Autor: Markus OessDie digitale Transformation, veränderte Verbraucherbedürfnisse und Nachhaltigkeitsanforderungen stellen den Einzelhandel vor große Herausforderungen. Um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen Handelsunternehmen ihre Geschäftsmodelle radikal anpassen. Das Zukunftsinstitut zeigt auf, wie Unternehmen mit Flexibilität, Innovation und Kundenzentrierung erfolgreich bleiben können. Boris Planer, Sprecher für Handel und Konsumgüter beim Zukunftsinstitut, mahnt zum Handeln.
Der Einzelhandel befindet sich nicht erst seit COVID-19 in einem tiefgreifenden Wandel. Neue Technologien, datenbasierte Geschäftsmodelle und der wachsende Druck hin zu nachhaltigem Handeln verändern die gesamte Handelslandschaft. Die globalen Krisen tun ihr Übriges. Laut dem Whitepaper „Zukunft des Handels“ des Zukunftsinstituts müssen Unternehmen adaptiv, nachhaltig und digital vernetzt agieren, um in diesem dynamischen Umfeld bestehen zu können. Boris Planer ist Autor des Papers und Sprecher für Handel und Konsumgüter beim Zukunftsinstitut. Er hebt hervor, dass „der Schlüssel zum Erfolg in der Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Unternehmen liegt“. In der heutigen volatilen Welt müssen Handelsunternehmen in der Lage sein, sich schnell auf Veränderungen einzustellen – sei es durch Krisen wie jüngst die Pandemie oder durch technologische Neuerungen. Die Arbeitsthesen von Planer im Überblick:
Auszug aus „Whitepaper – Zukunft des Handels“
Digitale Transformation und Kundenzentrierung als Zukunftstreiber
Ein zentrales Thema des Whitepapers ist die digitale Kundenzentrierung. Laut Planer geht es nicht nur darum, digitale Tools einzusetzen, sondern darum, „den Kunden in den Mittelpunkt zu stellen und ein nahtloses Einkaufserlebnis zu bieten, das sowohl online als auch offline stattfindet“. Unternehmen, die auf innovative Technologien setzen, werden langfristig die Nase vorn haben, da sie ihre Zielgruppen präziser ansprechen und ihre Dienstleistungen gezielt optimieren können.
Erlebniswelten im Handel
Neben der digitalen Transformation wird auch der stationäre Handel weiterhin eine bedeutende Rolle spielen. Allerdings wird er sich weg vom reinen Verkaufsraum hin zu Erlebniswelten entwickeln müssen. Konsumenten suchen nicht nur Produkte, sondern Erlebnisse, Inspiration und einen Mehrwert, der über den bloßen Kauf hinausgeht. Planer sieht hier großes Potenzial für Unternehmen, die stationäre und digitale Welten miteinander verbinden: „Der Einzelhandel wird zu einem Erlebnisort, an dem Kunden neue Produkte entdecken und Markenwerte erleben können.“ Dies könne durch technologische Innovationen wie Augmented Reality, interaktive Displays oder smarte Kassensysteme unterstützt werden.
Nachhaltigkeit als Differenzierungsfaktor
Ein weiterer wichtiger Punkt, den das Zukunftsinstitut hervorhebt, ist die nachhaltige Differenzierung. Abseits der regulatorischen Eingriffe achten Verbraucher zusehends auf die Herkunft ihrer Produkte und legen Wert auf umweltfreundliche Herstellungsverfahren. Für Handelsunternehmen bedeutet dies, dass sie ihre Lieferketten transparenter gestalten und umweltbewusste Produkte anbieten müssen. Globale Krisen, die immer wieder Störungen in der Lieferkette bis hin zu schwer kittbaren Brüchen verursachen, machen diese Aufgabe nicht eben einfacher. Die Modewelt ist global vernetzt – und abhängig. Planer unterstreicht, dass Nachhaltigkeit nicht nur ein Trend ist, sondern ein entscheidender Wettbewerbsvorteil: „Unternehmen, die sich glaubhaft und nachhaltig positionieren, werden langfristig Marktanteile gewinnen.“ Dabei geht es nicht nur um Marketing, sondern um echte Veränderungen in der Produktion, bei den verwendeten Materialien und in der gesamten Wertschöpfungskette.
