Autorin: Katja VadersWenn von globaler Textilindustrie die Rede ist, schaut man in den westlichen Ländern vor allem nach Bangladesch und China. Dabei ist auch Indien an der Spitze der Textilexporteure und mit China weltgrößter Baumwollproduzent. Die Textilindustrie ist einer der ältesten Wirtschaftszweige auf dem Subkontinent mit ungefähr 45 Millionen Beschäftigten; davon sind 70 Prozent Frauen. FT sprach mit Anne Munzert, Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der Organisation FEMNET, über die Situation von Arbeiterinnen und Arbeitern in der indischen Bekleidungsindustrie.
Frau Munzert, was steht hinter der Organisation FEMNET und wie sieht Ihre konkrete Arbeit aus?
Anne Munzert: „FEMNET ist eine Frauenrechtsorganisation, die sich 2007 gegründet hat und sich für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der globalen Textilindustrie einsetzt. Gemeinsam mit Partnern vor Ort unterstützen wir den Aufbau von Beschwerdemechanismen in Fabriken, unterstützen Gewerkschaftsarbeit und informieren Näherinnen und Näher in Schulungen und Workshops über ihre Rechte. Wir sind außerdem mit verschiedenen Bildungsformaten an Hochschulen aktiv und haben das Netzwerk fashion interACTION ins Leben gerufen, um aktive und engagierte Studierende effektiver miteinander zu verbinden. Gleichzeitig beraten wir Kommunen, Unternehmen, Sportvereine und Arztpraxen beim nachhaltigen Einkauf von Berufskleidung.“
Wenn es um die globale Textilindustrie geht, spricht man vor allem über Bangladesch und China. Welchen Stellenwert hat die indische Bekleidungsindustrie weltweit, in welchen Bereichen ist sie führend – und welches Standing hat die Industrie im Land im Vergleich zu anderen Branchen?
„Indiens Bekleidungsindustrie nimmt weltweit einen bedeutenden Stellenwert ein, sowohl in Bezug auf den Textilexport als auch die Produktion von Kleidung für westliche Industriestaaten. Der Textilsektor ist einer der ältesten Wirtschaftszweige des Landes und nach der Landwirtschaft der zweitgrößte. Rund 45 Millionen Menschen der etwa 1,4 Milliarden Einwohnerinnen und Einwohner Indiens arbeiten in der Textilindustrie. Indien ist weltweit der zweitgrößte Textilexporteur und einer der größten Produzenten von Kleidung für westliche Industriestaaten. Gleichzeitig zählt Indien gemeinsam mit China zum größten Baumwollproduzenten weltweit. Sowohl für die Wirtschaft des Landes als auch für den hiesigen Bekleidungsmarkt, spielt Indien als Produktionsland eine wesentliche Rolle.“
95 Prozent der in Indien produzierten Baumwolle ist genmanipuliert. Was bedeutet dies mittel- und langfristig für die Textilindustrie? Wie wird sich beispielsweise der eindeutige Trend zu nachhaltiger Biobaumwolle auf die indische Bekleidungsindustrie und die dort Beschäftigten auswirken?
„Eine genaue Prognose kann ich dazu nicht geben. Die Nachfrage an Biobaumwolle ist in den letzten Jahren stark gestiegen und damit auch die Umstellung der Produktion von konventionellen auf biologischen Baumwollanbau. In einer Statistik von Textile Exchange heißt es, dass sich die Produktion von Biobaumwolle in Indien in den letzten vier Jahren verdoppelt hat. Demgegenüber stehen kritische Berichte, ob es sich bei diesen Mengen wirklich um Biobaumwolle handeln kann, da die Menge an Biosaatgut begrenzt ist und nicht dem Produktionsertrag entspreche. Also schon allein bei der Definition von Biobaumwolle ist es schwierig, detaillierte Aussagen zu treffen und ein genauerer Blick bei Siegeln und Zertifikaten ist nötig.“
Der Wettbewerbs- und Preisdruck der Textilindustrie in Indien ist groß. Wie wird dieser an die Beschäftigten weitergegeben, insbesondere in Bezug auf Löhne und Gesundheitsaspekte?
„Die Arbeitsbedingungen für die Menschen in indischen Fabriken sind weiterhin sehr schlecht. Große Marken lagern seit jeher die Produktion von Textilien in sogenannte Billiglohnländer aus, um Personalkosten zu sparen und große Gewinne erzielen zu können. Oft werden den Näherinnen und Nähern Löhne gezahlt, die nicht zum Leben reichen und noch nicht mal dem indischen Mindestlohn entsprechen. Gleichzeitig ist der Produktionsdruck immens und Überstunden sind häufig die Regel, teils sogar unbezahlt. Bezahlter Urlaub, Krankheitstage oder einen bezahlten Mutterschutz gibt es oft nicht.“
70 Prozent der Arbeitenden in der Textilindustrie Indiens sind Frauen. Warum ist das so? Und was bedeutet das gesellschaftlich, auch in Bezug auf Kinderarbeit?
