„Offline ist das große Ding!“

Verzicht II

„Soziale Medien sind sehr giftige Plattformen, die unsere menschliche Zivilisation und persönlichen Seelen aussaugen." Paola Suhonen alle Bilder ©Paola Suhonen

Autorin: Tays Jennifer Köper-Kelemen
Das finnische Independent Label IvanaHelsinki steht für nachhaltige Mode, künstlerische Projekte – und eine Haltung gegen Social Media. FASHION TODAY hat mit der Gründerin, Designerin und Künstlerin Paola Suhonen gesprochen, um zu erfahren, warum sie auf soziale Netzwerke verzichtet.

WERBUNG

IvanaHelsinki ist ein finnisches Independent Label für Womenswear, das sich demonstrativ kontra Social Media positioniert. Dies wird spätestens beim Besuch der firmeneigenen Website mehr als deutlich. Titel wie „Go offline!“, „No Social Media!“ und „Buy less!“ springen dem User direkt ins Auge. FASHION TODAY hat bei Paola Suhonen, Gründerin und Designerin der Marke, nachgefragt, was es damit auf sich hat.

Paola Suhonen, geboren 1974, hat ihr Womenswear-Label IvanaHelsinki im Jahr 1998 als ein persönliches Kunstprojekt gestartet. Hinter dem Markenauftritt steht sie mit einem Familienunternehmen, bereits ihr Vater war ab Beginn der 1960er-Jahre in der Modebranche tätig. IvanaHelsinki verbindet in den Designs slawische Melancholie mit skandinavischem Purismus und amerikanischem Eklektizismus. Ganzheitliche Nachhaltigkeit spielt eine besondere Rolle. So wird jedes Teil der veganen Kollektion in genau 50 durchnummerierten Pieces produziert, um so Überkonsum entgegenzutreten und einen Sammlerwert für die Kleidungsstücke zu schaffen. Neben Mode werden unter der Marke auch reine Kunst-, Film- und Musikprojekte realisiert.

IvanaHelsinki war mit Modekreationen bereits auf der Pariser Fashion Week zu sehen. Zudem wurde die Designerin und Gründerin mit den renommierten Kunstpreisen Pro Finlandia (2013) und Suomi (2018) ausgezeichnet. Kooperationen mit internationalen Marken wie UNIQLO, Coca-Cola und TOPSHOP zählen zum Portfolio.

Paola Suhonen war mit ihren Modekreationen bereits auf der Pariser Fashion Week zu sehen. 

FASHION TODAY: Paola Suhonen, Sie sprechen sich über Ihre Marke IvanaHelsinki gegen soziale Medien aus – was wollen Sie vermitteln?
Paola Suhonen: „Ich war noch nie in den sozialen Medien vertreten und glaube nicht an diese Art von Marketing oder Branding. Sie sind sehr giftige Plattformen, die unsere menschliche Zivilisation und persönlichen Seelen aussaugen. Alle, die Inhalte erstellen oder Inhalte der sozialen Medienplattformen konsumieren, arbeiten teilweise (kostenlos) für Meta und große digitale Plattform-Unternehmen.
Als Künstlerin bin ich sehr erstaunt darüber, wie leichtfertig selbst Künstler ihre Werte verkauft haben und mit diesem System verschmolzen sind. Wo bleibt die Anarchie, die digitalen Giganten infrage zu stellen? Wieso nicht laut darüber sprechen, wie wir dabei sind, den Kern unseres Menschseins zu verlieren, wie wir zu echten menschlichen Beziehungen zurückkehren können?
Wenn man über ganzheitliche Nachhaltigkeit spricht, muss man sich von den Social-Media-Plattformen abmelden. Für mich sind sie ‚mentales Müllfutter‘, das mit Sicherheit die geistige und körperliche Gesundheit und die Qualität des persönlichen Lebens beeinträchtigt. Wie Sie merken, bin ich von einer No-Social-Media-Philosophie sehr überzeugt. ;-)“

Unternehmen und Verbraucher sollten also ohne soziale Medien auskommen?
„Was haben wir vor 15 Jahren gemacht? Ich vermute, die Evolution hat uns in den letzten 15 Jahren nicht so verändert, dass wir ohne diese giftigen Gadgets nicht überleben können.“

WERBUNG

Kann es sich ein Modelabel denn wirklich leisten, nicht mitzulaufen?
„Hah, ich verkaufe lieber weniger, wenn dies das größte Risiko ist! Ich persönlich glaube, dass wir nach zehn Jahren auf diese Plastik-Influencer-Tage zurückblicken und denken: ‚Was ist mit uns passiert? Was hat uns dazu verleitet, unsere Seelen und unsere Zivilisation für ein wenig Ruhm zu verkaufen?‘
Es ist schön zu sehen, dass ein Umdenken tatsächlich schon passiert. Es ist nicht mehr cool zu sagen: ‚Ich bin ein Influencer, Blogger oder Content Creator. Das ist so was von letzte Saison, um einmal einen Mode-Ausdruck zu verwenden. Ich habe auf der New Yorker Fashion Week in diesem Herbst viele junge Leute gesehen, ohne Handys, keine Selfies knipsend, einfach in einer Galerieeröffnung schlendernd, plaudernd, mit Rotwein auf den Lippen, und auch Rockbands mit echten Gitarren und Jim-Morrison-Looks. Die Authentizität, die Rauheit, die sexy Rock-n-Roll-Tage sind zurück in der Stadt … DAS IST COOL und die Offline-Bewegung ist das nächste große Ding!
Als die industrielle Revolution einsetzte, dachten wir, dass nichts sie aufhalten oder infrage stellen würde. Dann zeigte die grüne Bewegung dem endlosen Wachstum Grenzen auf, um unsere Natur und Erde zu schützen. Die Digitalisierung kam als nächste Welle durch. Doch es gibt keine Wellen, die nicht auch an Ufern brechen. Und so kündigt sich nun eine Offline-Bewegung an, die mir sehr willkommen erscheint, um diesen ganzen Wahnsinn in Zweifel zu ziehen.
Ich würde es gerne sehen, wenn in Zukunft Steuern und Beschränkungen für einflussgesteuertes Marketing (schädlicher Abfall) eingeführt würden, ähnlich, wie auch bereits Restriktionen für die Tabakindustrie, die Ölindustrie und so weiter gelten.“