Datengetriebene Entscheidungen und künstliche Intelligenz
Im digitalen Zeitalter spielen datengetriebene Entscheidungen eine immer größere Rolle. Handelsunternehmen, die in der Lage sind, große Datenmengen zu analysieren und daraus Handlungsstrategien abzuleiten, werden erfolgreicher sein. „Big Data und künstliche Intelligenz bieten enorme Chancen, die Kunden besser zu verstehen und ihnen personalisierte Angebote zu machen“, so Planer. Dabei geht es nicht mehr um die Fähigkeit, die Informationsflut zu verarbeiten. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, die gewonnenen Daten richtig zu interpretieren, sie sinnvoll zu nutzen und in Echtzeit auf Veränderungen im Markt und auf die Kundenbedürfnisse zu reagieren.
Hyper-Informed Consumer: Der neue Kundentyp
Konsumenten sind besser informiert als je zuvor. Dieser Hyper-Informed Consumer trifft seine Kaufentscheidungen auf Basis umfassender Informationen und erwartet von Händlern Transparenz und Authentizität. Laut dem Whitepaper des Zukunftsinstituts müssen Unternehmen diesen neuen Konsumententyp durch maßgeschneiderte Angebote und zielgerichtete Kommunikation ansprechen. „Die Zeit der Massenansprache ist vorbei“, betont Planer. „Erfolgreiche Unternehmen werden diejenigen sein, die ihre Kunden individuell erreichen und ihnen genau die Produkte anbieten, die sie wirklich wollen.“
Urban Quality of Life: Wandel der Innenstädte
Auch der Wandel der Städte und Innenstädte wird die Zukunft des Handels prägen. Städte müssen sich an veränderte Umweltbedingungen und neue Mobilitätskonzepte anpassen, was auch den stationären Handel beeinflusst. Unternehmen sollten frühzeitig auf diese Veränderungen reagieren und ihre Standortplanung entsprechend anpassen. „Der Einzelhandel der Zukunft muss sich in den Lebensraum der Menschen einfügen und sich flexibel an die neuen Gegebenheiten anpassen“, sagt Planer.
Planer mahnt zum Handeln. Das Whitepaper des Zukunftsinstituts macht deutlich, dass der Einzelhandel sich aktuellen Veränderungen nicht entziehen kann. Unternehmen, die sich jetzt nicht anpassen, laufen Gefahr, den Anschluss zu verlieren. „Stillstand ist keine Option“, warnt Planer. „Wer heute die Digitalisierung und Nachhaltigkeit nicht ernst nimmt, wird morgen nicht mehr am Markt bestehen.“
Digital Natives
„Sie warten nicht“
Besser und schneller werden muss der Handel im Umgang mit den geänderten Rahmenbedingungen. In einer Zeit des Umbruches sind Innovationskraft und Anpassungsfähigkeit der Händler gefragt. Warum, erklärt Trendforscher Boris Planer im FT-Interview.
FASHION TODAY: Herr Planer, Anpassungsfähigkeit war schon immer ein Erfolgsfaktor für Unternehmen. Starre Geschäftsmodelle gehen mit der Zeit unter. Was ist heute anders? Ist es das Tempo der Veränderung?
Boris Planer: „Absolut, es ist die Geschwindigkeit, mit der Veränderungen stattfinden. Die Millennials und die Generation Z sind mit dem Internet aufgewachsen und gehen anders mit der digitalen Welt um als ältere Generationen. Die Generation Alpha wächst mit der künstlichen Intelligenz als Selbstverständlichkeit auf. Die Informationsbeschaffung und das Konsumverhalten haben sich damit fundamental verändert. Gleichzeitig blicken wir auf eine Generation von Managern im Handel, denen die Geschwindigkeit und die Tiefe des digitalen Wandels nicht immer in vollem Umfang sichtbar sind und die sich zum Teil noch auf Geschäftsmodelle und Kommunikationskanäle konzentrieren, die für junge Konsumenten keine Bedeutung mehr haben. Themen wie der Klimawandel, technische Disruption und die Unruhe in der politischen Welt prägen die aktuelle Zeit. Die Welt verändert sich rasant, weitere Veränderungsschocks werden uns in der Zukunft überraschen und umso wichtiger ist es, die Anpassungsfähigkeit und -geschwindigkeit im Unternehmen deutlich zu steigern. In jüngerer Vergangenheit wurden wir von vielen Ereignissen überrollt, auf die wir nicht vorbereitet waren. Das muss sich dringend ändern.“
Digitalisierung ist klar ein Treiber der Entwicklung. Als Gegenentwurf auf „physischer Seite“ im Laden steht der Erlebniskauf, der aber auch digital funktioniert. Wie soll das ohne Mitarbeiter gehen? Schon heute ist der Zugang zu qualifizierten Kräften limitiert, besonders in der IT, im Management, aber auch im Verkauf. Was empfehlen Sie?
