Autorin: Eva WesthoffIm März hat DIOR seine Ready-to-wear-Pre-Fall-Kollektion 2023 in Mumbai präsentiert, vor der Kulisse des historischen steinernen Triumphbogens Gateway of India. Zu sehen gab es bunte Farben, prachtvolle Stoffe, wunderschöne Stickereien, ebenso Boleros, lockere Hosen und Kleider im Sari-Stil – gefeiert wurde die Handwerkskunst des Landes. Und das nicht nur, weil Kreativchefin Maria Grazia Chiuri eine langjährige Freundschaft mit Karishma Swali, der künstlerischen Leiterin der Chanakya School of Craft, verbindet. Die traditionsreiche Handwerksschule hat für die Kollektion mit DIOR kooperiert. Dechiffrieren ließ sich das Gesehene auch als Hommage an Marc Bohan. Als DIOR-Chefdesigner war dieser bereits 1962 nach Indien gereist, um sich von der Kultur des Landes inspirieren zu lassen.
Kultur ist das eine, Business das andere: In ihrem „German Indian Business Outlook 2023“ legt die KPMG die sichtbar gestiegene Bedeutung von Indien als Investitionsstandort dar. Die drei wichtigsten Standortfaktoren seien politische Stabilität, Verfügbarkeit von Fachkräften und relativ niedrige Lohnkosten. Tatsache ist: In der Mode- und Textilindustrie ist Indien nicht nur ein wichtiger Beschaffungsmarkt und nach China der zweitgrößte Exporteur von Textilien und Bekleidung – laut statista lag der Exportwert im Jahr 2021 bei mehr als 22,2 Milliarden US-Dollar. Wie der vierte All India Handloom Census (2019/20) ergeben hat, belief sich zum Erhebungszeitpunkt die Zahl der Haushalte, die in der Handweberei tätig sind oder damit verwandte Tätigkeiten ausüben, landesweit auf 3,145 Millionen. Es werde geschätzt, dass Indien 95 Prozent der weltweiten handgewebten Stoffe herstellt, heißt es seitens Invest India, der Nationalen Agentur für Investitionsförderung und -erleichterung. Der Anteil von Textilien, Bekleidung und Kunsthandwerk an Indiens Gesamtexporten habe 2020/21 11,4 Prozent betragen, so Invest India.
Natürlich ist es Folklore anzunehmen, dass die Traditionspflege dieser Handweber durchweg geachtet und fair honoriert wird. Dem vierten All India Handloom Census zufolge verdiente die Mehrheit (66,3 Prozent) der Weberhaushalte zum Erhebungszeitpunkt weniger als 5.000 Indische Rupien pro Monat. Nach einer Hochrechnung von GTAI auf der Basis von Daten des Informationsanbieters Trading Economics soll 2022 der durchschnittliche Bruttomonatslohn in Indien umgerechnet bei etwa 11.369 Indischen Rupien gelegen haben, das entspricht 137 US-Dollar. Den existenzsichernden Lohn verortete die Asia Floor Wage Alliance für dasselbe Jahr bei 33.920 Indischen Rupien.
Verschiebt man den Blick von den Produzenten auf die Konsumenten, stellt sich die Frage: Wie ist es eigentlich im Produktionsland selbst um den Bedarf an Produkten aus traditioneller Handweberei bestellt? Oder, ein bisschen weniger eng geführt: Welche Rolle spielt die sogenannte Ethnic Wear, spielen Sari, Kurta, Sherwani und Co im indischen Alltag – wenn diese Verallgemeinerung im bevölkerungsreichsten Land der Erde überhaupt zulässig ist? Angesichts des Kastensystems, der verschiedenen Religionen und der großen regionalen wie sozialen Unterschiede prallen hier immer noch Welten aufeinander. Und wie verhält es sich mit überkommenen, vielfach religiös motivierten Bekleidungsvorschriften? „Die Männer der neuen indischen Mittelschicht tragen Anzug. Die Kurta, das traditionelle Hemdkleid, holen sie nur noch für Familienfeste aus dem Schrank“, stellte der SPIEGEL bereits vor knapp 20 Jahren angesichts der damals fünften Auflage der Lakmé India Fashion Week fest. Ein auf der Modewoche gezeigtes Outfit von Manish Arora, einst internationaler Durchstarter, betrachtet der SPIEGEL anno 2004 als Beleg, dass „das junge Indien mit den alten Traditionen gebrochen“ habe. Wirklich?
Sagen lässt sich: Spätestens seit Beginn der Wirtschaftsliberalisierung in den frühen 1990er-Jahren schaut auch Indien gerne mal nach Westen. Das gilt erst recht in einer globalisierten (Social-Media-)Welt. Doch nicht nur geografische Grenzen wurden und werden niedergerissen – unlängst bis zum Mond. Geradezu spielerisch überwindet man auch die Realitätsebenen: Bollywood ist schon lange und noch immer Sehnsuchtsort für Millionen und beeinflusst natürlich auch die Mode. Mehr noch: Von Sabyasachi Mukherjee über Anamika Khanna bis Neeta Lulla – viele bekannte indische Designer haben sich nicht zuletzt als Kostümbildner einen Namen gemacht.
