Autor: Markus OessGroßmacht oder doch nur ein großes Land? Indien wird bis 2047, dem Jahr, an dem das Land 100 Jahre unabhängig sein wird, zur drittgrößten Volkswirtschaft aufsteigen und damit Länder wie Deutschland und Japan hinter sich lassen. Premier Narendra Modi sieht Indiens Rolle in der Welt durchaus ambitioniert. Im FT-Interview sieht Dr. habil. Christian Wagner, Senior Fellow bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), das Riesenland vor großen Herausforderungen. Bekommt die Regierung diese nicht in den Griff, wird es wohl nichts mit Führungsanspruch auf dem internationalen Parkett. Trotzdem wird Indien umworben. Auch die Demokratie wird zusehends ausgehöhlt.
FASHION TODAY: Herr Dr. Wagner, Indien hat China als das bevölkerungsreichste Land der Welt abgelöst. Auch angesichts der weltpolitischen Lage und der (wirtschafts-)politischen Kontroversen zwischen dem Westen und China gilt das Land im Westen als ewiges Versprechen, als „future market for ever“. Zu Recht?
Dr. Christian Wagner: „Die britische Ökonomin Joan Robinson hat Indien einmal so charakterisiert: ‚Alles, was man zu Recht über das Land sagen kann, das Gegenteil ist auch wahr.ʻ Das beschreibt die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Komplexität Indiens sehr treffend. Rund ein Sechstel der Weltbevölkerung lebt in dem Land, das geografisch gerade mal so groß ist wie die frühere EU 15. Als fünftgrößte Volkswirtschaft profitiert Indien aktuell von der weltpolitischen Lage und wird vom Westen, aber auch von Russland umworben. Trotz ihrer bilateralen Spannungen kann sich Indien aufgrund der wirtschaftlichen Abhängigkeiten nicht einfach von China abwenden. Wenn sich Indien aber weiter modernisieren will, ist es auf die Unterstützung des Westens und dessen Know-how insbesondere hinsichtlich neuer Technologien angewiesen. Das eröffnet auch der Privatwirtschaft große Chancen. Nach westlichen Maßstäben lassen sich rund 10 bis 12 Prozent der Bevölkerung dem Mittelstand zuordnen, aber dann reden wir immer noch von einem Markt mit rund 150 Millionen Konsumenten, einem Markt, der größer ist als die meisten westlichen Länder insgesamt.“
Wo gibt es die größten Fortschritte?
„Indien ist aktuell die am schnellsten wachsende demokratische Volkswirtschaft. Das Land hat eine sehr junge Bevölkerung. Die demografische Dividende verspricht damit eine große Dynamik. Indien hat im Bereich E-Governance Technologien entwickelt, die für viele Staaten im Globalen Süden von Interesse sind. Indiens Mondlandung unterstreicht die technologische Leistungsfähigkeit in einzelnen Bereichen. Allerdings hat das Land weiterhin eine Reihe von Problemen.“
Die da wären?
„Trotz des hohen Wirtschaftswachstums von 6 bis 7 Prozent entstehen nicht genügend neue Arbeitsplätze. Ändert sich dieses ‚Jobless Growth‘‚ kann sich die demografische Dividende sehr schnell ins Gegenteil verkehren, wenn viele junge Menschen arbeitslos bleiben. Das zweite Problem ist der schlechte Bildungsstand. Mit einer Alphabetisierungsrate von knapp 80 Prozent rangiert Indien hinter vielen asiatischen Schwellenländern. Schließlich ist auch die Erwerbsquote der Frauen sehr niedrig. Eine höhere Beteiligung von Frauen ist aber unabdingbar für die wirtschaftliche Entwicklung. Dazu kommen die schlechte Infrastruktur, Bürokratie und Korruption. Indien muss sich mächtig strecken, soll das Land auch wirtschaftlich vorne mitspielen.“
„Indien ist ja nicht das einzige Land, das vom Westen als strategischer Partner gesehen wird und bei dem man über gesellschaftliche Missstände hinwegsieht.“
Das Land stärkt innenpolitisch die hinduistische Mehrheit – zulasten der Minderheiten und der Demokratie. Wie demokratisch ist Indien wirklich?
„Formal betrachtet, ist Indien immer noch eine Demokratie. Es gibt freie Wahlen, wir haben eine Gewaltenteilung und damit Kontrollmechanismen. Aber seit Premierminister Narendra Modi das Land regiert, wird die Demokratie zusehends ausgehöhlt. Wir erleben inzwischen massive Eingriffe in die Pressefreiheit, Oppositionelle werden verfolgt, Minderheiten, insbesondere die Muslime, werden unterdrückt. Modi bewegt sich in Richtung Autokratie. Nicht ohne Grund rutscht Indien bei allen anerkannten Demokratie-Indizes ab.“
Das Interesse an dem Land als wirtschaftlichem Partner ist im Westen immer noch groß. Dass dort Frauenrechte und Demokratie verletzt werden, nimmt man offenbar in Kauf. Warum ist das so?
