Autor: Andreas GrüterEhemals als subkulturell unterfütterte Alternative zum modischen Mainstream-Allerlei angetreten ist Streetwear, massenkompatibel heruntergewaschen, längst in 08/15-Klamottenstores und auf den Flächen der Vertikalen angekommen. Ist die Idee von Bekleidung mit Street Credibility am Ende? Wir haben einen Blick in die facettenreiche Geschichte des Sujets geworfen und zusammen mit Protagonisten über den Status quo und die mögliche Zukunft gesprochen.
Streetwear before streetwear
Es gibt viele Diskussionen um die Wurzeln von Streetwear, und die meisten davon datieren die Stunde null in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Hotspot ist, wenig überraschend, die Surfszene Kaliforniens, wo Boardshaper ihre Kunden nicht nur mit maßgeschneiderten Brettern, sondern auch mit den passenden Logo-Shirts versorgen, die zusammen mit lässig geschnittenen und im Schritt betont niedrig hängenden Hosen getragen werden. Das Ergebnis ist ein Style, so unique und revolutionär, dass er das konservative Amerika in eine tiefe „Was wird aus unserer Jugend?“-Sinnkrise stürzt und gleichzeitig der Popkultur der gesamten Nation einen neuen Look verpasst. „Rock-’n’-Roll-Greaser raus, Surfer rein!“ heißt es selbst in den entlegensten Gegenden des Mittleren Westens, wo die Jugend, angesichts fehlender Wellen, ihr Heil im Sidewalk Surfing, sprich Skateboarden, sucht. Dass der Kult um die Streetwear dann ausgerechnet vom Skateboarding, einem ursprünglich reinen Surf-Substitut, durch die nächsten Jahrzehnte getragen wird, ist einer der vielen Kuriositäten in der Geschichte des Genres.
„Where’d you get those?“ (Titel von Bobbito Garcias legendärem Buch über Sneaker Culture)
Zeitsprung in die späten achtziger und frühen neunziger Jahre. Das Internet ist zwar bereits existent, aber bislang nur ein Thema für die Armee und einige technikverrückte Nerds. Musikalisch regieren Grunge und Hip-Hop und geskatet wird Street auf extrakleinen und extraharten Wheels. Die Klamotten: Größe XXL und vorzugsweise von kleinen amerikanischen D.I.Y.-Underground-Brands, die kaum bis gar nicht in Europa zu bekommen sind und von Style-Enthusiasten deshalb mühsam per Einzelbestellung geordert werden müssen.
Nach seiner kaufmännischen Lehre arbeitet Manfred Säck in einem Bochumer Skateshop und beschließt, zusammen mit seinem Kumpel Klaus Nolde einen Vertrieb für US-Marken aufzubauen. „Wir sind 1992 mit Stand-by-Tickets in die USA geflogen, haben uns die neueste Ausgabe des The Source Magazines besorgt, die dort gefeaturten Labels kontaktiert und sind dann für Termine kreuz und quer durchs Land gereist. Irgendwann landeten wir schließlich in Kalifornien bei X-Large und es hat sofort Klick gemacht. Mit einem X-Large-Vertriebsdeal für Europa in der Tasche flogen wir zurück und sind mit Säck & Nolde an den Start gegangen“, erzählt Manfred Säck.
