Brasilien ist ein Land, das sich im Wandel befindet. FASHION TODAY hat im Interview mit ABIT, dem brasilianischen Verband der Textil- und Bekleidungsindustrie, erkundet, welche wirtschaftliche Bedeutung dem Textil- und Bekleidungsmarkt im Land zukommt. Und auch, welche Entwicklungen und Herausforderungen aktuell zu notieren sind, insbesondere mit Blick auf nachhaltige Tendenzen, steuerliche Rahmenbedingungen im Import/Export und den Boom asiatischer Verkaufsplattformen.
FASHION TODAY: Wie groß ist die wirtschaftliche Bedeutung des Textil- und Bekleidungsmarktes in Brasilien?
ABIT: „Der Textil- und Bekleidungssektor in Brasilien spielt eine entscheidende Rolle in der Wirtschaft und wird von mehreren Faktoren bestimmt. Unsere Textil- und Bekleidungsindustrie stellt eine der fünf größten Produktionsketten der Welt dar, die größte Produktionskette des Westens – im Verlauf gesehen vom Rohstoff (natürlich, synthetisch oder künstlich) bis hin zum Endprodukt, das den Verbraucher erreicht. Die Errichtung eines Produktionsparks wie der unsere würde heute mehr als 400 Milliarden Brasilianische Real kosten (etwa 66 Milliarden Euro). Es handelt sich um einen Sektor, der im ganzen Land aktiv ist und 1,33 Millionen Menschen direkt beschäftigt. Mehr als 65 Prozent der Arbeitsplätze sind von Frauen besetzt und 85 Prozent der Unternehmen sind kleine und mittlere Betriebe. Wir finden uns unter den zehn größten Märkten der Welt.
Im Außenhandel wird der Sektor durch die sogenannten ‚Brasilien-Kosten‘ unter Druck gesetzt. Dies betrifft alle Wirtschaftszweige in unserem Land, wie auch die Zahlen für das erste Quartal 2024 belegen. Die Einfuhren beliefen sich auf insgesamt 1,61 Milliarden US-Dollar und lagen damit um 7,76 Prozent über den 1,5 Milliarden US-Dollar des gleichen Zeitraums im Jahr 2023. Die Exporte fielen um 13,28 Prozent – von 234 Millionen US-Dollar auf 203 Millionen US-Dollar. Infolgedessen stieg das Handelsdefizit sprunghaft von 1,26 Milliarden US-Dollar auf 1,41 Milliarden US-Dollar, was einer Zunahme von 11,65 Prozent entspricht. Allein die Bekleidungsimporte beliefen sich im ersten Quartal auf 589,85 Millionen US-Dollar, ein Anstieg von 1,28 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Fast 60 Prozent der Gesamteinfuhren kamen aus China.“
Welche aktuellen Entwicklungen beobachten Sie?
„Die brasilianische Textilproduktion ist das Segment, in dem am meisten in Technologien investiert wird, insbesondere, um die Produktivität und die Funktionalität der Produkte zu erhöhen, einen Mehrwert zu schaffen – und um die Produktion und die Prozesse nachhaltiger zu gestalten. Brasilien verfügt bereits über eine saubere Energiematrix, aber die Unternehmen investieren, um den Wasserverbrauch noch weiter zu senken (heute wird eine Jeans mit nur einem 200-Milliliter-Glas Wasser hergestellt, vor zehn Jahren waren es noch 100 Liter) und bereits verwendetes Wasser neu aufzubereiten und wieder zu nutzen. Darüber hinaus werden alle Arten von Abfällen dem Recycling zugeführt. Im Bekleidungssektor, wo der Einsatz von Arbeitskräften intensiver ist, haben sich die Unternehmen der Förderung eines längeren Lebenszyklus der Produkte und ihrer Wiederverwendung sowie Rückverfolgbarkeit vom Garn bis hin zur Bekleidung in den Geschäften verschrieben, um ethische und nachhaltige Prozesse zu gewährleisten. Der nationale Einzelhandel arbeitet mit verschiedenen Vertriebskanälen. Der Großteil der Verkäufe wird nach wie vor in den Geschäften der Hauptstraßen mit No-Name-Artikeln getätigt. Danach folgen Mehrmarkengeschäfte in Einkaufszentren und große Einzelhändler. Es sei darauf hingewiesen, dass die brasilianischen Einzelhändler heute – wie auch Einzelhändler im Rest der Welt – von international getätigten Einkäufen auf digitalen Plattformen bedrängt werden. Die Produkte dieser Plattformen gelangen im Wert von bis zu 50 US-Dollar nach Brasilien, es fallen viel weniger Steuern an als für Produkte, die im Land produziert wurden. Dies führt zu einem ungleichen Wettbewerb.“
Welche Herausforderungen ergeben sich daraus?