„Es gibt mehrere Gründe, warum Arbeitsbereiche überwiegend von Frauen bestimmt werden. Zunächst kann man festhalten, dass im Niedriglohnsektor – das gilt auch für Industrieländer wie Deutschland – überwiegend Frauen arbeiten. In Bezug auf Indien ist außerdem wichtig zu berücksichtigten, dass Frauen aufgrund ihrer sozioökonomischen Stellung oft nicht so guten Zugang zu Bildung haben wie Männer. Sie arbeiten daher häufiger in ungelernten Positionen oder im informellen Sektor, wie beispielsweise auf Baumwollfeldern. Weiterhin übernehmen Frauen ist fast allen Gesellschaften den Großteil der Sorgearbeit. So auch in Indien. Die Doppelbelastung durch die Arbeit in einer Textilfabrik, verbunden mit den familiären Verpflichtungen wie Sorgearbeit und Pflege der Kinder, Pflege älterer und kranker Angehöriger sowie die Führung des Haushaltes, ist bei Frauen besonders hoch. Das wiederum hat auch Auswirkungen auf die Gesundheit der Frauen. Gleichzeitig ist es sehr problematisch, wenn trotz der hohen Arbeitslast Löhne nicht das Minimalste der Lebensunterhaltungskosten der Arbeiterinnen und ihrer Familien abdecken. Das wirkt sich wiederum auf Kinderarbeit aus: Wenn die Eltern ausgebeutet werden und nicht genug verdienen, müssen auch die Kinder arbeiten.“
Welche geschlechtsspezifischen Benachteiligungen erfahren Frauen und Mädchen in Indien noch, insbesondere, Unterdrückung und (sexuelle) Gewalt angeht?
„Geschlechtsspezifische Gewalt ist nach wie vor leider bitterer Alltag für Textilarbeiterinnen. Sie reicht von struktureller Gewalt wie Ausbeutung bis hin zu psychisch und physischer Gewalt wie Beleidigung, Drohungen, Körperverletzungen oder Vergewaltigungen. Die Machtstrukturen in den Fabriken spiegeln die niedrige Stellung der Frau in der patriarchalisch geprägten Gesellschaft Indiens wider. Hier sind Frauen Männern untergeordnet. Für sie ist es daher sehr schwer, etwas an dieser Situation zu verändern oder sich zu wehren. Oft schweigen sie aus Angst, ihre Stelle zu verlieren oder weil sie Vergeltung befürchten.“
Sie sprechen auf Ihrer Website über eine „moderne Form der Sklaverei“ im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu. Mit welchen Zuständen sind die Arbeiterinnen und Arbeiter dort konfrontiert?
„In den etwa 2.000 Spinnereien des Bundesstaates arbeiten bis zu 80 Prozent junge Frauen und Mädchen. Landesweit stellen sie die größte Menge von Garnen und Fasern her. Zu den schwersten Arbeits- und Menschenrechtsverstößen in Tamil Nadu zählt insbesondere das Sumangali- oder Camp-Labour-System, unter dem vor allem sehr junge Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren Zwangsarbeit leisten müssen. Ihr Arbeitsleben ist geprägt von Ausbeutung durch Pauschalverträge, Löhne unterhalb des offiziellen Mindestlohns, exzessiven Überstunden, der Unterdrückung von Gewerkschaften, mangelnder Vereinigungsfreiheit und geschlechtsspezifischer Gewalt.“
Was tun die Auftraggeber und die Politik westlicher Nationen, um die Bedingungen in der indischen Textilindustrie zu verbessern? Und was muss in diesem Zusammenhang noch passieren?
„Bisher wurde aus unserer Perspektive von Seiten der Wirtschaft und der Politik unzureichend gehandelt. Freiwillige Maßnahmen, die von Unternehmen ergriffen wurden, konnten die Arbeitsbedingungen nicht signifikant verbessern. Um einen echten Wandel in der Industrie herbeizuführen, sind internationale, verbindliche Regeln und Abkommen unerlässlich. In dieser Hinsicht sind das deutsche und bald auch das europäische Lieferkettengesetz wichtige Schritte, um die Menschenrechte entlang der gesamten Lieferkette zu schützen. Gleichzeitig ist zu beachten, dass Frauen aufgrund ihrer sozialen Stellung oft unterschiedlich von Menschenrechtsverletzungen betroffen sind als Männer. Daher sollten Maßnahmen zur Bekämpfung menschenunwürdiger Arbeitsbedingungen immer aus einer geschlechtsspezifischen Perspektive entwickelt werden. Dies gilt insbesondere für Themen wie geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz. Frauen sind hier besonders gefährdet, daher müssen Sensibilisierungsworkshops und die Einrichtung von Beschwerdesystemen dies explizit berücksichtigen, indem sie z.B. von Frauen unterstützt werden.“
Vielen Dank für das Gespräch!