Vom Matrosenhemd zur Mode-Ikone

Wetterfest

Die ersten Fischer in gestreiften Shirts finden sich auf Ölbildern aus dem 17. Jahrhundert. Um die Bedeutung des Streifen-Designs ranken sich diverse Legenden. So sollen die 21 Streifen den 21 Siegen gelten, die Napoleon gegen die Briten errungen hatte. Andere sehen die Streifen als Symbol für die Wellen des Meeres. Tatsache ist, 1858 erklärte ein Dekret der französischen Marine die „Marinière“ zum offiziellen Unterhemd. ©pbrs auf Pixabay

Autor: Markus Oess
Kleidung war bekanntlich nicht immer nur ein Ausdruck von Stil – sie begann als Notwendigkeit, um uns vor den Elementen zu schützen. Doch wie verwandelte sich praktische Kleidung, wie das Marinehemd in ein modisches Statement? Prof. Dr. Gudrun M. König erklärt, warum Mode mehr ist als bloßes Design, wie Arbeitskleidung zum Trend wurde und welche Rolle Funktionalität heute noch spielt.

WERBUNG
„Kleidung schützt immer noch, aber kulturell different.“ Gudrun M. König Professorin an der TU Dortmund © Privat

FASHION TODAY: Frau Professorin König: Was macht Bekleidung zur Mode?
Prof. Dr. Gudrun M. König:
 „Das ist eine einfache Frage, die Antwort aber ist komplex. Welche Mode ist gemeint: Massenmode, Gruppenmode, Haute Couture? Die Antworten werden jeweils unterschiedlich sein. Meist wird mit Mode das Meistgekaufte und Meistgesehene assoziiert, aber auch die Vorschau der Laufstege, das Elitäre der Eventkultur gehören ebenso dazu wie Unkonventionelles der Straße, das erst übermorgen auf den Laufstegen zu sehen ist. Die begriffliche Trennung von Kleidung und Mode ist ebenfalls nicht einfach: Es gibt Klassiker, die nicht aus der Mode kommen, und es gibt Kleidungsstücke, die in Mode kommen – manchmal nur als Gruppenmode wie die Latzhose der 1970er-Jahre.

Die traditionelle Trennung in Kleidung und Mode wird derzeit kritisiert und Mode als kulturelles und ökonomisches System als westliches Exportmodell verstanden, da implizite Wertvorstellungen mittransportiert werden. Insofern macht es Sinn, den pluralen Begriff Moden zu nutzen, da er divers, plural und dynamisch zu verstehen ist.“

„Modische Vorgaben werden kombiniert mit kulturellen, religiösen und politischen Vorstellungen und gehen so eigene Mischungsverhältnisse ein…“

Welchen Zweck hatte Bekleidung in den Anfängen und wann wurde sie zur Zier für alle?
„Von welchen Anfängen sprechen Sie? Vermutlich war Bekleidung nie zierlos, aber es brauchte soziale und finanzielle Möglichkeiten der Wahl. Es ist nicht falsch, die Französische Revolution und die bürgerliche Gesellschaft als Beginn der westlichen Modekultur zu sehen. Zunächst mussten soziale und kulturelle Regeln jenseits von Standesregeln und Kleiderordnungen artikuliert werden können.“

Früher musste Bekleidung schützen, vor Kälte etwa oder vor Wasser auf hoher See. Wie schafften es Marinehemden beziehungsweise Marinières in die Mode?
„Kleidung schützt immer noch, aber kulturell different. Die Schutzfunktion nimmt mit Smart Textiles zu und macht den Körper zu einer vermessbaren und überwachbaren Funktionseinheit. Das Wandern von Kleidungsstücken zwischen Arbeits- und Freizeitkulturen mit dem Umweg des Modischen kennt viele Beispiele. Zunächst das Militär und später der Sport sind modische ‚Treiber‘: Vom Camouflagemuster bis zu DocMartens-Arbeitsschuhen, vom Trenchcoat bis zur Jogginghose saugt das ökonomische System der Mode vorhandene Ideen an. Dabei sind derartige Prozesse nicht monokausal zu verstehen. Sie verbinden sich mit politischen Vorstellungen, mit musikkulturellen Gegenkulturen, mit Genderperspektiven und popkulturellen Elementen.“

Wieso dienen die Uniform oder hier das Matrosenhemd als Inspiration, obwohl genau diese die Menschen doch ihrer Individualität berauben?
„Mode und Moden haben eine zweifache Funktion: Sie grenzen ab und hegen ein. Die Signale der Moden sind von Gruppenidentifikationen und Uniformierungstendenzen nicht zu trennen. Sie zeugen zugleich von Teilhabe und von individuellen Nuancen.“

