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Indien

Indien deckt die gesamte textile Wertschöpfungskette ab. ©Dave Parkinson auf Pixabay

Autor: Markus Oess
Nummer eins ist das Land schon. Die Nummer drei wird es zwangsläufig werden. Gemeint sind Indiens Bevölkerungsdichte und die Größe als Volkswirtschaft im globalen Kontext. Viele Aspekte Indiens zahlen positiv auf das weltpolitische Konto des Subkontinents ein. Leider steht unterm Strich doch kein positiver Saldo. Ganz allgemein, aber auch nicht für die Bekleidungsbranche. Oder doch? Es gibt ein Zitat.

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„Die stark wachsenden Branchen sind die Dienstleistungen, die eine noch größere Rolle spielen als die IT.“ Alex Boris ©GTAI-Illing Vossbeck Fotografie

Bollywood, IT und Mondlandung, „future market for ever“ – und dennoch sei Indien in vielen Belangen fast noch ein Agrarland, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Lukas Menkhoff vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin. Von der britischen Ökonomin Joan Robinson stammt das Zitat „Alles, was man zu Recht über das Land sagen kann – das Gegenteil ist auch wahr.“ Trotzdem ist der Status eines Agrarlandes überholt. Zwar sind immer noch die meisten Menschen in der Landwirtschaft beschäftigt und trägt diese immer noch 17 Prozent zum BIP bei. Damit ist sie sogar etwas größer als die verarbeitende Industrie mit etwa 15 Prozent, die Narendra Modi, hindunationalistischer indischer Politiker der Bharatiya Janata Party (BJP) und seit Mai 2014 amtierender Premierminister Indiens, in der dritten Legislaturperiode, also bis 2030, auf über 20 Prozent steigern will. „Nach wie vor ist Indien in den Industrien stark, die schon zu Beginn der Unabhängigkeit bedeutsam waren, vor allem die Schwerindustrie und der Maschinenbau. Aber die stark wachsenden Branchen sind die Dienstleistungen, die eine noch größere Rolle spielen als die IT“, sagt Boris Alex, Analyst bei der Außenwirtschaftsagentur des Bundes, GERMANY TRADE & INVEST (GTAI). „Zwar sprechen wir eher von Mikro-Unternehmen, aber in dem Sektor haben viele Menschen eine Arbeit gefunden, von der sie halbwegs leben können“, sagt Alex. Was den Konsummarkt angeht, ist Indien nicht so stark ausgebildet. Vieles läuft traditionell über Märkte und kleine Läden. „Lebensmittelketten, wie wir sie kennen, gibt es im Grunde nicht. Der Trend geht immer noch zu offenen Einkaufszentren. Die klassische europäische Einkaufsstraße kennen wir hier nicht. Indien ist diversifiziert und entwickelt alle Wachstumsbranchen aus, sagt der GTAI-Analyst. 

Die Armut in Indien ist immer noch ein Problem. ©Billy Cedeno auf pixabay

Indien ist immer noch ein Land, in dem der Wohlstand sehr ungerecht verteilt ist. Viele Superreiche ja, aber das ist auch der schieren Größe des Landes geschuldet. Der Mittelstand hat zugenommen. Schätzungen gehen von rund 150 Millionen Menschen aus, die sich nach westlichem Standard als solchen verstehen könnten. Angesichts von mehr als 1,4 Milliarden Menschen in dem seit April bevölkerungsreichsten Land der Welt klingt das wenig. Aber das sind immer noch mehr als die Bevölkerung der meisten westlichen Volkswirtschaften. Speck für schlechte Zeiten gibt es trotzdem nicht. Der Status ist nicht stabil, da viele Menschen keine Rücklagen bilden konnten. Fallen die Arbeit und damit das Einkommen weg, droht der Absturz in die Armut. Es gibt auch keine klassische Gesundheits- und Altersvorsorge. Zwar wurden mehr als 10 Prozent der Menschen in den vergangenen Jahren aus der Armut geholt, aber der Anteil sehr armer Menschen in Indien ist immer noch zu hoch und für viele wird es auf absehbare Zeit auch keine Verbesserung geben. Immerhin haben die Ärmsten der Armen kostenlosen Zugang zu einer sehr rudimentären ärztlichen Grundversorgung.   

