Autorin: Eva Westhoff Im Bekleidungseinzelhandel ist der Marktanteil von Verbundgruppen eher gering, verglichen mit jenem im Lebensmitteleinzelhandel etwa. Warum ist das so? Welche Vorteile bringt es mit sich, wenn sich Händler in Verbundgruppen organisieren? Was macht solche Kooperationen gerade für den mittelständischen Fachhandel attraktiv? Kann es Nachteile geben und, wenn ja, für wen? Ein Thema mit Lernpotenzial. FASHION TODAY hat mit Prof. Dr. Theresia Theurl gesprochen, emeritierte Direktorin des Instituts für Genossenschaftswesen der Universität Münster.
FASHION TODAY: Was ist eine Verbundgruppe?
Prof. Dr. Theresia Theurl: „Anders als bei Filialsystemen handelt es sich bei Verbundgruppen um Kooperationen. Mittelständische Unternehmen arbeiten bei einzelnen Aufgaben unter Einhaltung konkreter Regeln zusammen, bleiben jedoch rechtlich selbstständig. Die Zusammenarbeit weist eine übereinstimmende Grundstruktur auf, eine besondere Institutionalisierung: Mehrere Unternehmen (als Anschlusshäuser oder Mitglieder der Gruppe bezeichnet) arbeiten mit einer Systemzentrale zusammen. Eine solche Kooperationsgesellschaft wird beziehungsweise wurde von den Mitgliedern gegründet. Sie erbringt Dienstleistungen für die kooperierenden Unternehmen, die diese ‚auslagern‘ und benötigen, um ihren Kunden ein wettbewerbsfähiges Angebot zu machen. Meist handelt es sich heute um ein komplexes System der Zusammenarbeit, in dem zahlreiche Leistungen gemeinsam organisiert werden.“
Was leisten Verbundgruppen? Was können Sie leisten?
„Die Frage nach den Leistungen von Verbundgruppen kann auf verschiedenen Abstraktionsebenen beantwortet werden. Im allgemeinsten Sinne ist es ihr Zweck, eine ‚Kooperationsrente‘ für die Unternehmen zu schaffen, wirtschaftliche Ergebnisse, die ohne Kooperation nicht erreicht werden könnten. Dies können zusätzliche Umsätze, geringere Kosten, steigende Marktanteile, die Bewältigung notwendiger Transformationsprozesse, eine höhere Resilienz oder sogar der Erhalt der wirtschaftlichen Existenz sein.
Dass diese Effekte durch die Kooperation, nicht aber von den einzelnen Unternehmen allein erreicht werden können, wird durch mehrere Mechanismen bewirkt. So können Unternehmen zu klein sein, um Größenvorteile (Economies of Scale) zu nutzen, zum Beispiel bei IT-Lösungen oder der Beschaffung von Materialien oder Beratungsleistungen, beim Aufbau einer Marke sowie bei der Erfüllung von Regulierungsvorgaben. Dies beeinflusst Kosten und Kostenstrukturen. Vielfaltsvorteile (Economies of Scope) durch Kooperationen können genutzt werden, wenn Kunden unterschiedliche Varianten von Produkten und Lösungen wünschen, ein entsprechend breites Sortiment aber allein nicht bereitgestellt werden kann. ‚Voneinander lernen‘ (Economies of Skills) wird in den Verbundgruppen möglich, wenn die besten Lösungen von Unternehmen auch anderen Mitgliedern (wettbewerbsrechtskonform) verfügbar gemacht werden können, also die Effekte von Best Practice genutzt werden können. In dynamischer Hinsicht können Innovationsvorteile (Economies of Innovation) generiert werden, wenn es gilt, neue Prozesse oder Problemlösungen zu entwickeln oder auf Regulierungsvorgaben zu reagieren oder die Unternehmen in einem dynamischen Umfeld resilienter zu machen. Als Beispiel können Digitalisierung sowie die Nutzung von künstlicher Intelligenz angeführt werden. Nicht selten geht es auch darum, dass in einer Gruppe die Reaktion auf Markttrends oder Entwicklungszeiten verringert oder Anpassungsprozesse beschleunigt werden können, auch durch die Nutzung von Expertenwissen (Economies of Speed). Schließlich kann davon ausgegangen werden, dass kooperierende Unternehmen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit ein geringeres Insolvenzrisiko aufweisen als nicht kooperierende (Economies of Risk). Etwas vereinfacht kann auch von einem Verbundgruppenbonus gesprochen werden. Diese Wirkungsmechanismen überlagern sich teilweise.
