„Gemachte Trends haben mich nie interessiert“

Gabriela Holscher Di Marco

Gabriela Holscher di Marco und ihr Ehemann Anti lernten sich vor vielen Jahren in ihrem Store ELA SELECTED in Düsseldorf kennen. Seitdem leben und arbeiten sie zusammen.

Autorin: Katja Vaders
Ihren ersten Laden eröffnet Gabriela Holscher Di Marco, genannt Ela, 1977 in Düsseldorf. Seinerzeit verkauft sie Vintage-Teile aus den USA oder Großbritannien und stylt Bands wie Kraftwerk, die britischen Dexys Midnight Runners („Come On Eileen“) sowie Die Toten Hosen und andere Punkrock-Musiker aus dem Umfeld des legendären Düsseldorfer Clubs Ratinger Hof. Ab den späten 1980ern nimmt sie vermehrt Avantgarde-Designer in das Portfolio ihres Ladens ELA SELECTED auf und fördert zudem den internationalen Mode-Nachwuchs. Das lässt sie weit über die Grenzen ihrer Heimatstadt hinaus zur Grauen Eminenz der Avantgarde werden. Viele bekannte und wichtige Designer gehören bis heute zum Freundeskreis von Ela. Vor vier Jahren zieht sie nach Hamburg und eröffnet auch hier mit Ehemann Anti einen ELA SELECTED Store, den sie allerdings im letzten Jahr aus gesundheitlichen Gründen aufgibt. In Rente geht sie deshalb noch lange nicht. Mit FASHION TODAY spricht sie über ihr Leben, ihre Inspiration sowie ihr Verständnis von Mode, Trends und der Avantgarde.

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Ela vor ihrem Laden auf St. Pauli in Hamburg, den sie im letzten Jahr aus gesundheitlichen Gründen aufgab. Bild: ©antidiemarco

FASHION TODAY: Ela, du bist eine Fashion-Ikone und eine Graue Eminenz der Avantgarde nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Wie bist du zur Mode gekommen?
Ela: „Mode war bei uns zu Hause immer ein großes Thema. Ich komme aus einem Friseurhaushalt, mein Vater war sehr avantgardistisch gekleidet und trug immer Schwarz. Meine Mutter war Kürschnerin und ebenfalls sehr modebewusst, wie übrigens meine gesamte Familie. Als ich meinem Vater sagte, dass ich Modedesign studieren möchte, wollte er, dass ich zunächst das Friseurhandwerk erlerne.“

Und das hast du dann auch gemacht.
„Genau, ich habe meinen Meister gemacht, in Paris ein Praktikum absolviert und war sehr erfolgreich in dem Beruf, unter anderem Deutsche Meisterin. Außerdem war ich staatlich geprüfte Kosmetikerin. Im Jahr 1972 kam ich nach Düsseldorf und fing beim besten Friseur der Stadt im Breidenbacher Hof an, meine erste Promi-Kundin war übrigens Mireille Mathieu. Ich hatte damals ein Faible für coole Kleidung aus England und habe einmal fast ein ganzes Monatsgehalt für Schlangenlederstiefel ausgegeben.“ (lacht)

Du hast dann aber aufgehört, als Friseurin zu arbeiten …
„Ja, und zwar als ich schwanger war mit meinem Sohn David. Einen Monat vor seiner Geburt musste ich aufhören zu arbeiten, weil mein Bauch so groß war, dass ich nicht mehr an die Kunden herankam. (lacht) Zur gleichen Zeit habe ich mich von meinem ersten Mann getrennt. David ist im Juli 1977 geboren und im Oktober eröffnete ich meinen ersten Secondhand-Laden, da ich Geld verdienen musste und mein Kind immer bei mir haben wollte. Das war sozusagen der Grundstein für mein Leben in der Mode.“

Ihren ersten Store eröffnete Ela im Jahr 1977. Als alleinerziehende Mutter wollte und musste sie ihren Sohn David immer bei sich haben. Viele Kunstschaffende und Musiker aus der Düsseldorfer Szene unterstützten sie, nicht nur als Babysitter. Bild: ©Ela