„Für westliche Bekleidungsmarken ist die Landbevölkerung aufgrund des fehlenden Einkommens uninteressant. Bei anderen Konsumgütern wie Nahrungsmitteln, Wasch- und Pflegeprodukten sieht es anders aus, da spielen durchaus auch westliche Marken eine wichtige Rolle“, sagt Alex. „Indien hat aber allein zehn Städte mit mehr als fünf Millionen Einwohnern. Dazu kommen noch einmal 40 bis 50 Städte mit ein bis fünf Millionen Einwohnern und dort hat sich auch der für den Westen interessante Mittelstand etabliert. Den haben auch internationale Ketten wie H&M, INDITEX und UNIQLO für sich entdeckt. Aber auch alle großen Luxusmarken sind im Land, obwohl Luxusgüter einem besonderen Zoll unterliegen. Dazu kommen noch Einzelhandelskonzerne wie Reliance Retail Limited“, sagt Alex.  

Das Land ist die am schnellsten wachsende Demokratie in der Welt. Doch Indien, eventuell bald schon Bahrat, gilt als korrupt. ©yogendras31 auf pixabay

Für die deutsche Bekleidungsindustrie ist Indien allerdings als Produktionsland und Lieferant weit wichtiger. So taucht das Land zwar im Ranking der Importe an fünfter Stelle auf, doch bei den Exporten rangiert es unter ferner liefen (Rang 55). „Indien hat eine starke Textilindustrie und ist einer der großen internationalen Player. Das Problem ist nur, dass es sehr schwer ist, den informellen Sektor richtig einzuschätzen. Es gibt schlicht keine Daten. Auch was die Einhaltung von Arbeitnehmerrechten und Umweltfragen angeht, ist keine Kontrolle im Gegensatz zum formellen Sektor, wo die Firmen dem Handlungsdruck ihrer internationalen Auftraggeber ausgesetzt sind, möglich. Allerdings ist die Abhängigkeit Indiens im Vergleich zu Bangladesch, wo 90 Prozent der Exporte fertige Textilien sind, weniger ausgeprägt. Indien deckt die gesamte Wertschöpfungskette ab, von der Baumwolle zur Faser bis hin zum fertigen Produkt. Die Textilindustrie steuert nur etwa 2 Prozent zum BIP bei“, schätzt Boris Alex. Indien ist auch unter den größten Baumwolllieferanten in der Welt. Bei der Bio-Baumwolle ist die Bedeutung mit 50 Prozent Marktanteil am Weltmarkt noch deutlich größer. „Richtig ist aber auch, dass es strukturell bedingt kaum nachvollziehbare Kontrollen gibt, ob die Bio-Kriterien wirklich eingehalten wurden oder nicht“, so Alex. 

Firmen wie EDUARD DRESSLER meiden das riesige Land, und zwar, was Produktion und Verkauf angeht, gleichermaßen. Die Prioritäten sind schlicht andere: „Wir produzieren die EDUARD-DRESSLER-Kollektion ausschließlich in europäischen Ländern und legen Wert auf respektvolle und faire Partnerschaften mit unseren europäischen Produktionsstätten. Um unseren ökologischen Fußabdruck so klein wie möglich zu halten, sind uns ein bewusster Umgang mit Ressourcen und die Anwendung umweltfreundlicher, zukunftsfähiger Standards in allen Phasen der Produktion sehr wichtig“, heißt es dazu aus Großostheim.

“Seit mehr als einem Jahrzehnt gehört Indien als einer der wichtigsten Vollimportpartner mit Schwerpunkt Polos zur bugatti GmbH.” Markus Brinkmann, GF bugatti Holding Brinkmann