Es ist zu betonen, dass die Kooperationsvorteile nicht ‚garantiert‘ sind, sondern von der Gruppe erarbeitet werden müssen. Viele Einflussfaktoren bestimmen das Ausmaß der Kooperationsrente, die keine ‚Zwangsbeglückung‘ ist. Kooperationen vermitteln nicht nur Vorteile, sondern für die Kooperationspartner auch Nachteile, die bei alleine wirtschaftenden Unternehmen nicht auftreten. Es geht also immer um einen ‚erwarteten Nettovorteil‘, der die Mitgliedschaft in einer Verbundgruppe nahelegt.“
„Das dynamische und komplexe Umfeld des Modeeinzelhandels verlangt es, die vielen Informationen an der Kundenschnittstelle für die Gruppe (datenschutzrechtskonform) verfügbar zu machen.“
Was macht Verbundgruppen gerade für den mittelständischen Fachhandel attraktiv und wie wichtig sind sie, wenn es um dessen Wettbewerbsfähigkeit geht?
„Nicht überraschend sind die Wirkungen der Zusammenarbeit für Unternehmen besonders wichtig, die in einem Umfeld arbeiten, das starken Veränderungen unterliegt. Sie können einerseits notwendige Anpassungsprozesse erleichtern, andererseits sich bietende Chancen mit den damit verbundenen Investitionen ermöglichen. Historisch sind die Verbundgruppen in Zeiten großer Veränderungen – nämlich Krisen – als Selbsthilfe entstanden. Dass der mittelständische Fachhandel seit Jahren großen Herausforderungen in einem dynamischen Umfeld unterliegt, ist unbestritten.
Diese sind technologischer Natur, zum Beispiel mit Blick auf die Möglichkeiten der Digitalisierung von Prozessen aller Art oder neue Mobilitäts- und städtebauliche Konzepte. Sie sind wirtschaftlicher Natur, wenn ein steigender Wettbewerbsdruck und zunehmende Konkurrenz durch neue Wettbewerber und Absatzkanäle oder die Transformation auf dem Arbeitsmarkt sowie die demografische Entwicklung betrachtet werden. Gerade für den Fachhandel sind zusätzlich gesellschaftliche Veränderungen, die sich im Käuferverhalten niederschlagen, von Bedeutung. Dazu kommen die energie- und klimapolitischen Rahmenbedingungen und eine starke Zunahme von regulatorischen Vorgaben und Auflagen aller Art, die auch einen großen Dokumentations-, Offenlegungs- und Kontrollaufwand mit sich bringen. Zahlreiche weitere Einflussfaktoren können genannt werden. Dass ein solches Umfeld spürbare Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit hat, ist ebenso naheliegend wie dass Kooperationsstrategien bei der Bewältigung von damit verbundenen Herausforderungen sowie bei der Nutzung von sich ergebenden Chancen helfen können. Die typischen Dienstleistungen von Verbundgruppen tragen über die genannten Wirkungsmechanismen zur Wettbewerbsfähigkeit bei, schaffen für die Mitglieder einen Wert, einen ‚Member Value‘.
Doch ist auch hier zu betonen, dass dieser positive Beitrag von Verbundgruppen zur Wettbewerbsfähigkeit von mittelständischen Fachhändlern keinen Automatismus darstellt, sondern dass er eine gute Kooperationsstrategie der Gruppe insgesamt voraussetzt. Ebenso ist zu berücksichtigen, dass neben der Kooperation die Optionen einer internen Wachstumsstrategie sowie einer Integrationsstrategie bestehen. Diese drei Strategien gilt es mit ihrem jeweiligen Mix an Vor- und Nachteilen abzuwägen.“
Können Verbundgruppen bei der Bewältigung der aktuellen Herausforderungen helfen, wie der wachsenden Konkurrenz durch den Online-Handel oder der Inflation?
