
Autorin: Eva WesthoffWie sagt man im Jahr 2025 einen Trend vorher? FASHION TODAY hat sich mit Carl Tillessen, Geschäftsführer des Deutschen Mode-Instituts (DMI), kurzgeschlossen. Ein Gespräch über Big Data, ein paradoxes Mainstream-Phänomen und die Frage, was sich am Tresen über die Entstehung von Trends lernen lässt.
FASHION TODAY: Wie lange arbeiten Sie schon als Trendanalyst, und lässt sich Ihre Klientel eingrenzen?
Carl Tillessen: „Ich bin im Laufe der letzten 30 Jahre schrittweise in die Trendarbeit reingewachsen. Zunächst habe ich 20 Jahre lang Trendanalysen für die Kollektionen gemacht, die ich selbst entworfen habe. Vor zehn Jahren wurde ich zum ersten Mal um Trendanalysen für andere gebeten. Von da an ist es durch eine Art Schneeballeffekt immer mehr geworden. Inzwischen habe ich mit DMI die Verantwortung für eines der ältesten und führenden Trendbüros übernommen, mit dem wir verschiedene Konsumgüterindustrien mit Informationen und Inspirationen versorgen. Das reicht vom mittelständischen Modeunternehmen bis zum börsennotierten Automobilkonzern.“
Von Ihnen stammt folgende Aussage: „Wir von DMI glauben […] nicht an Vorhersagen, die ausschließlich auf der menschlichen Fähigkeit beruhen, zukünftige Designentwicklungen zu erspüren. Wir glauben auch nicht an Vorhersagen, die ausschließlich auf algorithmischen Big-Data-Analysen beruhen. Wir glauben an die Kombination aus beidem.“ Wie gehen Sie als Trendanalyst vor, worauf richten Sie Ihren Blick zuerst – auf den Laufsteg, die Straße, den Bildschirm? Wer oder was setzt Trends und wie kündigt sich ein Trend an?
„Durch die digitale Vernetzung verbreiten sich Trends beinahe in Echtzeit. Das heißt: Wenn sie auf der Straße oder auf dem Bildschirm sichtbar werden, ist es bereits zu spät. Man muss sie erkennen, bevor sie sichtbar werden. Man muss von dem, was sichtbar ist, auf das schließen, was noch nicht sichtbar ist. Aber auch dafür gibt es Techniken. Ich möchte das mit einem Bild verständlich machen: Wenn man in einer Bar sitzt und beobachtet, dass die Menschen anfangen, Salzgebäck zu essen, hätte man früher gesagt: Hier entsteht ein Salzgebäck-Trend. Heute muss man immer bereits einen Schritt weiter denken und sagen: Diese Menschen werden bald Durst bekommen.“
Stichwort Streetstyle: Wo sitzen die Trendsetter geografisch betrachtet, lässt sich das noch immer sagen?
„Ja. Theoretisch könnten sich Trends zwar von überall aus verbreiten, aber praktisch zeigt sich, dass bestimmte Metropolen wie Paris, Mailand, Los Angeles, London oder Seoul immer noch den besten Nährboden für neue Trends bieten.“
Auf welche Online-Tools und Datenquellen greifen Sie zurück, um Trends zu identifizieren? Welche Rolle spielt KI?
„Bei unseren Big-Data-Analysen sind bisher vor allem intelligente Algorithmen sehr hilfreich. KI gewinnt für uns auf einem anderen Gebiet sehr schnell an Bedeutung: Um Prognosen für die Zukunft zu illustrieren, mussten wir bisher auf Bildmaterial aus der Gegenwart zurückgreifen. Mithilfe von KI können wir Bildmaterial prompten, das seiner Zeit voraus ist.“
Wie marketinggesteuert sind Trends? Oder zugespitzt gefragt: Wenn Trends zunehmend das Ergebnis von Big-Data-Analysen sind, leistet das nicht zwangsläufig einer Uniformität Vorschub?