Wohingegen von der Muttergesellschaft in Herford anderes zu hören ist. Markus Brinkmann, bugatti-Geschäftsführer: „Seit mehr als einem Jahrzehnt gehört Indien als einer der wichtigsten Vollimportpartner mit Schwerpunkt Polos zur bugatti GmbH. Der prozentuale Anteil beläuft sich jährlich auf knapp 30 Prozent im Verhältnis zum Gesamtvolumen, wobei auch immer stärker konfektionierte Oberteile aus Wirkware mit Nylon eine Rolle spielen.“ Brinkmannn hat gute Erfahrungen mit seinen Partnerbetrieben und dem Land auf wirtschaftlicher und organisatorischer Ebene gemacht, wie er betont: „Langfristige Lieferantenbeziehungen in Verbindung mit unserem langjährigen Agenten in Delhi stellen nicht nur einen reibungslosen Produktionsablauf dar, sondern auch, dass die Arbeitsbedingungen in den jeweiligen Produktionsstätten für alle Mitarbeiter den Normen der BSCI, WRAP oder Sedex entsprechen. Wir kennen alle Produktionsbetriebe von innen und stellen zusätzlich durch unsere jährlichen Besuche (drei bis vier) sicher, dass diese weiterhin Bestand haben. Gute Arbeitsbedingungen führen zu zufriedenen Mitarbeitern und sind letztendlich der Schlüssel zum Erfolg.“ Der Unternehmer lobt auch Indiens Krisenmanagement. Speziell während der Coronakrise oder auch bei Frachtengpässen sei Indien immer ein hilfsbereiter und verlässlicher Partner. „Als einer der größten Baumwoll- und Bekleidungsproduzenten der Welt wird man auch zukünftig nicht an Indien vorbeikommen, da das Land immer mehr auf technologischen Fortschritt sowie kontinuierlichen Ausbau der Infrastruktur setzt. Um deren Ziele bis 2025 realisieren zu können, investiert Indien (Bahrat) mehr als eine Billion Dollar. Indien ist nicht nur das bevölkerungsreichste Land der Welt und damit ein wichtiger Partner in Sachen arbeitsintensive Branchen, sondern auch die vielleicht zukünftige Nummer eins der Exportländer. Freihandelsabkommen mit Großbritannien sowie der Europäischen Union könnten ein Schlüssel dazu sein“, sagt Brinkmann. Und würden die hohen Einfuhrzölle auf Vorprodukte angepackt, wäre noch mehr drin, etwa für Produkte wie konfektionierte Outdoorjacken oder Sakkos, gerade mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen in China.  

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Sieht viel Optimierungsbedarf im Land. Johann Trischberger, Direktor Produktion und Beschaffung, OLYMP

Der Hemdenspezialsit OLYMP arbeitet hingegen nur in Randbereichen mit indischen Lieferanten zusammen. Es geht um weniger als 2 Prozent des gesamten Einkaufsvolumens der Schwaben. „Die Gründe hierfür liegen oftmals in der nicht ganz optimalen Organisation der jeweiligen Betriebe. Hier finden wir in vielen anderen asiatischen Ländern tendenziell bessere Voraussetzungen vor. Auch beim Qualitätsniveau gibt es Unterschiede, sowohl das Material betreffend als auch die Fertigwaren“, sagt Johann Trischberger, Direktor Produktion und Beschaffung, OLYMP Bezner KG, Bietigheim-Bissingen. Das eingangs erwähnte Zitat von Robinson scheint sich doch zu bewahrheiten. Vertriebsaktivitäten seien in Bietigheim-Bissingen nicht angedacht, sagt Trischberger. Wohl aber auf der Lieferantenseite als Alternative zu China wäre es zumindest denkbar. Allerdings sieht der Manager deutlichen Optimierungsbedarf bei Punkten wie Preis-Leistung, Effizienz und Qualität, aber genauso bei Corporate-Responsibility-Themen wie Building & Fire Safety. 

Selbst bei HUGO BOSS, aktuell in der ganzen Welt erfolgreich unterwegs, verfällt man nicht in Euphorie, wenn es um den asiatischen Subkontinent geht. Asien macht zwar 51 Prozent des weltweiten Beschaffungs- und Produktionsvolumens aus. Ganz vorne rangieren allerdings China (17 Prozent) und Vietnam (15 Prozent). Von den rund 200 Fertigwarenlieferanten befinden sich zehn Betriebe in Indien und von den rund 400 Stoff- und Zutatenlieferanten gerade mal zwei. Dafür verkaufen die Metzinger ihre Bekleidung in Indien. Es gibt aber keine eigenen Läden in Indien, ein Franchisepartner betreibt mehrere Stores und Shops. Klar, online läuft es bereits. Und weiter? Man beobachte das Land natürlich wegen seiner Größe und werde sich strategisch anpassen. Nicht eben das, was man Fokusmarkt nennen könnte. 

