. Mit dem Beauty Store investieren wir in ein innovatives Format, das eine stärker personalisierte Retail-Erfahrung ermöglicht.
Beide Investments unterstreichen unseren Anspruch, Innovation zu treiben – sei es nun online oder offline. Wir glauben, dass der stationäre Handel eine zentrale Rolle beim Ausbau der Plattform spielen wird. Wir sind überzeugt, dass durch die engere Zusammenarbeit mit den Händlern ein breites Spektrum neuer Spielarten entstehen wird. Wir glauben allerdings gleichermaßen, dass der maximale Kundennutzen daraus entsteht, dass alle Plattform-Teilnehmer ihre besten Fähigkeiten einbinden.
Deshalb setzen wir mit der Plattform auf enge Partnerschaften mit dem stationären Handel, in die wir unsere Fähigkeiten aus der digitalen Wertkette (zum Beispiel Marketing, Logistik, Customer Care) einbringen wollen. Stationär können andere besser.“
Was kann Stationär heute besser als Digital?
„Hier wäre aus meiner Sicht die Frage vielmehr: Wie ergänzt zukünftig Stationär Digital – und umgekehrt? Stationär ist dabei genauso König wie Digital.
Was den stationären Handel ausmacht? Stationär ist nah dran. Typischerweise sind physische Stores in den Innenstädten positioniert und näher am Kunden als ein Zentrallager. Das erlaubt schnellere Lieferzeiten von vielen Artikeln, sobald der Store verbunden ist.
Stationär lagert alles – irgendwo. In Europa öffnen jeden Tag mehr als eine halbe Million Verkaufsstellen ihre Pforten. Auf dieser Fläche lagert jeder Artikel in jeder Größe zu jedem Zeitpunkt mindestens einmal. Allein muss der Bestand aggregiert sein, um das Kundenproblem der Verfügbarkeit zu lösen. Hier können wir helfen.
Stationär ist spannend. Die größten Händler der Welt investieren aktuell in die Kunden-Experience. ZARA baut virtuelle Runways in seinen Stores. Kunden kommen in den Store, weil sie hier etwas erleben können.
Doch investieren diese Händler nicht in diese Fähigkeiten, um sich von Online-Kanälen abzusetzen. Sie investieren, weil sie in der Kombination aus Online- und Offline-Angebot die relevantesten Bedürfnisse der Kunden abdecken und eine nahtlose Kundenerfahrung ermöglichen wollen. Und hier zeigt sich, wie die Vorteile der Kanäle zusammenwachsen.“
Welche Szenarien wären denkbar, neben Kosmetik, Outlets oder Formaten wie der Bread & Butter auch mit Fashion und anderen Produkten unter zalando den Gang in die Innenstädte anzutreten?
„Mit der Bread & Butter haben wir aus meiner Sicht recht eindrucksvoll gezeigt, wie wir die Zukunft von Offline als Teil einer Plattform sehen. Hier haben einige der stärksten Marken der Welt gezeigt, wie eine Offline Erfahrung (z.B. Product Customization) Online Interaktion triggert. Alle Produkte, die man dort sehen konnte, waren shoppable und konnten auch direkt nach Haus geliefert werden. Hier haben wir gezeigt, wie Online Content (z.B. Influencer Feeds) Offline Traffic beeinflusst und das Offline-Erlebnis sowie Offline-Produkte durch einen ganzjährigen Bread & Butter Shopping-Hub in die Online-Welt verlängert. Dort werden exklusive Produkt-Drops ausgewählter Streetwear-Marken auf zalando angeboten.
zalando wird seinem Weg als Plattform treu bleiben, die Online und Offline integriert. Wir werden innovative Formate entwickeln und Wege finden, wie wir diese Veränderung im Sinne des Kunden treiben können. Wir glauben, dass die Veränderungen über die richtigen Partnerschaften am besten zum Leben erweckt werden können. Ob wir in diesem Rahmen selbst den Gang in die Innenstädte wagen werden, wird die Zukunft zeigen. Wir glauben allerdings, dass zalando auch in Zukunft ‘Digital Native’ bleibt.“
Werden sich in Zukunft auch neue Marktmodelle in diesem Zusammenhang entwickeln, etwa lose, zeitlich befristete Bündnisse (als Ersatz für beispielsweise Verbundgruppen), neue Handelsformen, die den Wettbewerb in seiner bisherigen Form infrage stellen?
