Autorin: Katja VadersIn einer globalisierten, konsumorientierten Welt wird es immer schwerer, glaubwürdige Subkulturen zu finden. Existieren heutzutage überhaupt noch authentische Gegenkulturen? Und wenn ja: Welche Definition liegt dem Begriff „Subkultur“ zugrunde? Lesen Sie den ersten Teil zur Geschichte des Undergrounds und dem Zusammenspiel von Mode, Musik und Moral.
Die Ära der Subkulturen, die ihre Blütezeit definitiv im 20. Jahrhundert hatte, scheint vorüber. Derartige Strömungen werden heutzutage binnen kürzester Zeit zum Mainstream, hinter dem solvente Unternehmen stehen, die jede noch so kleine Andersartigkeit zum Trend erklären, um sie gleich darauf zu kommerzialisieren. Subkulturen sind dementsprechend bereits vor geraumer Zeit zu einem Riesengeschäft geworden, das jede Form einer authentischen Gegenkultur und Individualität im Keim erstickt.
Hinzu kommt: Die wichtigsten Aspekte einer Subkultur – Mode, Musik und politische, künstlerische oder Lifestyle-orientierte Ideen – finden durch die von ultraschnellen Social-Media-Plattformen wie TikTok geprägte globale Gesellschaft eine extrem rasche Verbreitung und sind dementsprechend ebenso schnell wieder in der Versenkung des Internets verschwunden, wie sie aufgetaucht sind. Viele junge Menschen betreiben offenbar keine aktive Identitätsfindung mehr, sondern imitieren vielmehr das, was ihnen von den zahlreichen Influencerinnen und Influencern vorgekaut zum Fraß vorgeworfen wird. In den Kommentarspalten dieser neuen Spezies bilden sich Communitys, die sich in ihren Strukturen und Parametern allerdings wesentlich von den Peergroups unterscheiden, die man früher Subkulturen nannte. Sie sind nichtsdestotrotz auf ihre Art, vor allem durch die globale Vernetzung und die digitalen Kommunikationswege, nicht minder weitgreifend. Eine Reichweite, die leider auch Systemkritikerinnen, Querdenker oder Neurechte für sich nutzen, die seit Corona immer mehr, immer sichtbarer und vor allem immer radikaler zu werden scheinen.
Kann man diese Communitys, die sich vor allem in den Threads irgendwelcher obskurer Messengerdienste oder Social-Media-Kanäle treffen, wirklich als „Subkulturen“ bezeichnen? Erfüllen sie die Kriterien für eine Gegenkultur, wie man sie früher kannte? Wie definiert sich überhaupt eine Subkultur im eigentlichen Sinne?
Was ist eine Subkultur?
Die Existenz einer Subkultur war von jeher ein Symptom für gesellschaftspolitische Missstände. Mitglieder einer Gesellschaft, die sich selbst in der Außenseiterrolle sahen und die gleiche Herkunft oder Ideen, künstlerische oder politische Ideale teilten, schlossen sich zusammen, um mit ihrem Lifestyle, individualistischer Expression oder speziellen Ritualen gegen die bürgerlichen Konventionen zu protestieren. Sie waren auf der Suche nach einer neuen Identität, auch in der Gruppe, die ein eigenes, in ihren Augen besseres Lebenskonzept entwarf und dabei auf längere Sicht nicht selten etablierte Gesellschaftsstrukturen maßgeblich veränderte.
Die Ära der Subkulturen, die ihre Blütezeit definitiv im 20. Jahrhundert hatte, scheint vorüber.
Meist zelebrierten diese Subkulturen ihren eigenen Dresscode, der die Mitglieder der Gruppe als solche erkennbar werden ließ, sie von der Masse abhob und die Einzigartigkeit der Individuen unterstrich. Zudem galt Mode als eine Art Transportmittel, um die Ideale und den Geist der Gruppe anschaulich zu machen. Ihre Mode musste radikal sein, provozieren, Intellektualität und einen künstlerischen Anspruch vermitteln. Oftmals zitierten Subkulturen in ihrem Look auch andere Gruppen oder die Mode vergangener Epochen. Musik war ebenfalls von jeher ein wichtiges Mittel der Abgrenzung. Sie interagierte mit der Mode, wobei sich Look und Sound einer Subkultur grundsätzlich gegenseitig beeinflussten.
