Jeder ist ein Athlet

Nike

© Nike

Autor: Andreas Grüter
Nike ist ein Phänomen – trotz eines späten Starts hat es der US-amerikanische Sportartikelhersteller nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen in der Frühphase geschafft, die Konkurrenz in der Folgezeit weit hinter sich zu lassen. Wie es dazu kam? Wir haben uns mit dem Markenidentitäts-Berater Christopher Spall auf die Suche nach dem Erfolgsgeheimnis der Marke mit dem Swoosh gemacht.

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Christopher Spall

FASHION TODAY: Im Gegensatz zu Mitbewerbern wie adidas, PUMA oder auch asics hat Nike zwar eine deutlich kürzere Geschichte, konnte aber von Anfang an massive Erfolge verbuchen. Vorsprung durch Produkt, cleveres Marketing oder beides?
Christopher Spall: „Das ist eine spannende Frage. Meiner Meinung nach liegt das Erfolgsgeheimnis von Nike darin, dass sie im Gegensatz zu ihren Konkurrenten weniger das Produkt als vielmehr den Athleten in den Mittelpunkt stellen. adidas setzt seit jeher stark auf Produktinnovation. Nike hingegen fragt, was der Athlet braucht und wie man ihn wertschätzen kann. Ich glaube, dass sich Konsumenten mehr mit Athleten als mit Schuhen identifizieren können, und das ist vermutlich das Erfolgsrezept von Nike.“

Ist die Fokussierung auf das Individuum eine typisch amerikanische Herangehensweise?
„Einerseits ist es wahrscheinlich ein landeskulturelles Phänomen, denn Amerikaner scheinen das Marketing-Gen mit der Muttermilch aufzusaugen. Andererseits ist es aber auch eine Haltungsfrage, ob ich mich mehr mit dem Produkt oder dem Athleten beschäftige. Nike hat das letzte Jahr mit einem Umsatz von 47 Milliarden Dollar abgeschlossen, etwa doppelt so viel wie adidas. Meiner Meinung nach ist dieser Erfolg darauf zurückzuführen, dass das Unternehmen seit seiner Gründung im Jahr 1964 in den entscheidenden Momenten Haltung gezeigt hat. Die zentrale Botschaft lautet: ‚Wir verehren Athleten‘. Und ein Athlet ist nach Nike-Definition nicht nur der Spitzensportler, sondern ‚anybody who has a body‘. Mit einer Markenidentität, die auf diesem breiten Verständnis von Athletentum basiert, spricht Nike natürlich mehr Menschen an.“

Welche Rolle spielte es bei der Nike-Markenbildung in den 1960er-Jahren, das New Kid on the Block zu sein?
„Ich glaube, jede Marke hat eine bestimmte Rolle im Markt. Audi, um nur ein Beispiel zu nennen, galt jahrelang als der ‚Vorsprung durch Technik‘-Pionier, der Schöpfer. Nike kam mit der Rolle des Siegers auf den Markt. Willst du ein Sieger sein, musst du Nike tragen. Nicht umsonst wurde das Unternehmen nach der griechischen Siegesgöttin benannt. Bei adidas und PUMA stand das Team im Vordergrund, während Nike den Sieg des Einzelnen proklamierte. Das war ein revolutionärer und hochprogressiver Ansatz, der letztlich bis heute für einen hohen Identifikationsgrad bei vielen Individualsportlern sorgt. Hinzu kam die starke Bindung an die Athleten. 1972 ging Nike mit dem rumänischen Tennisspieler Ilie Năstase die erste Partnerschaft eines Sportartikelherstellers mit einem Sportler überhaupt ein und nur zwei Jahre später folgte die Kooperation mit dem Ausnahmeläufer Steve Prefontaine. Im Grunde waren dies die Blaupausen für viele Partnerschaften mit Athleten in den folgenden 50 Jahren. Hervorzuheben ist hierbei sicherlich die Zusammenarbeit mit dem Basketballstar Michael Jordan, die die Marke bis heute nachhaltig prägt. Das war im Grunde die Revolution. Von da an hat Nike über diese Athleten eine extrem starke Markenbindung und -identifikation geschaffen und aufgebaut.“

‚An athlet is anybody who has a body‘

Diese Bindung machte sich in späteren Jahren dann ja nicht nur im Sport-, sondern auch im Lifestylebereich bemerkbar …
„Ja, das ist richtig. Die Marke hat sich immer mehr geöffnet. Aber erinnern Sie sich an die Nike-Definition des Athleten ‚An athlet is anybody who has a body‘. Das heißt, die Marke war an sich schon immer offen für jeden. Man muss keinen Marathon absolvieren, um ein Athlet zu sein. Das sorgt dafür, dass sich auch Leute mit der Marke identifizieren, die sich selbst nicht als Athlet sehen würden und die vielleicht auch nicht wie ein Athlet aussehen oder sich wie ein Athlet fühlen. Die Marke war extrem offen für jedermann und das hat natürlich auch für Identifikation außerhalb der Sportwelt gesorgt.“