„Dass Verbundgruppen bei der Bewältigung vieler aktueller Herausforderungen helfen können, ergibt sich, wenn die gemeinsam organisierten Leistungen mit ihrem Beitrag zum wirtschaftlichen Erfolg der mittelständischen Unternehmen analysiert werden. Historisch betrachtet, entstanden sie immer aus den aktuellen Herausforderungen vieler vergangener Jahrzehnte. Heute sind die gemeinsam organisierten Aufgaben vielfältig: Einkaufsverhandlungen, Beschaffung von Waren im Eigengeschäft, viele mit dem Warengeschäft verbundene Leistungen (zum Beispiel Durchführung von Sonderpreisaktionen, Musterungen, die Übernahme von Delkredere und Zentralregulierung), diverse Großhandelfunktionen, vielfältige Logistikleistungen, Aufbau von Multichannel-Lösungen, die Entwicklung, Implementierung und Pflege von IT-Prozessen und -Systemen, Finanzdienstleistungen, Beratung in betriebswirtschaftlichen und rechtlichen Fragen, Schulungen, Markenentwicklung und -pflege, Marketingkonzepte und gemeinsame Marketingprojekte, Entwicklung von Betriebsformenkonzepten, Beschaffung von Ladeneinrichtungen und Kassensystemen, Benchmarking-Konzepte, neue ‚Kauferlebniskonzepte‘, Leistungen rund um die Internationalisierung, Trend- und Marktforschung, Datenanalysen, Leistungen zur Unterstützung bei der Bewältigung von regulatorischen und administrativen Anforderungen und vieles mehr. In ihrer Gesamtheit wirken sie nicht nur auf der Kostenseite, sondern sie beeinflussen grundlegende unternehmerische Entscheidungen strategischer und operativer Natur.
Dass sich das Portfolio von Verbundleistungen im Laufe der Geschichte deutlich erhöht und ausdifferenziert hat, ist ein Spiegel der sich verändernden Herausforderungen, auf die es zu reagieren galt, und der Chancen, die ergriffen werden konnten. Längst sind Verbundgruppen keine Einkaufsverbünde mehr, was den Beginn der Entwicklung darstellte. Dennoch ist der gemeinsame Einkauf ein Wesensmerkmal geblieben, zu dem bald die Dienstleistungen mit unmittelbarem Bezug zum gemeinsamen Einkauf kamen. Diese Dienstleistungsverbünde entwickelten sich mit der Integration von Marketingleistungen weiter zu Marketingverbünden und dann zu umfassenden System- oder Konzeptverbünden. Deren Merkmal ist ein diversifiziertes Angebot von Leistungsbündeln, abgestimmt auf einzelne Mitgliedergruppen. Zunehmend entstanden Informationsverbünde, die Aufgaben der Informations- und Kommunikationspolitik datenschutzrechtskonform gemeinsam organisieren. Diese Komponente wird mit den ESG-Reportingpflichten noch deutlich wichtiger werden. Der Blick in die Entwicklungsgeschichte von Verbundgruppen hilft zu verstehen, dass Verbundgruppen bei der Bewältigung der aktuellen Herausforderungen unterstützen können, dass sie dafür jedoch in der Lage sein müssen, zusammen Lösungen zu finden, die auch mit Veränderungen verbunden sind.“
Welche Gründe gibt es, die dagegensprechen, sich in einer Verbundgruppe zu organisieren?
„Diese Gründe können klar benannt werden: Erstens, wenn die Organisation in einer Verbundgruppe aus wettbewerbsrechtlichen Gründen nicht zulässig ist, was vor allem von den Markt- und Wettbewerbsgegebenheiten abhängt (Tatbestand des ‚Nicht zulässig‘).
Zweitens, wenn aus anderen Gründen eine Kooperation nicht möglich ist. Dies kann der Fall sein, wenn eine geeignete Verbundgruppe nicht existiert und für die Gründung einer neuen die Voraussetzungen nicht gegeben sind, zum Beispiel, weil keine geeigneten Partner verfügbar sind, Einigungen über die Regeln der Zusammenarbeit oder über die geeignete Rechtsform der Kooperationsgesellschaft nicht zustande kommen. Ein häufig vernachlässigtes Thema ist, dass Kooperieren Kooperationskompetenz erfordert. Nicht alle Menschen und nicht alle Organisationsstrukturen sind geeignet zuzulassen, dass Entscheidungen nicht mehr alleine, sondern manche Sachentscheidungen von der Systemzentrale getroffen werden und für Investitionsentscheidungen ein Konsens mit den Partnern gefunden werden muss (Tatbestand des ‚Nicht möglich‘).