Wichtige Subkulturen der vergangenen Jahrhunderte
Eine der ersten überlieferten Subkulturen ist im alten Rom zu finden. Seinerzeit schlossen sich Männer mit homosexuellen Neigungen zu einer Gruppe zusammen, die zwar im kompletten Gegensatz zur sonst so keuschen römischen Gesellschaft stand, allerdings einen unermesslichen politischen Einfluss gehabt haben soll. Die römische Mode und Musik belegt zudem, dass inmitten der politischen und künstlerischen Haltung dieser Subkultur Aspekte einer kulturellen Sexualpolitik entwickelt wurden.
Ein weiteres subkulturelles Phänomen der Antike waren die Piraten, die seinerzeit in allen seefahrenden Völkern vertreten waren, allerdings erst im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert ihr sogenanntes Goldenes Zeitalter erlebten. Heutige Vorstellungen über die Welt der Piraten beruhen im Wesentlichen auf den Schilderungen von Alexandre Olivier Exquemelin, der die Freibeuter als unerschrockene, wilde Outlaws beschrieb, ein Image, das bis heute in diversen Filmen oder Romanen transportiert wird. Ihr spezieller Dresscode beinhaltet viele Klischees wie die Augenklappe, abgerissene Kleidung oder eingekerbte Waffen, die ihr aggressives Erscheinungsbild untermauerten und damit ihre Gesetzlosigkeit sowie ihre Außenseiterrolle unterstrichen. Die Piraten-Symbolik, wie zum Beispiel die berüchtigte Totenkopf-Flagge, erfreut sich bis heute großer Beliebtheit und wurde in der Vergangenheit von zahlreichen Subkulturen zitiert.
Im Japan des 17. Jahrhunderts entwickelte sich eine Subkultur, die sogar zum eigenen Berufsstand erhoben wurde: die Geishas. Ihre Blütezeit hatten sie im 18. und 19. Jahrhundert als Alleinunterhalterinnen von Männern der gehobenen Gesellschaft. Modisch galten sie als Trendsetterinnen, die sich mit ihrer extravaganten und kunstvollen Kleidung und Schminke gezielt von anderen Frauen abgrenzen wollten. Nach der Meiji-Restauration 1868 änderte sich ihre leicht verrufene Rolle: Geishas sind seitdem zu den Hüterinnen der traditionellen Künste wie Kalligrafie, das Spielen von japanischen Instrumenten, Singen, Konversation und Etikette aufgestiegen.
Mennoniten, Mafia und Yakuza
Eine bis heute existente, religiös motivierte Subkultur des 17. Jahrhunderts sind die Amischen, eine täuferisch-protestantische Glaubensgemeinschaft, die sich im Jahr 1693 von den Mennoniten abspaltete und vor allem in den USA ansässig ist. Die Amischen führen das Leben von Bauern und lehnen fast alle technischen Errungenschaften ab. Neuerungen werden nur nach sorgfältigen Überlegungen innerhalb der Gruppe akzeptiert. Als Subkultur qualifizieren sie sich vor allem durch ihren Kleidungsstil, der sich an der Mode des 17. und 18. Jahrhunderts orientiert. Die Amischen legen bis heute großen Wert auf Familie, Gemeinschaft und Abgeschiedenheit von der Außenwelt – weitere untrügliche Merkmale einer Gegenkultur.