„Der Markt in Brasilien steht vor mehreren Herausforderungen, die sich auf seine Funktionsweise und sein Wachstum auswirken. Die größte Herausforderung des Sektors ist dieselbe, mit der das gesamte Industriesegment in Brasilien aktuell konfrontiert ist: die Produktionskosten. Das Steuersystem erhebt vom Rohstoff bis hin zum Endprodukt kaskadenartig Steuern, was dazu führt, dass der Verbraucher 30 bis 40 Prozent des Produktwerts an Steuern zahlen muss. Darüber hinaus verteuern eine der höchsten Zinssätze weltweit, Rechtsunsicherheit und strenge Arbeitsvorschriften die Arbeit. Es ist nicht einfach, Unternehmer in Brasilien zu sein, es ist nichts für Amateure. Deshalb kommt auch kein chinesisches Textilunternehmen ohne Weiteres auf die Idee, neue Wege zu gehen und in unserem Land zu produzieren.
Um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können, muss der Sektor seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern, indem er sich um Handelsabkommen bemüht, globale Marketingstrategien ausbaut und die ‚Brasilien-Kosten‘, die die inländische Wirtschaftstätigkeit belasten, reduziert. Die Bewältigung dieser Herausforderungen erfordert strategische, politische und anpassungsfähige Maßnahmen vonseiten der Regierung und der Unternehmen in Brasilien im Allgemeinen.“
Wie sieht die Situation konkret bei Modehändlern aus?
„Die Situation für Modehändler in Brasilien ist – wie bereits erwähnt – aufgrund der steuerlichen Ungleichheit, die durch die Befreiung von Einfuhrsteuern auf Einkäufe von bis zu 50 Dollar auf internationalen E-Commerce-Plattformen entsteht, schwierig. Dieses Problem, von dem auch die Industrie betroffen ist, wurde durch die vom Nationalkongress beschlossene, aber noch nicht in Kraft getretene Erhebung einer 20-prozentigen Steuer auf Einfuhren gemildert. Die Differenz ist jedoch nach wie vor groß und führt zu einem unlauteren Wettbewerb, der sich negativ auf die Produktion und die Schaffung von Arbeitsplätzen in Brasilien auswirkt.
Die großen Online-Händler in Asien profitieren von einer Steuervergünstigung, die für brasilianische Unternehmen nicht gilt, was diesen internationalen Plattformen einen erheblichen Wettbewerbsvorteil verschafft. Verschärft wird die Situation durch die öffentliche Meinung. Die meisten Verbraucher sind nicht bereit, für den Kauf von Produkten auf asiatischen Plattformen mehr zu bezahlen. Andererseits sind sie der Meinung, dass brasilianische Unternehmer weniger Steuern zahlen sollten. Da die zweite Hypothese kurzfristig weniger praktikabel ist – Brasilien arbeitet an einer Steuerreform, die innerhalb von zehn Jahren umgesetzt werden soll –, wollen die Verbraucher weiterhin billig für asiatische Produkte bezahlen, ohne die Herkunft, die Einhaltung der Vorschriften durch den Hersteller und die Risiken eines nicht zertifizierten Produkts zu kennen.
Die steuerliche Ungleichbehandlung wirkt sich nachteilig auf den lokalen Sektor aus, insbesondere an wichtigen Geschäftstagen wie Muttertag, Schwarzer Freitag und Weihnachten, die einen erheblichen Teil des Jahresumsatzes der Unternehmen ausmachen. Steuerliche Gleichstellung ist dringend notwendig und war für die Unternehmer ein Kampf mit der Regierung.“
Welchen allgemeinen Einfluss hat das Ausland auf Markttrends und -entwicklung?