„Die schlechte Situation von Frauen war schon vor der Regierungszeit Modis und hat mit den gesellschaftlichen und religiösen Strukturen im Land zu tun. Man darf nicht vergessen, dass die Urbanisierungsrate erst bei circa 33 Prozent liegt, das heißt, circa zwei Drittel der Bevölkerung leben auf dem Land. Modi zielt mit vielen Sozialprogrammen darauf ab, die Situation der Frauen zu verbessern. Westliche Staaten haben viele Programme zur Frauenförderung unterstützt, doch der Wandel kann letztendlich nur durch die indische Gesellschaft erfolgen.
Der Westen hat gleichzeitig auch ein strategisches Interesse an der Zusammenarbeit mit Indien als Partner gegen die chinesischen Hegemoniebestrebungen im Indopazifik. Indien ist ja nicht das einzige Land, das vom Westen als strategischer Partner gesehen wird und bei dem man über gesellschaftliche Missstände hinwegsieht.“
Für welche Branchen ist das Land auch für mittelständische Investoren etwa aus Deutschland interessant?
„Ich bin kein Wirtschaftsexperte, aber Deutschland ist für Indien der wichtigste Wirtschaftspartner in der EU. Indien hat eigens ein Förderprogramm für deutsche Mittelständler aufgelegt. Gerade hier haben wir doch viele Weltmarktführer. Indien zielt da aber mehr auf Branchen wie Maschinenbau, um einen Know-how-Transfer ins Land zu befördern. Was die Bekleidungsindustrie angeht, hat Indien diesbezüglich kaum Handlungsbedarf. Das Land ist einer der größten Textilproduzenten in der Welt.“
Indien verfolgt einen eigenen Kurs durch die weltpolitische Gemengelage. Die Bedeutung Europas und Nordamerikas sinkt. Dabei gilt Indien als Freund Russlands. So sind die Ölexporte aus Russland kräftig gestiegen, Indien kauft russische Waffen. Auch China ist immer noch gut im Geschäft. Wie verlässlich ist Indien als Handelspartner?
„Modi erklärte während der Pandemie 2020, dass Indien künftig eine eigenständige Wirtschaftspolitik verfolgt mit dem Ziel, die einheimische Industrie zu stärken. Höhere Zölle und neue bürokratische Hürden sollen die Importe drosseln. Auf der anderen Seite muss Indien sich öffnen, um den Strukturwandel hinzubekommen. Das weiß auch Modi. Nicht ohne Grund gab es Harmonisierungsbestrebungen, etwa mit einer einheitlichen Mehrwertsteuer, und werden Freihandelsabkommen zum Beispiel mit der EU verhandelt. Bei großen Unternehmen hieß es oft, es sei schwer, in dem Land Fuß zu fassen. Hat man es aber geschafft, stellt sich auch langfristig der Erfolg ein.“
Mit Blick auf den Konsum – wie begehrt sind denn westliche Marken bei den Inderinnen und Indern überhaupt?
„Wir sprechen von rund 150 Millionen Menschen aus der Mittelschicht und die sind schon westlichen Produkten und Marken zugeneigt. Es gibt ja auch keine großen Marken, die nicht im Land Geschäfte machen. Deutsche Autos sind als Prestigeobjekt durchaus begehrt. Ob die deutsche Mode den Geschmack trifft, kann ich nicht wirklich beurteilen. Man muss aber sehen, dass es eine sehr große indische Diaspora in den USA und natürlich in UK gibt, die weiter enge familiäre Verbindungen nach Indien hat und die vermutlich auch in Geschmacksfragen den Ton angeben dürfte.“
Trotz des Rufes, das Büro der Welt zu sein, sagen Wissenschaftler wie Prof. Dr. Lukas Menkhoff, dass Indien in vielerlei Hinsicht immer noch ein Agrarland ist. Zwar will Premier Narendra Modi das Land bis 2047 zur drittstärksten Volkswirtschaft machen, doch scheint das Vorhaben ambitioniert. Welche Perspektiven sehen Sie?
„Drittgrößte Volkswirtschaft trifft es besser. Allein durch die Größe der Zahlen wird Indien ganz sicher zur weltweiten Nummer drei aufsteigen. Heruntergebrochen auf Pro-Kopf-Werte, zum Beispiel beim Einkommen, ist Indien leider eher am unteren Ende der Statistik. Modi will den Anteil des verarbeitenden Sektors von gegenwärtig circa 14 Prozent auf über 20 Prozent des Bruttosozialprodukts hieven. Angesichts der großen Herausforderungen in den Bereichen Bildung, Arbeit und Infrastruktur ist das eine Herkulesaufgabe. Wir haben auch ein großes Interesse an der wirtschaftlichen Entwicklung Indiens. Wollen wir die globalen Probleme in den Bereichen Klima, Energie und Umwelt tatsächlich wirksam angehen, können wir nicht einfach an einem Sechstel der Weltbevölkerung vorbeigehen. Wenn Indien eine gestaltende Großmacht sein will, muss es seine innenpolitischen Probleme in den Griff bekommen. Wenn dies nicht gelingt, ist Indien als großes Land zwar weiter ein wichtiger internationaler Akteur, aber es wird kaum über internationale Gestaltungsmacht verfügen.“