Eine weltweit fungierende kriminelle Vereinigung, die sich dennoch durch ihre Strukturen als Subkultur bezeichnen lässt, ist die Mafia. Sie ist ein streng hierarchischer Geheimbund, der seine Macht durch Erpressung, Gewalt und politische Einflussnahme zu festigen und auszubauen versucht und seine Wurzeln im Sizilien des 19. Jahrhunderts hat. Besonders sichtbar wurde die Mafia in den USA der 1920er- und 1930er-Jahre zur Zeit der Prohibition. Der extravagante Kleidungsstil der Mafiosi ist in die Modegeschichte eingegangen: Exklusive Anzüge, Hüte, dunkle Sonnenbrillen und Nadelstreifenstoffe werden bis heute mit der Cosa Nostra in Verbindung gebracht.
Den japanischen Yakuza, deren Geschichte auf mehrere Jahrhunderte zurückgeht, werden ebenfalls mafiöse Strukturen nachgesagt. Innerhalb der Gruppe kennzeichnen sie sich durch großflächige Tätowierungen, die die Rangordnung der Organisation widerspiegeln. Nicht selten wird der gesamte Körper bis auf den Kopf, die Hände, die Füße und den Genitalbereich mit Mustern versehen. Ein weiteres Merkmal der Yakuza sind fehlende Fingerglieder, die sich die Mitglieder bei Gesichtsverlust selbst abtrennen, um einen Fehler zu tilgen.
Mitglieder der russischen Mafia lassen sich ebenfalls an ihren Tätowierungen erkennen. Diese erzählen die Geschichte des Mafioso, geben Auskunft über seinen Status, aber auch über seine Verurteilungen und Gefängnisaufenthalte. Zu Sowjetzeiten waren außerdem Verhöhnungen des Staates, zum Beispiel durch die Verunglimpfung des Textes der Nationalhymne, beliebt.
Subkulturen des 20. Jahrhunderts: Boheme versus Bourgeoisie
Zur Zeit des Fin de Siècle wurden die Subkulturen salonfähig und zogen weite Kreise. Zudem rückte im Selbstverständnis der modernen Gegenkulturen erstmals ein gesellschaftspolitischer Faktor ins Zentrum.
In den europäischen Metropolen der Moderne wie Wien, Paris und Berlin fanden sich junge Leute mit intellektuellem Hintergrund zusammen, die Kunst, Literatur, Musik, Philosophie und Hedonismus zum neuen Lebensprinzip erklärten und damit gegen die herrschenden Gesellschaftsstrukturen protestieren wollten. In diesem Klima entstand zudem der Begriff des Lebenskünstlers, der seinen Lifestyle, der vor allem aus der Diskussion und der Interaktion mit Gleichgesinnten bestand, zur eigenen Kunstform erhob. Arbeit im klassischen Sinne sowie materielle Güter wurden abgelehnt, stattdessen propagierte man den Konsum von Drogen, Alkohol und das Ausleben einer freien Sexualität.
Die sogenannten Bohemiens empfanden ihren Lebensstil als authentischer, eigenständiger, ursprünglicher und weniger entfremdet als den der Bourgeoisie. Sie glaubten, dass das Individuum nur in völliger Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen seine Identität finden und verwirklichen kann.
Kreative Freiheit war das Transportmittel, um Entfremdungserfahrungen sowie Gesellschafts- und Kulturkritik auszudrücken. Die leidenschaftliche Hingabe an die Kunst war daher essenziell – auch, wenn sie nicht dem Broterwerb diente. Viele wichtigen modernen Kunstformen wie der Expressionismus, der Impressionismus, Dada oder der Surrealismus entstanden in diesem Umfeld und die Bohemiens legten mit ihren Ideen den Grundstein für alle weiteren Subkulturen des 20. Jahrhunderts. Die Ablehnung der bourgeoisen Gesellschaft und ihrer Konventionen drückte sich natürlich auch in der Mode der Bohemiens aus: Man trug betont lässige Kleidung, Hüte, Schals und gerne auch zerschlissene Textilien, um gegen die herrschende Klasse zu protestieren.
In der Tradition der Bohemiens sahen sich nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem künstlerisch motivierte Subkulturen wie die Beatniks oder die französischen Existenzialisten. Auch sie lehnten alle bürgerlichen Konventionen ab, experimentierten mit Drogen und stellten ihr künstlerisches Schaffen in den Lebensmittelpunkt.