Welche Rolle spielt für Sie in diesem Zusammenhang Nachhaltigkeit?
„Eine große Rolle. Wie gesagt, zu ganzheitlicher Nachhaltigkeit gehört auch ein verantwortungsbewusstes Marketing. Und dieses end- sowie sinnlose Shopping, das von Influencern betrieben wird, ist nicht sehr nachhaltig. Wir müssen weniger konsumieren. Dies ist auch der Grund, warum IvanaHelsinki nur durchnummerierte 50-Stück-Editionen von jedem Kunstwerk produziert.“

Es gibt Brands, die Reaktionen und Interaktionen in den sozialen Medien nutzen, um die Quantität ihrer Produkte an den Markt anzupassen. Kann man das denn als nachhaltig verstehen?
„Nein, das ist Blödsinn. Nachhaltigkeit ist heutzutage ein magisches Wort, mit dem man versucht, alles zu rechtfertigen. Als Künstler muss man an seine eigenen Visionen glauben. Diese Arten von viralen Hits sind so schnell weg, wie sie gekommen sind. Sie sind Fast Food.“

Klare Ansage

Wie bleiben Sie mit Ihren Kunden in Kontakt?
„Wir haben eine eigene Website, wir kontrollieren diese, keine Drittparteien oder andere Unternehmen erhalten Informationen von/zu unseren Kunden. Wir gehen respektvoll mit dem Sammeln von Cookies und so weiter um, wir haben einen Newsletter, wir haben ein Telefon und eine E-Mail-Adresse. Die Leute kontaktieren uns direkt. Wir haben eine große, treue Fangemeinde, die wir uns viel lieber bewahren und pflegen, als bedeutungslosen Followern nachzulaufen.
Zudem haben wir das Ivana Helsinki Art House, ein wunderschönes altes Atriumhaus aus den 1970er-Jahren, in dem wir Live-Auftritte, Ausstellungen, Buchlesungen, Treffen, Nassplatten-Fotokurse, Detektivabende und vieles mehr veranstalten. Letztes Wochenende haben wir mit über 300 Kunden und Freunden unseres Webshops eine riesige Twin-Peaks-Mottoparty gefeiert – mit Wein, zwei Rockbands (wir betreiben auch ein Plattenlabel), einer Laura-Palmer-Krimi-Tour und einer Log-Lady-Modenschau, die draußen während eines ersten Schneesturms stattfand.
Im vergangenen Sommer haben wir drei Kunstausstellungen in ganz Finnland präsentiert, 18 Summer Store Spots, im vergangenen Herbst dann noch dazu eine riesige Kunstparty und Modenschau auf der Pariser Fashion Week mit Lee Ranaldo (Sonic Youth) organisiert. Es wurde eine Fotoausstellung mit großformatigen Werken gezeigt, zudem eine Modenschau mit 100 Models auf der Bühne. Wir haben die gesamten 50x Editions vorgestellt, jedes Teil der Kollektion war auf der Bühne zu sehen.
Im nächsten Sommer starten wir eine große Kinotour. Es finden 60 kostenlose Vorführungen meines neuesten Spielfilms statt, der um die Mitternachtssonne in Finnland gezeigt wird sowie auf internationalen Filmfestivals.
Auch ist unser nächstes ,Lone Deer Laredo‘-Album raus. Wir arbeiten an einer Serie von sieben Vinyls, produziert in Nashville, mit dem legendären Brad Jones und Third Man Records, die die Vinyls mastern und drucken.
Es gibt viel zu tun im echten Leben und dies liegt uns sehr viel mehr am Herzen, als den Leuten Zeit und Leben zu nehmen. Geht offline und lebt leidenschaftlich!“

Wie sieht die Zukunft der sozialen Medien aus?
„Social Media werden sich sicher halten, aber das Medium wird nicht besonders, charismatisch, cool oder intelligent sein. Es bleibt, wie es ist: Fast Food, Fast Fashion und faules Leben … Aber ich bin mir sicher, dass die EU-Länder neue Steuern und Beschränkungen einführen werden. Wir haben ein schnelles Auto erhalten – mit Rädern, Bremsen und Lenkrad, doch ohne Fenster. Nun ist es an der Zeit, dieses Monsterauto zu stoppen und einige Verkehrsregeln aufzustellen.
Es gibt ein finnisches Sprichwort, das als alte Wahrheit perfekt auf die Digitalisierung zutrifft: ,Feuer ist ein guter Diener, aber ein schlechter Gastgeber.‘