Drittens, wenn auf der Grundlage eines konsequenten ökonomischen Kalküls kein positiver Beitrag zu den wirtschaftlichen Ergebnissen zu erwarten ist oder wirtschaftlich überlegene Optionen existieren. Bisher wurde vor allem auf die Vorteile einer Verbundgruppenmitgliedschaft eingegangen, doch bei der grundsätzlichen Entscheidung für die Wahl einer Kooperationsstrategie sind auch die Kosten beziehungsweise Nachteile zu berücksichtigen. Ökonomen fassen einen Teil davon unter Transaktionskosten zusammen. Darunter fallen Entscheidungs- und Kompromissfindungskosten, Kontroll- und Konfliktkosten, die Nachteile, überstimmt zu werden, et cetera. Eine weitere Komponente sind die Investitionskosten für die gemeinsamen Leistungen sowie den Unterhalt der Systemzentrale. Ein Kooperationskalkül ist wie ein Investitionskalkül aufzusetzen und durchzuführen. Da Vorteile und Nachteile nicht exakt zu bewerten sind und in der Zukunft anfallen, gehen auch in Kooperationskalküle subjektive Einschätzungen und Bewertungen ein (Tatbestand des ‚Nicht sinnvoll‘).“
„Die Welt der Verbundgruppen ist eine bunte und die Vielfalt der verwirklichten Kooperationsmodelle innerhalb der einzelnen Branchen auffallend.“
Welche Vorteile sind damit verbunden, wenn Verbundgruppen gegenüber dem Endverbraucher unter einer Marke auftreten?
„Eine gemeinsame Marke (eventuell auch ergänzt mit Namenszusätzen und Bildelementen) hat den Vorteil einer größeren Präsenz und Sichtbarkeit, was sich positiv auf das Käuferverhalten auswirken kann. Allerdings gilt es zu beachten, dass der Aufbau und die nachhaltige Pflege einer starken Marke ein langfristiges Projekt sind und ein umfangreiches Investitionsvolumen erfordern. In einer Verbundgruppe sind transparente und verbindliche Regeln erforderlich, wie mit der Marke von den Unternehmen umzugehen ist, denn es sind ihrer mehrere, die auf die Stärke der Marke positiv sowie negativ einwirken können.
Ist bereits eine gemeinsame Marke vorhanden, können neue Mitglieder von einem positiven Reputationstransfer profitieren. Bei der Gründung einer neuen Verbundgruppe stellen sich dann interessante Fragen, wenn ein oder mehrere Unternehmen bereits über eine gute Marke verfügen und diese in die Gruppe einbringen können. Es wird in dem Fall zu klären sein, zu welchen Konditionen. Aktuell zeichnet sich eine weitere interessante Facette für Gruppen und Unternehmen ab, die Nachhaltigkeit als wichtiges oder dominantes Markenelement aufgebaut und damit Reputation gewonnen haben. Mit den ESG-Reportingregeln, die Nachhaltigkeit konkretisieren, kann es im Wettbewerb zu einer Entwertung des Markenkapitals kommen, weil dadurch eine positive Differenzierung im Wettbewerb nur noch schwer möglich sein wird.“
Welche Nachteile gibt es, etwa, was das individuelle lokale Profil eines Händlers angeht?
„Als Nachteile sind ein negativer Reputationstransfer hervorzuheben, wenn eine eigene Marke vorhanden ist, die eventuell bezogen auf die Zielgruppe sogar werthaltiger ist als eine gemeinsame, oder wenn Verbundpartner durch ihr Verhalten die gemeinsame Marke beschädigen und auf diese Weise externe Schäden verursachen. Ein individuelles lokales Profil kann Fundament einer guten Marke sein und wird tendenziell noch wichtiger werden als bisher. Wenn Lokalität ein Teil der gemeinsamen Marke ist, wird kein Widerspruch bestehen und eine adäquate Kommunikation kann das eigene Profil sogar aufwerten, wenn die Vorteile der Zusammenarbeit berücksichtigt und kommuniziert werden.