„In Bezug auf China wurde mit Blick auf diverse Plattformen bereits erwähnt, dass sich die Situation zu einem großen Problem entwickelt hat. Viel älter sind jedoch die Schwierigkeiten um die legalen Einfuhren, die trotz der Erhebung von Steuern in Brasilien aufgrund der brasilianischen Kosten (Zinssätze, Arbeitskosten, Steuer- und Abgabensystem) immer noch viel billiger sind als das brasilianische Produkt. Brasilien hat kein Handelsabkommen mit den USA, diese sind aber angesichts des dortigen Verbrauchsvolumens zweifelsohne ein wichtiger Zielmarkt für uns. Das Fehlen eines Abkommens bedeutet, dass sich nur Produkte mit höherem Mehrwert auf dem US-Markt besser verkaufen, wie zum Beispiel brasilianische Luxusmodemarken oder exklusive Designermarken mit brasilianischer DNA. Seit 23 Jahren führt ABIT ein Programm zur Förderung der Internationalisierung brasilianischer Unternehmen durch, das von der Regierung über die Agentur für Export- und Investitionsförderung – ApexBrasil – subventioniert wird. Mithilfe dieses Programms ist es den Unternehmen gelungen, ihre Exporte zu steigern, aber das Potenzial der brasilianischen Mode ist noch lange nicht ausgeschöpft. Weniger als 10 Prozent der Unternehmen (von insgesamt 24.000 Bekleidungsunternehmen) exportieren. Die brasilianische Mode erforscht globale Verhaltenstrends und passt sie an das tropische Klima an. Wir wissen, dass sich die brasilianischen Referenzen in unserer Mode wirklich gut verkaufen.“
Was kennzeichnet Ihrer Meinung nach Mode in Brasilien?
„Die Mode in Brasilien hat eine nachhaltige Berufung. Wir verfügen nicht nur über eine saubere Energiematrix (mechanisch, hydroelektrisch), sondern entwickeln auch zunehmend Biofasern, die nachhaltig und biologisch abbaubar sind. Und diese sind im Überfluss vorhanden. Legere, leichte und bequeme Kleidung aus farbig gewachsener Baumwolle, die nicht eingefärbt werden muss und Hunderten von Erzeugerfamilien im Nordosten des Landes ein Einkommen verschafft, hat auf europäischen Modemessen Preise für nachhaltige Mode gewonnen. Dabei ist der gesamte Produktionsprozess zertifiziert. Derzeit arbeiten Hunderte von Forschern daran, die Verwendung von Fasern wie Banane, Bambus, Hanf, Algen und anderen zu perfektionieren, ebenso neue, natürliche Färbemethoden mithilfe der reichen Flora Brasiliens zu entdecken. Diese farbbewusste, lebensfrohe, entspannte und nachhaltige DNA brasilianischer Mode ist ein geschätztes Merkmal, insbesondere auf internationalen Messen, Shows und Salons.“
Welche Synergien würden Sie in Zukunft gerne noch stärker nutzen?
„Auf den letzten Kongressen, die ABIT veranstaltet hat, haben wir die Notwendigkeit von öffentlich-privaten Partnerschaften und Netzwerken betont. Wir müssen unsere Kräfte bündeln, um technologische Sprünge zu machen, sei es in Bezug auf Produkte, Prozesse oder Erfüllungen der SDGs der UN. Öffentlich-private Partnerschaften, wie zum Beispiel unser Programm zur Internationalisierung von Unternehmen, haben sich als wesentlich und erfolgreich erwiesen und müssen in den Bereichen Forschung und Finanzierung von Projekten der grünen Wirtschaft weiter ausgebaut werden. Darüber hinaus kann die Organisation der einzelnen Kettenglieder – um gemeinsam zu handeln und auf die Ziele des Sektors als Ganzes zu reagieren, insbesondere die Dekarbonisierung der brasilianischen Mode – Brasilien in eine führende Position in diesem Bereich bringen.“