Autor: Markus OessDer Begriff klingt ein bisschen akademisch, aber das ist wohl Absicht. Die Pitti Uomo präsentiert auf der kommenden Ausgabe unter der Head NEUDEUTSCH ein Sonderprojekt. Dahinter verbirgt sich ein Design-Showcase mit Kollektionen und Arbeiten von rund 20 Nachwuchsdesignern, die ihr kreatives Zuhause in Deutschland haben. Der Begriff NEUDEUTSCH bezieht sich eigentlich auf die ständige Transformation und Weiterentwicklung der deutschen Sprache durch verschiedene interkulturelle Einflüsse und Ausdrucksformen. Die Design-Installation greift die Idee von NEUDEUTSCH als symbolischem Narrativ der sich ständig weiterentwickelnden deutschen Design-Ästhetik auf, die von vielfältigen kulturellen Ursprüngen geprägt wird. Wir haben mit Julian Daynov über seine Wahlheimat Berlin und deutsches Design gesprochen und nach den Hintergründen des Projektes gefragt.
FT: Julian, du liebst Berlin, sagst du. Was macht die Stadt so besonders?
Julian Daynov: „Berlin is the new New York. Ich liebe den Vibe und die Attitüde der Stadt, die vielen Gesichter der City, die imposante und vielfältige Architektur, die einzigartige organische Koexistenz von High Culture und allen möglichen Subkulturen, die vielen Seen im Sommer, die Clubbing-Szene, die Offenheit und liberale Haltung zum Anderssein, das schnelle Connecten zu Communitys, aber auch die Anonymität, wenn man sie gerade mal braucht, die Art World und jede Menge mehr. Ich fühle mich sehr glücklich hier und bereue es nicht, New York und London für Berlin verlassen zu haben.“
Der ganz große Hype um Berlin scheint vorbei, bist du happy damit, weil jetzt wieder Zeit und Raum fürs „normale“ Großstadtleben und Subkultur da sind?
„Für mich ist der Hype um Berlin noch längst nicht vorbei – er macht sich sogar in anderen Metropolen breit und findet dort viele Anhänger und ist somit der eigentliche Ursprung für diverse Styles, kulturelle Einflüsse und visuelle Codes.
Ich glaube, man konnte in Berlin schon immer ein ‚normales‘ Großstadtleben führen, und genau das fasziniert mich daran – die Stadt bietet Raum und Freiheit für alle, ihr Leben und ihren Lifestyle so zu leben, wie sie es für richtig halten, und das Beste daran ist, dass man dafür nicht verurteilt wird. Anderssein, Vielfalt und Subkultur sind Teil des Stadtbildes, genauso wie die Siegessäule und das Brandenburger Tor.“
Wenn du wählen könntest: ein Wochenende im Berlin der verbleibenden 2020er oder im Berlin des Jahres 2050?
„Ich glaube, dass ich noch viele Wochenenden der kommenden 2020er und der 2050er in Berlin verbringen werde – zumindest zieht es mich momentan nirgendwo stärker hin. Aber ein Weekend Trip ins mittelalterliche Berlin wäre sicher eine unvergleichbare Erfahrung.“
„Viele Kreative starten ihre Journey von Berlin aus, aber genauso viele auch von woanders in Deutschland. Wie jede Weltstadt hat auch Berlin eine ganz besondere Rolle und eine magische Anziehungskraft.“
„Vorsprung durch Technik“ war mal ein Slogan von Audi. Können Deutsche nur Ingenieurskunst oder ist dann doch mehr Porsche angesagt? Der 911er ist ja schon eine echte Design-Ikone.