Sollte dies nicht der Fall sein, ist der Kommunikationsbedarf deutlich größer und anspruchsvoller. Die Herausforderung geht dann über Kommunikation hinaus. Verfügbare Optionen sind im Einzelfall zu prüfen. Abzuwägen sind konkret der Vorteil einer leistungsfähigen Gruppe mit gemeinsamer Marke und der Vorteil eines unverwechselbaren Profils, das lokal verankert ist. Eine Verbundgruppe als lokal verankertes Ökosystem zu verstehen und zu kommunizieren, kann eine Lösung für diesen Konflikt sein, der näher untersucht werden sollte. Längerfristig bleibt es jedoch sowohl für die Gruppe als auch für die betreffenden Händler herausfordernd, mit diesem Spannungsfeld umzugehen. Eine offensive Herangehensweise ist meist der überlegene Ansatz. Der Umgang mit gemeinsamen und individuellen Marken in Verbundgruppen ist eine Angelegenheit, für die transparente und verbindliche Regeln erforderlich sind.“
Der mittelständische Lebensmitteleinzelhandel wird von den Verbundgruppen EDEKA und REWE dominiert. Einer wettbewerbsökonomischen Analyse der Autoren Prof. Dr. Rainer Lademann und Dr. Mitja Kleczka zufolge entfielen 2021 85,5 Prozent des Umsatzes mit Lebensmitteln im Einzelhandel auf vier Handelsriesen: EDEKA, ALDI, REWE und die SCHWARZ Gruppe mit LiDL und Kaufland. Im Bekleidungseinzelhandel ist der Marktanteil von Verbundgruppen überschaubar. Liegt es am Produkt oder an der Marktstruktur?
„Von den genannten Händlern sind EDEKA und REWE Verbundgruppen, weshalb der Prozentsatz von 85,5 Prozent nicht mit dem Marktanteil von Verbundgruppen im Bekleidungseinzelhandel verglichen werden kann. Nichtsdestotrotz ist der Umsatzanteil von Verbundgruppen im Lebensmitteleinzelhandel höher als im Bekleidungseinzelhandel. Mehrere Gegebenheiten und Entwicklungen sind für diesen empirischen Tatbestand ursächlich. Nicht zu unterschätzen sind die Historie der Organisationswahl und die damit eingeschlagenen Organisationspfade. Diese unterscheiden sich in den beiden genannten Branchen. Die Verbundgruppen im Lebensmitteleinzelhandel mit ihren lokalen und regionalen Strukturen konnten früh die Wettbewerbsfähigkeit der selbstständigen Kaufleute stärken und ermöglichten eine nachhaltige Expansionsstrategie (Vertiefung und Vergrößerung). Zusätzlich konnten sich bei einem insgesamt wachsenden Markt deutlich später auch die genannten Filialsysteme herausbilden, die ebenfalls expandierten. Auf diese Weise ist ein stark konzentrierter Markt entstanden. Existenz und Entwicklung der Verbundgruppen sind also nur ein Element der Erklärung der Unterschiede.
Anders haben sich nämlich die Organisations- und Marktstrukturen im Bekleidungseinzelhandel herausgebildet. Verbundmodelle entstanden hier deutlich später, während interne Wachstumsstrategien und Zukäufe die Entwicklung trieben. Dem liegen einzelwirtschaftliche Kalküle zugrunde, die im Ergebnis bewirkten, dass der Markt weniger konzentriert, der Wettbewerb selbstständiger Mittelständler ausgeprägter ist und sich die einzelnen Händler in der Größe stark unterscheiden. So findet sich in der neuesten Liste der größten Verbundgruppen in Deutschland die KATAG AG, Europas größter Fashion-Dienstleister, unter den ersten 25 (gemessen am Innenumsatz), nicht jedoch die Verbundgruppen der Lebensmittelhändler. Vor diesem Hintergrund sehe ich in der Textilbranche noch mehr Kooperationspotenzial als im Lebensmitteleinzelhandel. Es sind weniger einzelne Produktmerkmale als die Verbundtradition mit der Entwicklung entsprechender Kooperationskompetenzen und -erfahrungen, die einzelwirtschaftliche Einschätzung möglicher Kooperationsrenten durch die Zusammenarbeit und der entstandene aktuelle Konzentrationsgrad, die die unterschiedliche Bedeutung von Verbundgruppen in einzelnen Branchen erklären können.“
Welche Unternehmen im Modehandel von einem Zusammenschluss in Verbundgruppen profitieren, ist sicher auch eine Frage des Preissegments. In unteren Preissegmenten überwiegen die Beschaffungsvorteile mit Blick auf das Volumen. Aber wie sieht es zum Beispiel im Luxussegment aus, wo Exklusivität und enge Kundenbeziehungen im Vordergrund stehen, also Aspekte, die sich kaum mit dem Volumengeschäft vereinbaren lassen?