Der Zauber des Neuen, Geheimnisvollen und noch nicht Dagewesenen packte auch Markus „Buddy“ Buddenbrock. „Ich habe 1988 zu meinem 15. Geburtstag ein Skateboard geschenkt bekommen und bin damit in einer alten No-Name-Jeans und irgendwelchen Turnschuhen durch meine Heimatstadt Dorsten gerollt. An einer Ecke traf ich auf ein paar ziemlich verwegen aussehende Skater, die vom Style her so ganz anders aussahen als alles, was ich bis dato gesehen hatte. Ich war total beeindruckt, habe diesen ganzen Look mit seinen Labelnamen, Shirt-Prints, Mustern und Schnitten wie ein Schwamm aufgesaugt und bin dann tief in die Skategeschichte eingetaucht. Letztendlich hat diese Begegnung auch den Grundstein für mein eigenes Label éveil gesetzt, das ich 1998 zusammen mit einem Freund, einer Siebdruckmaschine und jeder Menge Ideen für Grafiken und Prints gegründet habe.“
Immer in Bewegung bleiben
Seitdem Streetwear – nach Meinung von Markus Buddenbrock übrigens kein Begriff aus der Szene, sondern eine von außen an sie herangetragene Bezeichnung – das erste Mal ihr facettenreich gestaltetes Haupt in der Öffentlichkeit zeigte, ist viel Wasser den Rhein heruntergeflossen. Neue Marken sind dazugekommen, alte verschwunden. Viele der damals hinter vorgehaltener Hand geraunten Geheimtipps sind längst etabliert, stellen auf regulären Modemessen aus und verkaufen ihre Waren in jeder mittelgroßen Stadt. Und noch frappierender: Streetwear ist zumindest für den Mainstreamkonsumenten heute alles, was sich die Bezeichnung ungeniert ans eigene Revers heftet.
Die Bandbreite reicht hier vom inhaltlich leeren und stilistisch völlig belanglosen Jeansbrand auf der verzweifelten Suche nach dem eigenen Ich bis zur Luxusmarke, die sich in Kooperation mit den Fashion-Underdogs ein wenig authentische Street Credibility ins Haus holen möchte. Ist mit der Mainstreamisierung nur die Begrifflichkeit oder direkt die ganze Idee gestorben? Klaus Nolde sieht die Entwicklung pragmatisch. „Wir selbst sprechen längst nicht mehr von Streetwear, wir nutzen die Bezeichnung Streetfashion. Das Genre ist heute keine Nische mehr, sondern ein begehrter Marktplatz, auf dem jeder dabei sein will, angefangen bei H&M bis hin zu Louis Vuitton. Früher war das der Feind, heute wird auch mal gerne gekuschelt. Das kann man gut oder schlecht finden, aber so stellt sich nun mal die Realität dar.“ Manfred Säck ergänzt: „Louis Vuitton, Gucci und all die anderen Luxusbrands haben mit der Welt, in der wir uns bewegen, allerdings nach wie vor nichts zu tun. Ich finde das auch schwierig, wenn luxusgelabelte Skateboards als Accessoires auf Laufstegen auftauchen und dann zu schwindelerregenden Preisen verkauft werden. Doch das ist wohl eine Entwicklung, die sich nicht aufhalten lässt.“
Für Markus Buddenbrock ist es weniger der Begriff als die Haltung, die Streetwear, Streetfashion – oder was immer die nächste Bezeichnung für das Sujet sein mag – vom modischen Allerlei trennt. „Authentische Streetwear ist immer Avantgarde, dem Mainstream immer einen Schritt voraus und deshalb stets in Bewegung. Das macht die ganze Geschichte ja auch so spannend. Um zu wissen, wo der nächste Schritt hingeht, muss man sich allerdings interessieren, neugierig bleiben und ein Gespür für Style mit im Gepäck haben.“
„Was ich noch zu sagen hätte, dauert eine Zigarettenfabrik“ (Brüllen – „Laufe blau“)
Was die aktuelle Affinität von Luxusbrands zu Streetwear angeht, hat Markus Buddenbrock eine klare Meinung. „Louis Vuitton, Gucci, und wie sie alle heißen, haben zwar einen dicken Fuß in der Tür, aber grenzen sich allein durch hohe Preise und nicht durch stilistische Raffinesse ab. Mir ist das zu flach. Es gibt allerdings abseits der ausgetretenen Pfade auch heute noch viel zu entdecken. Nachhaltigkeit und Naturverbundenheit ist auch in der Streetwear ein immer wichtigeres Thema und damit einher geht die Hinwendung zu Gorpcore, also hochwertiger Funktionskleidung mit urbanem Look.“ Die Suche geht weiter …