Der deutsche Industrieverband GermanFashion ordnet das Land denn auch entsprechend ein. Indien liege stabil auf Platz fünf der wichtigsten Importländer der Modebranche. Aber: „Als Exportmarkt spielt Indien nach wie vor eine untergeordnete Rolle, hält sich dort auf Platz 55 des Exportrankings. Aufgrund der wachsenden Mittelschicht ist eventuell ein Potenzial vorhanden, doch Tatsache ist, dass sich das Potenzial wenn überhaupt auf einige wenige Großstädte fokussiert, sonst ist immer noch die Infrastruktur ein riesiges Problem. Hinzu kommt, dass es kaum etablierte Malls gibt, in denen ein sicherer Verkauf möglich ist, zu wenig verlässliche Distributeure, das Level an Korruption ist nach wie vor hoch, dazu kommen politische Unsicherheit und Zollhürden bei Importen“, so der Verband.  

Premier Modi hat das Ziel, dass Indien ein Industrieland ist, für das Jahr 2047 ausgerufen. Das ist pure Symbolik. ©pmindia

Das Land ist die am schnellsten wachsende Demokratie in der Welt. Doch Indien, eventuell bald schon Bahrat, gilt als korrupt und die Regierung Modi will die Position der Hindus zulasten der Minderheiten stärken, die Demokratie wird schwächer. Dennoch soll das Land in zwei Jahrzehnten zur Nummer drei der Welt aufsteigen. „Rein rechnerisch wird Indien sein Ziel, zur Nummer drei der Weltwirtschaft aufzusteigen, sicher erreichen und Deutschland wie auch Japan überholen. Aber pro Kopf sieht die Rechnung natürlich anders aus. Premier Modi hat das Ziel, dass Indien ein Industrieland ist, für das Jahr 2047 ausgerufen. Das ist pure Symbolik, denn dann ist Indien 100 Jahre unabhängig“, sagt ein Landeskenner.  

Was die demokratische Entwicklung angeht, sehen Experten auf jeden Fall keine Verbesserung. „Wenn eine Regierung so lange wie Modi an der Macht ist und hohe Zustimmungswerte von 70 bis 80 Prozent einfährt, steigt die Gefahr der Überheblichkeit und Ausgrenzung merklich“, ist eine mögliche Erklärung. Da ist Modi sicher kein Einzelfall. Aber der Premier hat auch Reformen durchgesetzt und er dämmt die Korruption zumindest auf der untersten Ebene im alltäglichen Leben der Inder ein. Früher mussten für einen neuen Pass der Mann auf dem Passamt und zur Not selbst der Postbote, der den neuen Pass vorbeibrachte, geschmiert werden. Das wird weniger, nicht zuletzt durch die Digitalisierung, die im Land zusehends voranschreitet, einfach weil weniger Hände, die aufgehalten werden, im Spiel sind. Modi hat auch die Steuern harmonisiert. Früher hatte jedes Bundesland eine eigene Mehrwertsteuer erhoben. Das konnte teuer werden für Importeure, wenn die Waren verschiedene Bundesländer passieren mussten.  

Während Premier Modi innenpolitisch die hinduistische Basis im Land festigt, die Demokratie zusehends aushöhlt, Oppositionelle und Minderheiten ausgrenzt und verfolgt, steuert er außenpolitisch positiv gesprochen einen opportunistischen Kurs. Aus indischer Sicht ist es eher umgekehrt, nämlich dass der Westen, namentlich die USA, als unzuverlässig gilt. Als Donald Trump an die Macht kam, gingen die Uhren plötzlich anders. Russland hingegen wird eine hohe Zuverlässigkeit zugesprochen. Zu China besteht eine Art Hassliebe. Indien will sich unabhängig machen vom Reich der Mitte, kann sich aber faktisch aus der Umklammerung Chinas nicht lösen. Zu wichtig sind die Importe vor allem von Technologie-Produkten. Den Urkainekrieg betrachten die Inder als europäischen Konflikt, der sie nur indirekt durch höhere Nahrungsmittel- und Energiepreise betrifft.

Indien in Zahlen ©gtai
  • alle Bilder ©GTAI