„Im Vergleich zu anderen Industrien ist Mode ein hochkomplexes Produkt. Es gibt unendlich viele unterschiedliche Produkte in verschiedenen Größen, deren Verkaufserfolg einer Reihe nicht kontrollierbarer Faktoren (zum Beispiel Wetter) unterliegt. Und beinah alles ist jede Saison – oder jede Woche – neu.
Mit der Plattform versuchen wir, diese Ineffizienzen ein gutes Stück weit zu lösen. Durch Connected Retail, also die Anbindung des stationären Handels an die zalando-Plattform, werden wir dem Kunden Zugriff auf alle Produkte in allen Größen zu jedem Zeitpunkt geben. Mittels Click-&-Collect-Features werden wir den Kunden auch physisch zurück in den Store bringen, falls das für ihn vorteilhaft ist. Mittels Endless-Aisle-Funktionalitäten kann der Händler unter anderem auch auf zalando-Bestände zurückgreifen.
Ich bin überzeugt, dass diese Art von Plattform-Ökonomie eine Reihe der existierenden Friktionen im Markt auflösen kann. In diesem Rahmen werden verschiedene Marktteilnehmer ihre Geschäftsmodelle weiter optimieren und ihren Kundenbeitrag ausweiten. Die von Ihnen genannten haben dabei alle eine starke Rolle zu spielen. Wir glauben, dass aus dem wettbewerblichen Gegeneinander vielmehr ein kollaboratives Miteinander zum Wohle des Kunden wird.“
Mit dem Fortschritt laufen beim Verbraucher immer mehr Fäden zusammen, die Individualisierung der Produkte wird immer schneller und besser. Genauso nehmen aber auch die Möglichkeiten der Einflussnahme bis hin zur Manipulation zu. Wird die direkte Ansprache des Einzelnen zum Schlüsselfaktor (Stichwort Generation Next)?
„Ja, das glaube ich. Nicht nur für die Generation Next ergibt sich ein immer weiter steigendes Bedürfnis nach Individualisierung und Relevanz der Ansprache. Auch ältere Zielgruppen erwarten zunehmend personalisierte Suchergebnisse und ‚Next Product to Buy‘-Algorithmen. In Zukunft hat der Kunde so den idealen Verkaufsberater immer gleich an seiner Seite. Und das geht nicht nur theoretisch auch in Online Stores. So arbeiten verschiedene Tech Player an Conversational Commerce auch für die Offline Stores. Daher werde ich in Zukunft auch in einem Laden immer meinen Berater zur Seite haben, der mir Ware passend zu meinem Kleiderschrank empfiehlt.
Durch die starke Skalierung der Plattform, den damit verbundenen Zugriff auf Daten und die fortschreitende Innovation im Bereich von Machine Learning und künstlicher Intelligenz haben wir heute neue Fähigkeiten in der individuellen Ansprache von Kunden als noch vor fünf Jahren. zalando zum Beispiel beschäftigt aktuell mehr als 2.000 Tech-Experten, um unter anderem diese Lösungen täglich zu verbessern. Zudem werden Influencer in den sozialen Medien ein immer wichtigerer Kanal zur individualisierten Ansprache. zalando hat das früh erkannt und investiert stark in den Ausbau dieser Fähigkeiten. Wir glauben, auf diesem Wege einen spürbaren Unterschied für unsere Partner und letztlich für unsere Kunden machen zu können.“