„Ein Teil der Antwort wird in der Frage bereits vorweggenommen. Dieser Zusammenhang ist allerdings weniger absolut und direkt, als er hier erscheint. Von einem Zusammenschluss in Verbundgruppen profitieren jene Unternehmen im Modehandel, deren wirtschaftlicher Erfolg von den genannten Wirkungsmechanismen abhängt. Ein sehr wichtiger Faktor sind tatsächlich Größen- und damit Kosteneffekte. Doch das ist nicht alles. Die Vielfalt des Angebots, Kompetenztransfer und Expertenwissen, Innovationsfähigkeit, schnelle Anpassungsprozesse und Resilienz sowie Risikoteilung und -reduktion sind weitere Faktoren. Zwar können auch sie kostenwirksam sein, doch dies ist nicht der einzige Wirkungskanal. Dass in unteren Preissegmenten die Beschaffungsvorteile große Bedeutung haben, ist evident. Doch können im Luxussegment die anderen genannten Wirkungsfaktoren zu Kooperationsentscheidungen führen, auch um Exklusivität und Individualisierung an der Kundenschnittstelle besser zu erreichen als im Alleingang.
Kooperationsvorteile können nicht nur im Volumengeschäft entstehen. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob es einer Verbundgruppe gelingt, die Unternehmensziele ihrer Mitglieder durch die gemeinsamen Dienstleistungen besser zu erreichen, als diese es alleine vermögen, also einen überzeugenden Member Value zu schaffen. Die konkreten Gründe dafür sind vielfältig und wieder ist ein fundiertes ökonomisches Kalkül als Grundlage der Organisationswahl entscheidend.“
unitex GmbH, die KATAG AG und EK Retail als Genossenschaft sind ganz unterschiedlich aufgestellt. Sie haben also eine Daseinsberechtigung, aber gibt es Kooperationsformen, die für den Modeeinzelhandel besonders vorteilhaft sind?
„Die Welt der Verbundgruppen ist eine bunte und die Vielfalt der verwirklichten Kooperationsmodelle innerhalb der einzelnen Branchen auffallend. Unterschiedliche Institutionalisierungsvarianten stehen zur Verfügung. Dies beginnt bei der Wahl der Rechtsform für die Systemzentrale und beinhaltet zusätzlich den konkreten Regelkatalog für Zusammenarbeit, Eintritt und Exit, Entscheidungsmodi für die gemeinsam organisierten Leistungen, Preismodelle und vieles mehr. Auch der Ausgestaltungsentscheidung sollte eine fundierte Optionenprüfung zugrunde liegen, um den Kooperationszielen und den Unternehmens- und Marktgegebenheiten möglichst gut Rechnung zu tragen. Nicht nur die Rechtsform ist zu wählen, sondern auch, ob Standardkooperationsverträge oder modifizierte beziehungsweise individualisierte Varianten vereinbart werden. Weitere Festlegungen sind die Verbindlichkeit, die Einflussmöglichkeiten der Kooperationspartner und ob die Mitglieder zwischen unterschiedlichen Leistungsbündeln wählen können.
Das dynamische und komplexe Umfeld des Modeeinzelhandels verlangt es, die vielen Informationen an der Kundenschnittstelle für die Gruppe (datenschutzrechtskonform) verfügbar zu machen. Dies spricht für eine dezentral organisierte Gruppe mit einem hohen Partizipationsgrad und einem sehr leistungsfähigen Informations- und Kommunikationssystem. Eine genossenschaftliche Institutionalisierung ist unschlagbar, wenn die Partizipation sowie eine stabilisierende Governance als wichtig eingeschätzt werden. Manche Unternehmen befürchten hingegen komplexe Entscheidungsprozesse und das Fehlen eines größendifferenzierten Einflusses und entscheiden sich daher für eine GmbH. Internationale Aktivitäten und große Gruppen sind häufig die Begründung für die Wahl einer AG. Diese wenigen Faktoren zeigen bereits, dass es die eine optimale Kooperationsform nicht gibt. Entscheidend ist vielmehr, dass ein Fundament geschaffen wird, das einen guten Mix aus Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Anforderungen und Stabilisierung bei unterschiedlichen Interessen ermöglicht. Nicht selten haben Erfahrungen der Kooperationspartner mit einzelnen Rechtsformen Einfluss auf die gewählte Institutionalisierung der Verbundgruppe.“