„Optimal ist für mich die Verbindung von technischer Perfektion, bestmöglicher Funktionalität und aufregendem Design, jedoch verändert sich die Wertevorstellung von Perfektion mit der Zeit – heutzutage spielen Attribute wie Nachhaltigkeit und soziale Kompatibilität entscheidende Rollen, wenn es darum geht, Perfektion zu definieren und neu zu bewerten. Die ‚Heritage‘ der deutschen Design-Kultur mag schon ihren Ursprung eher im funktionalen und pragmatischen Ansatz haben, aber auch das verändert sich stark mit der Zeit – es wächst eine neue Design-Generation heran, die ‚heimisches‘ technologisches und ingenieurwissenschaftliches Erbe um weitere Dimensionen anreichert, denen in der Vergangenheit etwa viel weniger Bedeutung zugeschrieben wurde. Das Credo ‚Form follows function‘ ist in der heutigen Zeit nicht immer ausschlaggebend für den Erfolg eines Designs und die Unternehmen, Plattformen, Marken oder auch Märkte, die es nicht einsehen, riskieren, ihre Relevanz und letztendlich auch Existenz zu verlieren. Vorsprung durch Technik ist toll, aber Freude und Begehrlichkeit durch Ästhetik und Gefallen sind nicht weniger wichtig.“
Ist Berlin auch Hauptstadt der Kulturen im weitesten Sinne oder kommen auch andere kulturelle Zentren zum Zuge? Wenn ich es richtig verstehe, nimmt Berlin diesbezüglich eine Sonderrolle ein.
„Berlin beheimatet viele Kreative und bietet allen Raum für Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung und sehr viel Inspiration und diverse Vernetzungsmöglichkeiten, aber auch viele andere Städte haben eine lebhafte Art and Design Community. Berlin wird immer als Beispiel genannt, weil Design- und Kunstszene Teil des Stadtbildes sind und mittlerweile auch auf internationalem Niveau Anerkennung genießen. Viele Kreative starten ihre Journey von Berlin aus, aber genauso viele auch von woanders in Deutschland. Wie jede Weltstadt hat auch Berlin eine ganz besondere Rolle und eine magische Anziehungskraft für Kreative, die mehr als nur einen Ort zum Schaffen hier finden – sie treffen auf Offenheit, Inspiration und coole Crowd für ihre Kunst.“
Kam die Pitti auf dich zu oder haben sich zwei mit dem gleichen Gedanken getroffen? Wie hast du die Designerinnen und Designer ausgesucht, was war dir besonders wichtig?
„Ich fühle mich sehr geehrt, dass die größte und bedeutendste Plattform für Menswear Fashion und Lifestyle meine Arbeit seit Jahren verfolgt und in mir einen Partner gesehen hat, dem die NEUDEUTSCHE Design-Ästhetik ein Begriff ist, sie seit Jahren begleitet, die Szene gut kennt und auch noch einen ‚Commercial Background‘ abdeckt, der dem ganzen Format Relevanz und schlussendlich auch Business für die einzelnen Brands generieren kann.
In meiner Rolle als Einkäufer, Brand Scout und Fashion Director besuche ich Trade Shows und speziell die Pitti Uomo bereits seit fast zwanzig Jahren regelmäßig und kenne die entscheidenden Mechanismen, auf die es ankommt, wenn man durch Designs stöbert – natürlich ist Design entscheidend, das Produkt selbst, die Qualität, die Coolness der Marke, das Image. Aber der ökonomische Faktor Verkaufbarkeit bestimmt mehr und mehr die Portfolios und Produktvielfalt im Retail, vor allem bei den größeren Playern. Mich sprechen in erster Linie das Design und die Lifestyle-Welt eines Produktes an, aber ob sich dieses auch gut vermarkten und letztendlich verkaufen lässt, ist viel entscheidender für die Rolle als Einkäufer – Retailer wollen nicht nur unbedingt inspirieren und neue Designer vorstellen, vielmehr wollen sie verkaufen und kommerziell erfolgreiche Produkte führen.
Bei meiner Selektion für NEUDEUTSCH ist mir auch diese Perspektive sehr wichtig gewesen – Brands und Designs zu zeigen, die eine Erfolgsstory im Retail schreiben können und Unterstützung eher bei der Start-up Exposure brauchen als im Design und Produkt selbst. Ich selbst liebe konzeptionelles und sehr außergewöhnliches Design, allerdings weiß ich aber auch, dass, wenn man keine kommerziellen Erfolge feiert, man ganz schnell aus dem Markt verdrängt wird.“
Es wird nicht nur Mode zu sehen sein, sondern auch Kosmetik, Living und anderes. Warum diese Breite an Themen?