Was sind für Sie die wichtigen Meilensteine in der Geschichte von Nike?
„Neben dem bereits erwähnten ersten Athletensponsoring wären das für mich die Einführung der ersten Nike-Air-Sohle 1978 als wichtige Produktinnovation, die Partnerschaft mit dem damals noch absoluten Basketball-Nobody Michael Jordan 1984 und der Start der ‚Just do it!‘-Kampagne im Jahr 1988.“

Lässt sich über die Jahrzehnte eine grundsätzliche Stringenz in der Ausrichtung von Nike erkennen oder gab es Brüche?
„Es gibt Elemente, die für Identifikation sorgen. In der Markenführung nennen wir sie selbstähnliche Bausteine. Einer der selbstähnlichen Identifikationsbausteine bei Nike ist sicherlich die starke Bindung an Athleten. Ein weiterer ist das konsequente Zeigen von Haltung. Sie erinnern sich vielleicht an den berühmten Nike-Werbespot mit Colin Kaepernickaus dem Jahr 2016, in dem der NFL-Footballer mit einem Kniefall gegen Polizeigewalt demonstrierte. Der Werbespot ging in die Geschichte ein, war aber zu seiner Zeit äußerst umstritten. Sogar der damalige US-amerikanische Präsident Trump griff das Unternehmen dafür auf Twitter an. Für Nike vermutlich das Beste, was passieren konnte.

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Die Marke hat stets Haltung bewiesen und sich auch immer für Benachteiligte eingesetzt und das ist ihr dritter selbstähnlicher Baustein. Baustein Nummer vier ist der Swoosh, der seit 1964 konsequent und unverändert verwendet wird. Wie viele Marken haben allein in den letzten fünf Jahren an ihrem Logo herumgeschraubt, um irgendwie cooler oder trendiger zu sein? Nike hat das nie getan und warum? Weil Nike weiß, dass Durchhaltevermögen in der Markenführung viel wichtiger ist als Kreativität. Und genau diese Beharrlichkeit zeigt Nike in der Markenidentität und auch im Markenstil. Neben dem Swoosh ist hier vor allem der ‚Just do it!‘-Claim von 1988 zu nennen, einer der erfolgreichsten Markenclaims überhaupt. Mit 36 Jahren ‚Just do it!‘ beweist die Marke auch hier eine Beständigkeit, auf die sich die Kunden verlassen können und die Vertrauen schafft. Wie oft hat adidas in den letzten 36 Jahren seinen Markenclaim geändert? Ich kann es Ihnen gar nicht genau sagen. ‚Impossible is nothing‘ war vermutlich der eingängigste, aber ich würde so weit gehen zu sagen, dass 95 Prozent der Menschen den aktuellen adidas-Markenclaim nicht kennen. Nike hingegen zieht seit 36 Jahren ‚Just do it!‘ als Markenclaim erfolgreich durch. Was lehrt uns das? Der Erfolg einer Marke hat weniger mit einem Werbespot oder einem Athleten zu tun, sondern eher mit konsequentem Markenmanagement.“

Nike bekam in seiner Geschichte immer wieder Gegenwind, darunter auch den Vorwurf, von Kinderarbeit zu profitieren. Auf die Verkaufszahlen hat sich das aber nie wirklich ausgewirkt. Warum nicht?
„Das ist ein Phänomen, das wir bei vielen starken Marken beobachten können. Starke Marken sind keine zarten Pflänzchen, sie ähneln eher einer deutschen Eiche, die nicht gleich beim ersten Gegenwind bricht. Eine starke Marke kann Negativschlagzeilen leichter wegstecken, weil sie von dem Vertrauen profitiert, das sie sich über Jahrzehnte aufgebaut hat. Ein interessantes Beispiel ist Mercedes-Benz. Als vor etwa 25 Jahren die A-Klasse beim Elchtest umkippte, stand die Frage im Raum, ob dies das Ende der Marke Mercedes-Benz bedeuten würde. Schließlich kann man Autoherstellern, deren Autos umkippen, nicht wirklich trauen. Wer denkt anno 2024 noch an dieses Unglück? Die Marke steht heute wieder an der Spitze der Premium-Automobilhersteller. Vielleicht kann man eine starke Marke mit einem Akku vergleichen. Ist er geladen, kann die Marke Energie in Form von Kundenbindung, Vertrauen, Loyalität und auch Verzeihung daraus ziehen. Neue Marken mit einem Akkustand von null haben es ungleich schwerer.“

„Meine Empfehlung an Nike: Weiterhin konkrete Haltung zu gesellschaftlichen Themen zeigen!“