„Ja, man darf nicht vergessen, dass Big-Data-Analysen auch nichts grundsätzlich anderes sind als die Renner-Penner-Auswertungen, die Modeunternehmen schon immer gemacht haben. Diese Auswertungen sind zwar jetzt um ein Vielfaches effizienter geworden, sie sagen uns aber nach wie vor nur etwas über die Vergangenheit und Gegenwart. Um aus diesen Bestandsaufnahmen die richtigen Schlüsse für die Zukunft zu ziehen, braucht man nach wie vor Menschen.“
„Unsere Trendempfehlungen sind inzwischen wie ein Baum, der sich immer weiter verzweigt und verästelt. Aus einem großen Megatrend leiten sich mehrere große Trendströmungen ab.“
Sind Messen heute noch Trendplattformen?
„Die neuen Ideen kommen meist woandersher, aber auf Messen bekommt man ein Gefühl für das richtige Timing. Man sieht, wo wir stehen, und kann einschätzen, ob und wann bestimmte Ideen im Mainstream Akzeptanz finden werden.“
Welche weiteren Quellen nutzen Sie? Gibt es eine festgelegte Methodik, die Sie verfolgen, um zu einer Vorhersage zu gelangen?
„Es gibt ein sehr breites Spektrum an Veranstaltungen, auf denen unser Team systematisch unterwegs ist und recherchiert – von der Buchmesse bis zur Modenschau. Wer diesen Beruf wie wir mit Leidenschaft betreibt, hat danach aber nicht frei, sondern scannt alles nach Hinweisen auf neue Impulse, denn die können aus jedem Bereich kommen, aus der Politik, Wissenschaft, Ernährung, Mobilität und so weiter.“
Wie weit können Sie als Trendanalyst in die Zukunft schauen? Und wie vorhersehbar sind Trends überhaupt? Wie hoch ist Ihre persönliche „Trefferquote“?
„Der Prognosehorizont sind zwei Jahre. Das ist nicht nur bei uns so, sondern auch bei unseren Partneragenturen in Frankreich, Italien, UK, USA, China, Südkorea et cetera. Dadurch, dass sich dieses Netzwerk aus den 17 führenden Trendagenturen der Welt zweimal im Jahr an einen Tisch setzt und auf eine gemeinsame Prognose einigt, wird diese dann natürlich in gewissem Maß auch zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.“
Immer schnellere Modezyklen erfordern immer schnellere Trendprognosen. Richtig oder falsch?
„Definitiv richtig. Unsere Trendempfehlungen sind inzwischen wie ein Baum, der sich immer weiter verzweigt und verästelt. Aus einem großen Megatrend leiten sich mehrere große Trendströmungen ab, aus denen sich eine Reihe von Themen ableitet, aus denen sich noch mehr Unterthemen ableiten. Auf diese Weise haben Modeanbieter genug Material, um den Markt kontinuierlich abwechslungsreich und spannend zu bespielen.“
Welche „Megatrends“ ziehen Sie bei Ihren Prognosen ins Kalkül?
„Trotz der Beschleunigung von Trends bis hin zu Mikrotrends, die es gar nicht mehr bis auf die Straße schaffen, gibt es immer noch Megatrends, also ästhetische Grundhaltungen, die sich als roter Faden durch ein ganzes Jahrzehnt ziehen, bevor es dann wieder zu einem grundsätzlichen Vibe Shift kommt. Vibe ist deshalb ein ganz passender Begriff, weil diese Grundhaltungen sich oft über Musikrichtungen am einfachsten beschreiben lassen. So sind wir nun – nach zehn Jahren, die von einer Hip-Hop-Attitüde gekennzeichnet waren – in eine Dekade eingetreten, die eher von einer Grunge-Attitüde geprägt ist.“
Wie wirken sich die nicht zuletzt durch KI gewachsenen Möglichkeiten zur Personalisierung auf Trends aus?
„Danke! Da sprechen Sie ein enorm spannendes und wichtiges Thema an! Diese Möglichkeiten haben zwar in der Breite des Marktes noch nicht wirklich zu einer tatsächlichen Personalisierung geführt, aber zu einer Ästhetik der Personalisierung. Wir haben es mit dem paradoxen Phänomen zu tun, dass Exzentrik Mainstream geworden ist. Das wiederum stellt die Industrien vor die Herausforderung, Produkte an den Start zu bringen, die zwar seriell hergestellt sind, aber die Anmutung von Unikaten haben. Sie brauchen Produkte, die sehr subjektive Aussagen machen und trotzdem konsensfähig sind. Viele große Unternehmen fühlen sich davon überfordert und weichen diesem Trend aus, obwohl er unausweichlich geworden ist.“