„Für mich hört Fashion nicht unbedingt bei Kleidung auf – wenn man sich für Mode interessiert, hat man zwangsläufig auch ein Faible für gutes Design auch in anderen Bereichen im Daily Life: Interior, Kunst, Beauty, Architektur – all diese Lifestyle Fields, von denen wir tagtäglich umgeben sind, bilden den Rahmen für die Namen und Designs für NEUDEUTSCH im Januar. Menschen wollen gerne in harmonische Welten eintauchen – wer sich gut anziehen mag, findet es auch spannend, neues Design zu entdecken, von schönen Sachen umgeben zu sein, einzigartige Düfte zu tragen, auf schöne Beauty-Produkte im Badezimmer zu schauen … Das Team von Pitti Uomo sieht es ähnlich und fand meine Idee, das Profil der präsentierten Designer etwas zu öffnen, sehr zeitgemäß.“
Was wird die Besucher in Florenz erwarten, wie wird das Sonderprojekt konkret umgesetzt?
„Wir werden in der Sala delle Nazioni – der Contemporary Hall der Trade Show – eine NEUDEUTSCH-Design-Area erschaffen, die ähnlich wie ein Concept Store aufgebaut ist, Elemente einer Galerie hat, einem Showroom und Studio ähnelt. Besucherinnen und Besucher sowie Buyers haben somit die Möglichkeit, die Designs der ausgestellten Brands aus der Nähe zu entdecken, anzuprobieren, mehr über die Creatives zu erfahren, sich mit ihnen zu unterhalten, Ideen auszutauschen und sich zu vernetzen. Wir werden einen Mikrokosmos kreieren, in den man sich gerne während der Messe begibt, wo man Neues entdeckt und worin man gerne verweilt.“
Sonderprojekt
Als Einkäufer, Fashion Director, Unternehmensberater und Brand Scout unterstützt Julian Daynov internationale Modemarken und Global Player im Einzelhandel bei der Auswahl ihrer Designer-Portfolios vielversprechender Newcomer-Labels aus der ganzen Welt. Er arbeitet mit verschiedenen Marken der Lifestyle-Branche, mit Beratungsunternehmen sowie kreativen Communitys zusammen und fokussiert sich vor allem auf Kooperationsmarketing und innovative Kommunikationsstrategien. Julians Spezialgebiet sind die Neupositionierung und Neuerfindung von Marken, Strategie-Entwicklung und Adaptierung der Produktpaletten und der Brand-Tonalität an aktuelle Trends und das künftige Konsumentenverhalten. Von Berlin aus leitet er sein eigenes Büro für Markenstrategie. Als Dozent unterrichtet er überdies Mode- und Brandmarketing.
Julian hat NEUDEUTSCH, Sonderprojekt der Pitti Uomo, auf ihrer nächsten Ausgabe (9. bis 12. Januar 2024 in Florenz) kuratiert. Dahinter verbirgt sich ein Design-Showcase mit Kollektionen und Arbeiten von rund 20 Nachwuchsdesignern, die ihr kreatives Zuhause in Deutschland haben. Der Begriff NEUDEUTSCH bezieht sich eigentlich auf die ständige Transformation und Weiterentwicklung der deutschen Sprache durch verschiedene interkulturelle Einflüsse und Ausdrucksformen. Die Design-Installation, die in der Sala delle Nazioni stattfinden wird, greift die Idee von NEUDEUTSCH als symbolisches Narrativ der sich ständig weiterentwickelnden deutschen Design-Ästhetik auf, die von vielfältigen kulturellen Ursprüngen geprägt wird und die neue deutsche kreative Community bewegt und maßgeblich in ihrer Arbeit beeinflusst und definiert.
NEUDEUTSCH präsentiert unter anderem ACCEPTANCE LETTER STUDIO, AVENIR, BUDDE, EQUALITY PERFUMES, FRNKOW, HADERLUMP, HERNÁN, INTERNATIONAL CITIZEN, j’ai mal à la tête, MARKE, MUTI, NOAM, NEW TENDENCY, OBS, oftt, SARAH ILLENBERGER, SEBASTIAN HERKNER.