Bringing the world to Bollywood
Also doch indische Tradition, wenn auch säkularisierter als vielleicht vermutet? Nun, es kommt auf die Perspektive an: Bollywood-Star Deepika Padukone moderierte in diesem Jahr bei den Oscars – und tat dies in LOUIS VUITTON und Cartier. Sie saß bereits in der Jury von Cannes. Im Mai schmückte sie das Cover des TIME Magazines. „The global star. Deepika Padukone is bringing the world to Bollywood“, titelte dieses. Zudem ist die 37-Jährige Teil der Kampagne von LEVI’S anlässlich des 150-jährigen Jubiläums der 501. Ihr Ehemann Ranveer Singh, der ebenfalls zur ersten Bollywood-Riege zählt, fungiert als Markenbotschafter von adidas ORIGINALS. Zugleich war Singh „Showstopper“ der Bridal Couture Show 2023/24 von Manish Malhotra. Der wiederum ist nicht nur einer der bekanntesten indischen Designer – auch er ist eine feste Größe in Bollywood. Bringing the world to Bollywood means bringing the worlds together.
Noch mal zurück zur Bridal Show: Dass traditionelle Kleidung bei festlichen Anlässen und gerade bei hinduistischen Hochzeiten noch immer die erste Geige, pardon Tabla spielt, steht außer Frage. Das geflügelte Wort von der „Big Fat Indian Wedding“ hat nach wie vor seine Berechtigung. Das wird nicht zuletzt daran deutlich, dass viele indische Designhäuser regelmäßig eigene Bridal-Kollektionen lancieren, und dies nicht nur im Sinne kleiner Kapseln. Bei den Fashionshows laufen die Brautmoden der (Haute) Couture im weiteren, westlichen Sinne oft noch immer den Rang ab.
Doch wenden wir uns wieder dem zugegeben schwer zu fassenden indischen Alltag zu. „Jenseits von Bollywood. Indiens Frauen zwischen Mythos und Wirklichkeit“ – so der Titel einer SWR-Reportage, zu finden in der ARD-Mediathek. Das Team um Filmemacher Pierre Combroux hat unter anderem Modeschöpferin Anamika Khanna in ihrem Atelier getroffen. Sie hat als erste indische Designerin in Paris gezeigt, war auf der Fashion Week in London. „Auf der ganzen Welt, nicht nur in Indien, ist Mode ein Spiegel der Gesellschaft“, sagt sie. „In Indien spielt der spirituelle Aspekt dabei auf jeden Fall eine große Rolle.“ Khannas Name steht für einen eklektischen Stil, für die Reinterpretation traditioneller indischer Silhouetten wie der Dhoti-Hose – eigentlich das traditionelle Beinkleid der Männer –, die bei ihr als moderne Damenhose mit hoher Taille daherkommt und mit einer Dupatta oder einem indischen Rock getragen wird. „Man muss die besondere Situation unseres Landes sehen“, sagt Anamika Khanna, „die Verschmelzung so vieler Kulturen, Menschen, Sprachen und Fertigkeiten. Das alles vereint sich in diesem Sammelbecken.“
Shades of Saffron Orange
Gerade die Religion oder besser: die Religionen müssen in diesem „Sammelbecken“ noch immer für vieles herhalten. Knapp 80 Prozent der indischen Bevölkerung sind Hindus, mehr als 14 Prozent Muslime. Christen, Sikhs, Buddhisten und Parsen sind in der Minderheit. Die Verfassung, die sich Indien nach der Unabhängigkeit von Großbritannien gegeben hat, sollte einen säkularen multikulturellen Staat garantieren. Doch unter der seit 2014 amtierenden Regierung von Premierminister Narendra Modi sehen Kritiker den Hindu-Nationalismus auf dem Vormarsch und damit einhergehend eine Diskriminierung insbesondere der muslimischen Bevölkerung. So standen sich Anfang vergangenen Jahres im südindischen Karnataka sechs junge Hijab tragende Frauen und junge männliche Hindus mit safranorangen Schals gegenüber – ein Konflikt, der sich an einem Kopftuchverbot in Schulen und Hochschulen des Bundesstaates entzündet hatte und der lokal begann, sich dann aber schnell ausweitete. Hijab gegen Safranorange, die spirituelle Farbe, die, von Modi und seiner Partei BJP gekapert, zum politischen Statement wurde.
Auf Twitter solidarisierte sich Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai mit den jungen Musliminnen. „Die Versachlichung von Frauen besteht fort – wenn sie zu wenig und zu viel tragen“, schrieb sie. Tatsächlich muss man in Indien nicht Muslima sein, um als Frau Diskriminierung zu erfahren. Indien hat ein Problem mit Gewalt gegen Frauen. Vergewaltigungen, Misshandlungen durch den Ehemann, Massenabtreibungen weiblicher Föten, Zwangsheirat, die grausame Liste ließe sich fortführen. Und: Nicht nur das Kopftuch, auch der Sari kann so getragen werden, dass ihm eine verhüllende Funktion zukommt. In der Reportage „Jenseits von Bollywood“ wird deutlich, dass auch er nicht unpolitisch ist und, aufoktroyiert von der Familie oder Gesellschaft, der Emanzipation im Wege steht.
Stichwort „verhüllend“: Die sogenannte Modest Fashion ist auch in Indien ein wachsender Markt. Kann hier überhaupt von Mode gesprochen werden? Das Frankfurter museum angewandte kunst versuchte sich 2019 an einer Ausstellung, die sich das Thema vornahm, initiiert und erarbeitet vom Fine Arts Museums of San Francisco – und erntete harsche Kritik. So harsch, dass man sich veranlasst sah, Sicherheitsschleusen am Eingang des Museums einzurichten. Der Vorwurf: Indem verhüllende Kleidung wie der Hijab zur Mode erklärt und ohne präzise Kontextualisierung ins Museum gebracht würde, würden Frauenrechte untergraben. Attestiert wurde den Verantwortlichen mindestens eines: Naivität. Schwierig, die Interpretationshoheit für sich zu beanspruchen, wenn man sich persönlich keiner Kleiderordnung unterwerfen muss, sondern allenfalls Modetrends.