Der Stolz der Arbeiterklasse: Britische Subkulturen prägen eine ganze Generation
Im Gegensatz zu den Bohemiens, die sich aus einem kleinen, elitären Teil der Gesellschaft mit intellektuellem Hintergrund rekrutierten, entstanden in den 1950er- und 1960er-Jahren in Großbritannien Subkulturen, die eine ganze Generation von Jugendlichen beeinflussten. Künstlerisch-intellektuelle Ideen spielten keine Rolle mehr, denn für die Kids der Arbeiterklasse wurden Mode und Musik das Transportmittel, dem Rest der Welt ein Statement abzugeben.
Die britische Working Class legte schon immer extrem großen Wert auf ein gutes Styling – vielleicht die einzige Möglichkeit, dem tristen Dasein englischer Wohngettos zu entfliehen und aus der Masse hervorzustechen. Die Art, sich zu kleiden, die sich auch an Vorbildern aus der Musikszene orientierte, war Ausdrucksmittel der Rebellion gegen das System und die herrschende Klasse sowie für den Stolz, der Arbeiterklasse anzugehören.
Die Teddy Boys oder Teds, eine Gruppierung, die sich Anfang der 1950er-Jahre in England bildete, hatten keinerlei politische Intention. Sie stellten sich erstmals nicht bewusst als Subkultur unter die Gesellschaft, sondern stempelten vielmehr die Mitglieder des etablierten Mittelstands als Proletarier ab, indem sie vornehmere Kleidung trugen und eine affektierte Attitüde annahmen.
Der typische Ted trug fast knielange Anzug-Jackets, sogenannte Drapes, mit breitem Revers und farbig abgesetzten Applikationen, die ursprünglich unter König Edward Vll populär waren. Auch die Bezeichnung „Teddy“ leitete sich von einer Koseform des Namens Edward ab – man spielte in der gesamten Attitüde mit dem längst verblassten Glanz des britischen Königshauses. Zu den Drapes trugen die Teds enge Hosen und Crepes, Schuhe mit hoher Crepe-Sohle, sowie die obligatorische Elvis-Tolle, häufig ergänzt durch lange Schlüsselketten und gemusterte Anzugwesten. Neben der Abgrenzung durch einen eigenen Modestil zeigten die Teds ihren Protest vor allem durch ihre Vorliebe zum Rock ’n’ Roll, der seinerzeit von der Elterngeneration als unmoralisch angesehen und daher abgelehnt wurde. Außerdem liebten Teds Krawalle und Massenschlägereien, die ihre Ablehnung der etablierten Gesellschaft untermauerten.
Auch die Mods (von „Modernists“), eine Subkultur, die in den 1960er-Jahren in London entstand, rekrutierte sich aus der britischen Arbeiterklasse und stellte die Mode in den Mittelpunkt ihres Protests gegen bürgerliche Konventionen. Mods trugen nur teure Markenkleidung und maßgeschneiderte Anzüge, gern aus exklusiven und ausgefallenen Stoffen geschneidert, die sie bevorzugt auf der Londoner Carnaby Street kauften. Ähnlich wie den Teds war es den Mods essenziell wichtig, besser gekleidet zu sein als die herrschende Klasse. Zudem fuhren sie italienische Motorroller und konsumierten Amphetamine, die sie bei nächtlichen Raubzügen durch Apotheken erbeuteten, um die Nächte durchtanzen zu können. Mods liebten Schlägereien, vor allem mit Rockern, die sie aufgrund ihres schlampigen Kleidungsstils verachteten. Musik spielte eine zentrale Rolle für die Modernists, die jede Nacht durch die Clubs zogen und das Musikgenre Northern Soul und das Sammeln von Motown-Singles zur Religion erhoben. Die Mods feierten als Subkultur in den 1980er-Jahren ein Revival.
Lesen Sie in der nächsten Ausgabe den zweiten Teil der kleinen Geschichte über den Underground: Mode, Musik und Moral – Subkulturen werden politisch.