Dein Laden war schon von Beginn an etwas ganz Besonderes und zog ein illustres Publikum an.
„Das stimmt. Zu meinen Kunden zählten alle Teddy Boys der Stadt, denen ich im hinteren Teil des Ladens die Haare machte. Nebenan hatte der Künstler Thomas Schütte sein Atelier, es kamen Bands der Düsseldorfer Punkszene, aber auch aus England. Ich bin bis heute sehr gut befreundet mit Carmen Knoebel, die seinerzeit den Ratinger Hof betrieb, und war Teil der Szene. Wir waren alle untereinander befreundet und haben sozusagen gemeinsam ELA SELECTED kreiert, so hieß mein Geschäft.“

Was war das besondere Konzept von ELA SELECTED?
„Ich hatte vor allem sehr spezielle Kleidung aus den USA im Angebot. Vieles war zwar alt, aber noch nicht getragen, teilweise noch originalverpackt. Ich bin alle drei Monate nach Amerika geflogen und habe dort eingekauft, war auf Auktionen und habe alte Denims von LEVI‘S erstanden, von denen ich übrigens auch heute noch viele in meinem Bestand habe.“

Diese ganz spezielle Kleidung konnte man auch auf Fotos oder Plattencovern sehen. Du hast nämlich viele der Bands, die bei dir im Laden zu Gast waren, gestylt. Besonders ikonisch ist ein Foto der Düsseldorfer Band Kraftwerk, auf dem sie rote Hemden und schwarze Krawatten tragen – ein Outfit, das du zusammengestellt hast.
„Das stimmt, die Jungs von Kraftwerk waren oft bei mir im Laden. Einmal waren sie auf der Suche nach Kleidung für ein Foto und wir hatten gerade ganz tolle Teile aus Missouri, USA, originalverpackte Universitätskrawatten und diese roten Hemden. Wir überlegten gemeinsam, dass alle gleich angezogen sein könnten, und so entstand das Styling. Damals haben wir in Düsseldorf oft kreativ zusammengearbeitet, alle Künstler und Musiker haben sich gegenseitig unterstützt.“

Irgendwann hast du angefangen, immer weniger Vintage und vermehrt Avantgarde-Mode zu verkaufen. Wie kam es dazu?
„Im Jahr 1989 habe ich die ersten Neuwaren geordert, das waren Streifenpullis von SAINT JAMES aus Frankreich, ein echter Klassiker von einer alteingesessenen Firma. Nach und nach kamen immer mehr Labels hinzu. Als ich im selben Jahr meinen 200 Quadratmeter großen Laden am Düsseldorfer Fürstenplatz eröffnete, verkaufte ich erstmals Mode von Martin Margiela, Jean Paul Gaultier und Vivienne Westwood. Die Secondhand-Ecke wurde dann immer kleiner, aber mein Laden blieb ein Treffpunkt für eine bunte Mischung von Leuten aus Kunst, Musik und Avantgarde – dort habe ich auch meinen Ehemann Anti kennengelernt, mit dem ich seitdem zusammenlebe und -arbeite.“

Denkst du, dass sich Kunst, Musik und Mode gegenseitig befruchten und bedingen?
„Ja, diese drei Komponenten gehören zusammen und so entsteht Mode: durch Musik und Kunst, die heutzutage auch Trends setzen. Wenn ein Celebrity ein Teil trägt, wird es sofort kopiert, und zwar in allen Preisklassen. Oder das Original, das eigentlich schon länger auf dem Markt ist, aber bisher keinen interessiert hat, liegt plötzlich voll im Trend.“

Trends werden aber auch in den sozialen Medien gesetzt – dort kann man die Street Styles der verschiedenen Metropolen entdecken.
„Absolut – und jede Stadt hat ihren ganz eigenen Look. Ich lebe ja seit einigen Jahren nicht mehr in Düsseldorf, sondern in Hamburg, und hier sehen die Menschen auf den Straßen völlig anders aus. Das Gleiche gilt natürlich für München oder Berlin, wo ich auch regelmäßig bin. Jede Stadt hat ein anderes Straßenbild und man kann an der Art und Weise, wie die Leute gekleidet sind, erkennen, wo man ist.“