Nike ist bekannt für seine mitunter aggressive Werbung. Gleichzeitig ist das Unternehmen nach innen sehr verschlossen …
„Sie sprechen da gleich zwei Themenkomplexe an. Als progressive Marke sorgt Nike auch in seiner Werbung für einen hohen Grad an Polarisierung. Das bedeutet auch, dass es immer einen Anteil von Personen gibt, die sich sehr stark mit der Marke identifizieren, und einen Anteil, der die Marke eher ablehnt. Aus Sicht der Markenführung ist dies wünschenswerter, als wenn sich alle ein wenig mit der Marke identifizieren. Beim Schuhkauf kommt es darauf an, wie stark sich mit der Marke identifiziert wird. Bei einer starken Identifikation ist man nicht nur bereit, mehr für das Produkt zu bezahlen, sondern drückt bei einem Produktfehler auch mal beide Augen zu. Der starke progressive Ansatz beim Markenauftritt von Nike sorgt für eine höhere Polarisierung und damit auch für höhere Attraktivität und Bindung an die Marke. Und das ist sicherlich ein großes Differenzierungsmerkmal zum fränkischen Konkurrenten adidas. Was die Verschlossenheit angeht, so ist dies wohl repräsentativ für viele US-amerikanische Unternehmen. Bei Apple, Google oder Mars wird es nicht anders sein. Hier wird verschlossen agiert und Informationen werden nur sehr selektiv nach außen gegeben. Das schürt natürlich zum Teil auch den Mythos der Marke, etwa wenn man sich die Zeremonien bei Apple im Rahmen von Produktneuvorstellungen anschaut. Das sind fast schon Gottesdienste.“

Aktuell hat das Unternehmen mit Umsatzrückgängen zu kämpfen, während neue Marken durchstarten. Woran liegt das Ihrer Meinung nach? Sehen wir den Anfang vom Ende des Mythos Nike?
„Die Marke Nike ist seit 1964, also seit 60 Jahren auf dem Markt, die Marke Nike Air existiert seit 1978. Seitdem hat Nike weltweit kontinuierlich Vertrauen aufgebaut. Nike ist heute der mit Abstand größte Sportartikelhersteller mit 47 Milliarden Dollar Umsatz und ich bin mir sicher, dass das Unternehmen auch in fünf Jahren noch der größte Sportartikler der Welt sein wird. Dennoch muss sich jede Marke, auch Nike, den sogenannten Megatrends anpassen, um die hohe Bindung zu den Fans zu wahren. Das ist eine wichtige Aufgabe in einer Sportwelt, die heutzutage stark von Social Media geprägt ist. Wir sehen einen Sportartikelmarkt, der viel fragmentierter ist als noch vor 20 Jahren. Hinzu kommt, dass neue Player wie lululemon oder auch UNDER ARMOUR als die heutigen New Kids on the Block Nike in ihrem Heimatmarkt angreifen. Nike ist gut beraten, der eigenen Markenidentität treu zu bleiben und sich nicht zu sehr an die Wettbewerber anzupassen. Meine Empfehlung an Nike: Weiterhin konkrete Haltung zu gesellschaftlichen Themen zeigen! Konsumenten erwarten im Jahr 2024 von einer Marke weit mehr als funktionierende Produkte. Sie erwarten deren Engagement für gesellschaftlich relevante Themen wie Diversität. Nike genießt hier höchstes Kundenvertrauen, weil dieses Engagement längst Teil der Marken-DNA ist. Und wenn Nike dieses Feld weiterhin glaubwürdig besetzt und mit authentischen Athleten verbindet, dann bin ich mir sicher, dass der Swoosh auch in fünf bis zehn Jahren die Poleposition unter den Sportartiklern innehaben wird.“

Was können Mitbewerber von Nike lernen?
„Von Nike können wir lernen, dass es sich lohnt, Haltung zu zeigen, dass es sich lohnt, nicht nur über die eigenen Produkte nachzudenken, sondern auch über die eigene Rolle in der Gesellschaft. Von Nike können wir lernen, dass Persönlichkeiten am Ende wichtiger sind als Schuhe.“

Christopher Spall ist seit jeher auf der Suche nach dem Unverwechselbaren. Seit über zehn Jahren entwickelt der Markenexperte mit seinem Team von Spall.macht.Marke die DNA von Organisationen und Personen – darunter Weltmarktführer, Ministerien und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Darüber hinaus engagiert er sich als Mitglied des internationalen Thinktanks „The Medinge Group“ und als Geschäftsführer der Peak Performer Stiftung. Seine Erfahrungen teilt der gebürtige Unterfranke regelmäßig als Speaker, in der Fachpresse und als Buchautor. Was diese Rollen verbindet? Der Wille, Menschen und Organisationen zu befähigen, sich aus eigener Kraft weiterzuentwickeln.