„Der Fachkräftemangel ist allgegenwärtig, sei es im Management, in der IT oder im Verkauf. Gerade in der Mode ist die Beratung und Kuratierung der Styles entscheidend. Händler müssen ihren Mitarbeitern vermitteln, warum sie kommen und bleiben sollen, müssen sie fördern und ihnen Perspektiven bieten. Und das besser als die Konkurrenz, die nicht nur aus anderen Händlern besteht, sondern aus allen Arbeitgebern vor Ort. Umschulungen, Mitarbeiterentwicklung und faire Bezahlung statt radikaler Kostenoptimierung sind probate Mittel, auch für kleinere unabhängige Händler.“
Sie führen Nachhaltigkeit als bestimmenden Zukunftsfaktor an. Aber noch immer spielt in Deutschland der Preis eine große Rolle bei der Kaufentscheidung. Der Erfolg von TEMU und SHEIN ist dafür ein Beispiel. Wann wird Nachhaltigkeit den Preis endgültig schlagen? Oder anders gefragt, wie lassen sich die Konsumenten davon überzeugen, dass „billig“ der falsche Weg ist?
„Billig wird nicht verschwinden. Psychologischen Studien zufolge leiden etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung an eingeschränktem Empathievermögen. Es wird also immer Menschen geben, die sich selbst radikal näherstehen als der Umwelt, den arbeitenden Menschen in der Lieferkette oder gar den künftigen Generationen und die keine Notwendigkeit sehen, sich zu verändern. Aber Nachhaltigkeit ist längst kein Nischenthema mehr. Menschen kaufen hybrid ein: Nachhaltigkeit wird dann wichtig, wenn sie es sich leisten können. Natürlich achten Konsumenten auch auf den Preis, aber Sparsamkeit und blindes Verlangen, alles möglichst billig und viel zu kaufen, sind zwei verschiedene Dinge. Viele Konsumenten wissen bereits, dass ,billig‘ der falsche Weg ist, weil Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Fairness entscheidende Werte darstellen.“
Sie empfehlen, direkt mit Digitalisierung und Nachhaltigkeit zu starten. Die andere Option wäre, nicht „Pionier“ zu sein, sondern als „Early Adopter“ vermeidbare Fehler zu umgehen und aus den Erfahrungen anderer zu lernen. Ist das keine valide Option?
„Tatsächlich sind Händler in Deutschland so manche entscheidende Entwicklung recht langsam angegangen. Während in England oder den USA die Digitalisierung schon vor 20 bis 25 Jahren in vollem Gange war, beschäftigen sich die meisten großen Handelskonzerne hierzulande erst seit 10 bis 15 Jahren damit auch in der praktischen Umsetzung. In Deutschland sind mittlerweile fast 50 Prozent der Konsumenten Digital Natives. Diese werden nicht abwarten, ob Händler sich eines Tages auf sie zubewegen. Sie gehen dorthin, wo es ,cool‘ und unkompliziert und inspirierend ist, wo es bezahlbar ist und wo es sich richtig anfühlt. Kein Händler kann es sich leisten, diese Kunden nicht auf eine Weise anzusprechen, mit der sie etwas anfangen können. Dank des Durchbruchs der KI in den Geschäftsalltag haben Händler jetzt endlich die Möglichkeit, die riesigen Mengen an existierenden Kundendaten zu analysieren und daraus nützliche Insights und Handlungsanregungen zu destillieren.“
Loslaufen ist für digitale Unternehmen vielleicht einfacher, ebenso für kapitalkräftige Firmen. Kleinere Händler haben diese Mittel oft nicht. Welche Strategie empfehlen Sie ihnen?
„Kein Händler sollte Digitalisierung um ihrer selbst willen betreiben. Aber auch kleinere Händler sollten, wenn sie es noch nicht getan haben, loslegen und auf Anwendungen setzen, die für ihre Kunden, Mitarbeiter und Lieferanten einen spürbaren – und idealerweise auch messbaren – Unterschied machen. So könnten sie auf KI-basierte Advanced-Analytics-Systeme setzen, die Marketing und Angebote stärker auf Zielgruppen zuschneiden oder individualisieren. Das werden Kunden Händlern gegenüber künftig als Erwartungshaltung mitbringen. Was die Investitionen betrifft, können die Kosten im Rahmen bleiben, wenn man auf externe Dienstleister zurückgreift. Die Qualität und Kompatibilität dieser Dienstleister lässt sich evaluieren, im Grunde ähnlich wie man bei gesundheitlichen Fragen den richtigen Arzt sucht.“