Du hattest Läden in Düsseldorf, Köln und in Hamburg und Kunden und Kundinnen nicht nur aus ganz Deutschland, sondern aus der ganzen Welt. Nach welchen Kriterien hast du die Mode ausgewählt, die du verkauft hast?
„Ich habe oft mitbekommen, dass Händler zu den Vertreterinnen und Vertretern sagten: ,Was geht denn gut bei euch, was soll ich ordern?‘ Und das haben sie dann gekauft. Ich hingegen habe geordert, was nicht so gut ging. (lacht) Ich wollte nicht die gleichen Teile in meinen Laden hängen, die man überall gesehen hat, und war schon immer gegen den Massengeschmack. Gemachte Trends, zum Beispiel von Trendscouts, haben mich nie interessiert, da geht es nur ums Geldverdienen.“

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Du hast vor allem Avantgarde verkauft. Kann sie auch Trends kreieren oder macht das eher die High Fashion?
„Das sind für mich zwei völlig unterschiedliche Stilrichtungen. Avantgarde ist auf eine kleinere und die hochwertige Mode auf eine größere Zielgruppe ausgerichtet. Avantgarde ist für mich Kunst und arbeitet mit einer völlig anderen Art von Schnitten. Sie ist skulptural wie bei Rick Owens oder Thom Browne, die auch bei großen Ketten zu finden sind, sich aber nur an eine kleinere Gruppe von Kunden verkauft, die meist viel Geld hat. Es gibt aber Avantgarde, die einen anderen Hintergrund hat, wie die Mode von Margiela, der schon vor vielen Jahren Upcycling gemacht hat, Stoffe vorbehandelte und der für mich ein Künstler ist, genauso wie die Japaner Yohji Yamamoto oder Issey Miyake. Diese Designer sind nur selten bei großen Händlern zu finden.“

Obwohl einige dieser Designer Kollabos mit H&M gemacht haben. Ist die Avantgarde bei den Vertikalen angekommen und damit im Trend?
„Ich war letztens bei ZARA und habe dort eine Bluse gesehen, die auch von Margiela hätte sein können – zwar sehr entschärft, aber man konnte am Schnitt erkennen, dass ZARA Avantgarde-Elemente in eine Kollektion eingebaut hatte. Das wäre noch vor wenigen Jahren verpönt gewesen.“

Wie kommen denn die sehr ausgefallenen Avantgarde-Designer in die Läden? Und welche Labels hast du bei ELA SELECTED verkauft?
„Ich hatte sehr viele belgische Designer im Programm, später kamen noch nordische Labels hinzu – ich war die Erste, die Acne verkauft hat, das ja mittlerweile ein High-Fashion-Label geworden ist. Beim Ordern war ich immer sehr mutig, bis die Marken angefangen haben, mich in ihre Showrooms einzuladen, um zu erfahren, was ich am Point of Sale über ihre Kollektionen denke. Insgesamt habe ich aber den geschäftlichen Aspekt oft ausgebremst und bin nach meiner Leidenschaft gegangen. Das verursachte manchmal schwierige Zeiten, die aber gleichzeitig ereignisreich waren, in denen ich viel gelernt und vor allem nie die Lust verloren habe. Denn irgendwann verkaufte ich dann doch noch alle Sachen – manche von ihnen hätte ich gerne heute noch auf Lager.“ (lacht)

Du hast vor allem viele junge Designer gefördert.
„Ja, das habe ich als meine Aufgabe angesehen. Ich habe dazu oft mit Walter Van Beirendonck zusammengearbeitet, der mich anrief und mir junge Talente von der Modeakademie in Antwerpen vorstellte, die ich dann in den Laden aufnahm. Die Kunstakademie Kopenhagen stellte mich einmal bei einem Dinner als besonderen Gast vor und man bedankte sich für meine Arbeit als Förderin junger Designer. Ich wurde aber auch in die Türkei, nach Brasilien und Hongkong eingeladen, um mir junge Avantgarde-Talente anzuschauen. Diese Anerkennung freut mich sehr, vor allem, weil sie international ist. Außerdem habe ich so wahnsinnig viele Designer und Kollegen kennengelernt; mit vielen bin ich bis heute befreundet.“

Derzeit hast du keinen festen Laden.
„Nein, nach 45 Jahren in Düsseldorf sind wir nach Hamburg gezogen, hatten zunächst ein festes Ladenlokal auf St. Pauli, das wir aber aus gesundheitlichen Gründen im letzten Jahr aufgegeben haben. Wir machen aber immer wieder Pop-up Stores in den verschiedensten Locations und es kommt viel Stammkundschaft von überallher, die mir und meinem Look vertraut – und den Designern, die ich kuratiere. Von Henrik Vibskov über Martin Margiela bis zu Esther Perbandt, übrigens eine der wenigen deutschen Avantgarde-Designerinnen, wie ich finde.“

