Autor: Markus OessDie deutsche Wirtschaft hat mit dem dualen System ein Ausbildungssystem in der Hand, das Jahrzehnte gut funktionierte – bis das Angebot größer wurde als die Nachfrage. Der Markt hat sich längst gedreht. Gute Lehrlinge zu bekommen ist inzwischen eine der zentralen Herausforderungen für den Standort Deutschland geworden und die Situation entspannt sich nicht.
Die Zahl der neuen Ausbildungsverträge ist im Jahr 2022 auf einem historisch niedrigen Niveau geblieben, meldete das Statistische Bundesamt im zurückliegenden August. Keine guten Nachrichten, denn die Auszubildenden bilden das künftige Fundament des Fachkräfteangebots in der Republik. Insgesamt wurden 469 900 neue Ausbildungsverträge in der dualen Berufsausbildung abgeschlossen. Damit war die Zahl der Neuverträge zwar um 0,8 Prozent höher als 2021. Sie blieb jedoch 8 Prozent hinter dem Ergebnis des Vor-Corona-Jahres 2019 zurück, als mehr als 500 000 Neuverträge verzeichnet worden waren. Bereits zuvor war die Zahl der Neuabschlüsse stetig gesunken; 2012 hatte sie noch bei 544 400 gelegen.
Die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage wird größer
Insgesamt befanden sich Ende 2022 deutschlandweit 1 216 300 Menschen in einer dualen Berufsausbildung, das waren 3 Prozent weniger als ein Jahr zuvor. Damit setzte sich der Trend langfristig sinkender Auszubildendenzahlen fort. Dass die Zahl der Neuverträge 2021 nach dem Einbruch im ersten Pandemiejahr zunächst angestiegen war (+0,6 Prozent gegenüber 2020), wirkt sich bisher nicht auf die Gesamtzahl der Auszubildenden aus, da die Prüfungen und Vertragslösungen die Neuabschlüsse in der Zahl noch übersteigen. Über drei Viertel (77 Prozent) der bestandenen Abschlussprüfungen – und damit abgeschlossenen Ausbildungen – wurden von Auszubildenden absolviert, die ihre Ausbildung 2019 oder früher begonnen hatten.
Sinkende Bewerberzahlen
Die Rangfolge der am häufigsten gewählten Ausbildungsberufe veränderte sich 2022 kaum: Die meisten Neuabschlüsse waren im Beruf Kaufmann/-frau im Einzelhandel (22 800) zu verzeichnen, gefolgt von den Kaufleuten für Büromanagement (22 500), Kraftfahrzeugmechatroniker/-innen (20 700), Verkäufer/-innen (20 600) und Fachinformatiker/-innen (17 600). Auch 2022 entfiel gut ein Fünftel (22 Prozent) aller Neuverträge auf diese fünf Ausbildungen.
Auch die Wirtschaft selbst ist mit Erhebungen unterwegs, um die aktuelle Lage zu analysieren. So hat der DIHK im Mai 2023 Unternehmen zu ihren Ausbildungserfahrungen befragt. Auch hier kamen alarmierende Zahlen heraus. Fast jeder zweite IHK-Ausbildungsbetrieb konnte nicht alle Ausbildungsplätze besetzen. Die Anzahl der gemeldeten Ausbildungsangebote übersteigt die der nachfragenden Jugendlichen deutlich. 37 Prozent der IHK-Ausbildungsbetriebe, die nicht alle Ausbildungsstellen vergeben konnten, haben nicht einmal eine Bewerbung erhalten. Dies bedeutet einen Anstieg auf über 30 000 Ausbildungsbetriebe – eine Steigerung um rund 11 Prozent im Vergleich zu 2022.
80 Prozent der IHK-Ausbildungsbetriebe wollen (und müssen) ihr Engagement in der beruflichen Orientierung weiter hochfahren. Die Betriebe wissen um die Bedeutung einer frühzeitigen und praxisorientierten Berufsorientierung, um ihr Ausbildungsangebot und junge Menschen zusammenzubringen. Dazu bieten 61 Prozent der Unternehmen künftig mehr Praktikumsplätze und damit praktische Einblicke in den Betriebsalltag an. Ob’s reicht? Gleichzeitig bemühen sich die Unternehmen um junge Menschen mit Startschwierigkeiten, bieten Hilfen an. Im Jahr 2019 förderten 77 Prozent der Betriebe junge Menschen mit Startschwierigkeiten und ermöglichten ihnen die Chance auf den erfolgreichen Abschluss einer Ausbildung. 2023 hat dieser Anteil auf 80 Prozent weiter zugenommen.
Neben der Tatsache, dass sich immer weniger junge Menschen für einen dualen Ausbildungsweg entscheiden, treten Generation für Generation generell weniger Menschen ins Berufsleben ein. Der Wettbewerb um die Lehrlinge verschärft sich zusehends. Um etwas Licht ins Dunkel zu bringen, hat der DIHK auch diejenigen befragt, um die es aktuell geht: die GenZ. Die Online-Umfrage „Erwartungen der GenZ an Ausbildungsbetriebe“, durchgeführt von dem Düsseldorfer Marktforschungsinstitut INNOFACT, zeigt: Für vier von fünf der befragten 15- bis 25-Jährigen sind die Verdienstmöglichkeiten besonders wichtig (81 Prozent). Auch die Aussicht auf eine gute Work-Life-Balance (74 Prozent) und abwechslungsreiche Tätigkeiten (71 Prozent) empfinden viele junge Menschen als attraktiv. Das Image oder der gesellschaftliche Sinn und Zweck des Berufs sind demgegenüber nur für rund die Hälfte der Befragten wichtig bis sehr wichtig (je 55 Prozent).
Eine Mehrheit der Umfrageteilnehmenden geht davon aus, dass ein Studium mit besseren Verdienstmöglichkeiten verbunden ist als eine Ausbildung. Hingegen sehen mehr als zwei Drittel in einer Ausbildung im Vergleich zum Studium eine gleiche oder bessere Aussicht auf eine gute Work-Life-Balance. Drei von vier Befragten erwarten außerdem von einer Ausbildung gleiche oder sogar bessere Chancen auf abwechslungsreiche Tätigkeiten als bei einer Hochschullaufbahn und einen hohen gesellschaftlichen Sinn des späteren Berufs. Ausbildung ist für junge Menschen fast immer eine Option: Nur 9 Prozent derjenigen, die zum Befragungszeitpunkt noch keine Berufsausbildung begonnen hatten, können sich diesen Bildungsweg überhaupt nicht für sich vorstellen.
Was überzeugt die junge Generation am stärksten davon, sich auf einen Ausbildungsplatz zu bewerben? Am wichtigsten sind den Befragten eine Übernahmeperspektive und das Gefühl, dass das Unternehmen junge Menschen versteht. Die Erhebung zeigt aber auch, dass eine Vereinfachung des Bewerbungsprozesses für Betriebe eine niederschwellige Möglichkeit darstellt, mehr Bewerbungen zu erhalten. Und: Empathie schlägt Expertise. Denn Wertschätzung, Lob oder auch die Bereitschaft für Veränderung ihrer Vorgesetzten sind den Befragten laut Umfrage wichtiger als eine hohe fachliche Kompetenz der Führungskräfte.
Faktor GenZ
©Erwartungen der GenZ an Ausbildungsbetriebe, eine Umfrage des Wirtschaftsjunioren Deutschland e.V.