Heute ist Mode im Grunde ja funktionslos, wenn es über das Design, ums bloße Aussehen hinausgeht, oder ist diese Aussage überzogen?
„Was heißt ‚funktionslos‘? Die Kombinationsmöglichkeiten sind vielfältiger geworden: Modische Vorgaben werden kombiniert mit kulturellen, religiösen und politischen Vorstellungen und gehen so eigene Mischungsverhältnisse ein, die einerseits Zugehörigkeit und andererseits Differenz markieren.“

WERBUNG
Pablo Picasso tat es, Brigitte Bardot und auch John Wayne. Sie alle mochten es gestreift. Beispielfoto © Amor lux

Warum wurde es dann chic, modische Anleihen bei der Arbeitskleidung zu nehmen?
„Wanderungsbewegungen sind nicht neu (Beispiel Krawatte aus dem Militärischen), aber insbesondere seit den 1960er-Jahren verbinden sie sich mit großer medialer Aufmerksamkeit, mit Unterhaltungs- (TV, Film) und Jugendkulturen.“

Inzwischen kennt die Funktionalität in der Kleidung keine Grenzen – Jacken, die heizen oder kühlen, schnell trocknende Textilien und auch solche, die das Hautklima regulieren. Sucht die klassische Mode neue Wege oder ist das eher ein Ausdruck der Zeit, dass halt eben auch Textilien etwas Besonderes können müssen und nicht nur einen berühmten Schöpfer brauchen?
„Hussein Chalayan, der britische Modeschöpfer und Künstler, hat vor etlichen Jahren gesagt, es gebe nichts Neues mehr in der Mode außer neuen Materialien: intelligent, smart, technisch, digital. Auch wenn dies eine radikale künstlerische Position ist, haben wir derzeit mit Nachhaltigkeit eine Dimension in der Mode erreicht, die zwar so alt wie Industriegesellschaft und Konsumkultur ist, aber heute durch die politische und mediale Aufmerksamkeit des Klimawandels das Greenwashing des Modesystems mobilisiert. Zugleich gibt es zahlreiche Marken und Designer, die mit Preloved-Kollektionen den Secondhand-Markt, der immer beliebter wird, inspirieren. Nachhaltigkeit, Anti-Cishet-Normativität und postkoloniale Kritik scheinen mir aktuell die diskursbestimmenden Themen der Wissenschaften der Moden zu sein.

Der Trend zur Nachhaltigkeit scheint definitiv neue Narrative nötig zu machen. Die ungebremste Vermehrung modischer Trends hat in der Fast Fashion mit SHEIN neue Dimensionen erreicht und zur Kannibalisierung bei den Billiganbietern (Schließen von PRIMARK-Filialen) geführt.“

Auf der anderen Seite erleben auch Textilien, die auf traditionelle Art und Weise hergestellt werden, eine gewisse Beliebtheit, etwa – noch eine Anleihe aus der Seefahrt – der Marinepulli, der durch seine besondere Herstellung wasserdicht ist. Braucht die Mode immer eine Geschichte, um solche Entwicklungen populär zu machen, oder anders gefragt: Wie wichtig ist der tatsächliche Nutzen in dem Zusammenhang?
„Ich weiß nicht, ob es bei den Moden immer um Nutzen und Zweck, Funktion und Schutz geht. Inspirationen wie Politik, Region, Kultur, Ästhetik, Status und Bequemlichkeit scheinen mir äquivalente Motivationen des vestimentären Wandels zu sein. Insgesamt nimmt die berufliche (handwerkliche) Codierung von Kleidung mit der Zunahme digitaler Arbeitskulturen im öffentlichen Erscheinungsbild ab. Neu ist der deutliche Sicherheits- und Signalcharakter von Arbeitswesten und Leuchtstreifen auf Berufs- und Freizeitkleidung.

Marine-Moden spielten in den Freizeitkulturen des 20. Jahrhunderts immer wieder eine wichtige Rolle und führten zu einem eigenen Modegenre – den Cruise Collections, die zunehmend darauf reagierten, dass Frühjahrs- und Herbstkollektionen die Bedürfnisse einer mobilen Gesellschaft kleidungs- und modetechnisch nicht mehr abbildeten. Die Seefahrt eignete sich dafür, da sie nicht nur militärisch, sondern vor allem sozialromantisch verklärt werden konnte.“

Kunst und Kultur

Prof. Dr. Gudrun M. König studierte Empirische Kulturwissenschaft, Soziologie und Politikwissenschaft. Nach ihrer Promotion zur Kulturgeschichte des Spaziergangs und einer Habilitation zur Konsumkultur um 1900 wurde sie 2007 Professorin an der Technischen Universität Dortmund am Institut für Kunst und Materielle Kultur. Die Wisenschaftlerin ist überdies Vorsitzende des netzwerks mode textil.