Warum engagierst du dich so für die Avantgarde?
„Weil ich will, dass die Leute diese Mode sehen. Viele Menschen ziehen das Gleiche an, Teile, die in jedem Laden hängen. Das ist wie eine Uniform – aber keine Mode! Avantgarde war nie sexy, sondern skulptural oder ganz schlicht und damit der Gegentrend zu ,Sex Sells‘. Genau deshalb verkauft sie sich eben auch nicht so gut wie sexy Kleidung. Ich bin der Meinung wie Vivienne Westwood: Weniger ist mehr. Darum kauft weniger, aber dafür besser und nicht billig. Plötzlich gibt es Marken wie Temu oder SHEIN, für mich schreckliche Kleidung, in der man schrecklich aussieht.“

Du selbst hast Mode entwickelt, in der jeder gut aussieht, unabhängig von Geschlecht und Körpergröße.
„Die Idee kam mir vor 16 Jahren. Mir fehlte Kleidung, aus der man in Kombination mit Teilen von Designern einen neuen Look kreieren kann. Inspiriert hat mich die Kunst meines guten Freundes, der Künstler Imi Knoebel, der in seinen Werken mit Formen spielt. Ich habe mir Imis Bilder noch einmal genau angeschaut, Zeichnungen angefertigt, bin zu meiner Schneiderin gegangen und habe sie gebeten, mir daraus einen Schnitt zu machen. Herausgekommen sind ein rundes, ein quadratisches und ein dreieckiges Teil aus sehr gutem Material – jeweils nur in einer Größe, das war mir wichtig. Und: für Männer und Frauen tragbar, also schon damals genderless, bevor darüber so viel gesprochen wurde wie heute. Zu jedem Teil habe ich das Kunstwerk fotografiert, das mich inspiriert hat; bei meiner Kollektion habe ich allerdings nie kopiert. Nicht nur Imi Knoebel, auch alle befreundeten Designer fanden meine Arbeit toll.“

Es blieb aber nicht bei diesen drei Teilen.
„Stimmt, ich habe noch einen Circle Dress aus einem sehr guten Jersey gemacht, den man auf fünf verschiedene Arten tragen kann. Allein im ersten Jahr habe ich davon 100 Stück verkauft, obwohl er nie im Orderprogramm war. Hinzu kamen Hosen oder der Circle-Mantel. Glücklicherweise habe ich irgendwann sehr viel vorproduziert, sodass ich immer noch Teile habe – erst in der letzten Woche habe ich einen Circle Dress verkauft.“

Wo kann man deine Kollektionen anschauen und kaufen?
„Auf meinem Instagram-Account. Hier kann man nicht nur meine Bekleidung, sondern auch meine Mantra-Ketten bestellen, von denen jedes Stück ein Unikat ist. Welche Mode auch immer zu verkaufen, ist in dieser Zeit ein schwieriges Thema. Wichtig ist, darüber nachzudenken, und mein erstes Mantra FÜRCHTET EUCH NICHT ist immer aktuell. Auch wenn wir keinen Laden mehr haben: Wir möchten uns austauschen mit anderen Menschen, aus der Kunst oder der Musik. So kann man sich gegenseitig inspirieren – und so entstehen Mode und Style. Bei ELA SELECTED ging es nicht nur darum, Umsatz zu machen, ich habe mich immer über jeden Besuch gefreut – das war und ist meine Welt. Mode vermitteln, Kunden beraten – das schätzen viele meiner Stammkundinnen und -kunden seit vielen Jahren. Deswegen mache ich bis heute auch noch hin und wieder Styling.“

Das hört sich nicht so an, als würdest du bald in Rente gehen …
„Ich könnte jetzt theoretisch auch mal nichts tun und ein gutes Buch lesen. Aber irgendwie kommt immer etwas dazwischen oder jemand ruft an … (lacht) Aber ich möchte mich nicht beschweren, denn das gibt mir viel Energie.“  

Vielen Dank für das sehr inspirierende Gespräch, Ela!