Autorin: Tays Jennifer Köper-KelemenGesellschaftliche Diskurse um LGBTQ+, androgyne Models, Fashionshows, die Bekleidung für Männer und Frauen parallel präsentieren. Ist in der Kategorisierung der Mode in Womenswear und Menswear ein Weiterdenken gefragt? FASHION TODAY gibt einen Überblick, mitunter im Gespräch mit Tobias Schellenberger, Mitbegründer der Unisex-Marke ROSSI.
Womenswear. Menswear. Zwei Kategorien. Zwei fest gesetzte, klar umrissene Kategorien? Oder vielmehr mehr und mehr offene Kategorien, geprägt von Veränderung? Es besteht zumindest kein Zweifel: Der Zeitgeist hat sich gewandelt. Die klassischen Unterteilungen in der Mode sind wohl mehr denn je infrage gestellt. Bereits vor Saisons sind große Designerhäuser dazu übergegangen, ihre Kreationen nicht mehr nach Geschlecht separiert auf den Laufstegen zu zeigen. Auch wenn dies mitunter Kostengründe zum Hintergrund hat, so setzt man auf diese Weise bewusst Zeichen pro Einheitlichkeit. Ob Frauen- oder Männermode – letztendlich geht es den Designern um eine Vision von Mode, Bekleidung, die unabhängig vom Geschlecht wahrgenommen, verstanden und auch getragen werden soll. Der Auftritt von androgynen Models sowie Transgender-Modellen, die sich in keine Schublade pressen lassen, untermauert diesen Kurs noch. Nicht zuletzt auch die Kollektionen an sich. Althergebrachte Grenzen verschwimmen. Es präsentieren sich Blazer mit kantiger Silhouette für Frauen, Hemden aus feiner Spitze für Männer. Was ist für Frauen, was ist für Männer gemacht? Spielt dies noch eine Rolle?
Im Lauf der Zeit gab es immer wieder Momente, in denen die Mode neue Wege eingeschlagen und eingefahrene Kategorien überwunden hat.
All diese Überlegungen und Grenzüberschreitungen sind nicht neu. Im Lauf der Zeit gab es immer wieder Momente, in denen die Mode neue Wege eingeschlagen und eingefahrene Kategorien überwunden hat. Man denke nur an die 1980er-Jahre oder auch die 1920er-/1930er-Jahre, in denen Coco Chanel Hosen für Frauen salonfähig machte und so ebenfalls Vereinheitlichung vorantrieb. Der Gang heutzutage scheint nunmehr eine neue Ordnung in den Strukturen, ein Weiterdenken, eine nachhaltige Reformierung unumgänglich zu machen. Zumal gemäß dem Motto „eine Mode für alle“ auch ressourcenschonende Aspekte in das Thema mit einfließen. Gesellschaftliche Diskussionen um LGBTQ+ befeuern derzeit maßgeblich die Infragestellung binärer Strukturen. Und auch gegenwärtige Idole und ihr Stilverständnis setzen neue Standards. Harry Styles, Billie Eilish, Jared Leto, Sam Smith, Kristen Stewart sowie Lil Nas X sind nur einige zu nennende Namen, die sich mit ihrem Look ausdrücklich keiner geschlechtsspezifischen Norm unterwerfen lassen wollen. Gender Fluidity lautet das Wort der Stunde.
So sind Unisex-Labels, die Bekleidung für Frauen und Männer gleichermaßen entwerfen, unlängst keine Exoten mehr. WILDFANG, OLDERBROTHER, RILEY STUDIO, IJJI, ØBLANC – die Liste ist lang. Gleiches gilt für Stores und Onlinehändler, die geschlechtsneutrale Mode verkaufen. Dass es sich dabei nicht einfach um ein Nischenthema handelt, mehr noch besetzt von Start-ups und Independent-Akteuren, beweisen Konzerne wie zalando. Das Unternehmen hat auf seiner Website unlängst eine Rubrik für Unisex-Artikel eingerichtet, ebenso der Sportartikelhersteller adidas. Der familiengeführte Hemden- und Blusenspezialist seidensticker kategorisiert im markeneigenen Onlineshop neben Männern und Frauen auch in ‚Studio‘, ein Bereich, in dem genderneutrale Produkte in Größen von XS bis hin zu 3XL verfügbar sind. Und auch die Schera GmbH bietet mittlerweile als Damenhosenspezialist neben den Marken RAFFAELLO ROSSI und SEDUCTIVE eine Unisex-Kollektion der Marke ROSSI an. Die aktuelle Entwicklung macht bei Mode im Übrigen nicht halt. Auch im Beauty-Segment zeichnet sich ein Umdenken in den Grundsätzen ab. Die US-amerikanische Kosmetikmarke NOTO wirbt explizit damit, dass sie für beide Geschlechter gemacht ist, ob Skincare oder dekorative Produkte. Die Werbebilder greifen neben Frauen mit männlich konnotierter Achselbehaarung entsprechend auch Männer mit getuschten Wimpern und Wangenrot auf. Aigerim Usabaev, Gründerin des minimalistischen Unisex-Brands KOLO BERLIN, kommentiert gegenüber FASHION TODAY: „Ich denke, dass die Kategorisierung Womenswear/Menswear in der Mode überholt ist, da Kleidung als visueller Ausdruck so individuell ist. Ebenso wie der Mensch, der die Kleidung trägt. Die Kategorie des Geschlechts sagt meiner Meinung nach wenig aus. Man erfährt zum Beispiel nichts über verschiedene Körperformen, Größen oder Vorlieben. Daher sehe ich die Kategorien als nicht notwendig an.”
„Wir stehen an einem kulturellen Wendepunkt!“
Das Familienunternehmen Schera GmbH geht als Damenhosenspezialist mit den Marken RAFFAELLO ROSSI und SEDUCTIVE neue Wege. In zweiter Generation haben Tobias und David Schellenberger mit ROSSI ein Contemporary-Brand ins Leben gerufen, das genderneutrale Hosenkollektionen in den Fokus stellt. FASHION TODAY hat mit Tobias Schellenberger über die Beweggründe gesprochen.
FT: Herr Schellenberger, wie sind Sie dazu gekommen, ein Unisex-Brand ins Leben zu rufen?
Tobias Schellenberger: „Es ist so ein Gefühl, das ich hatte, etwas Neues erschaffen zu wollen. Generell ist es so, dass Mode unsere Identität unterstreicht; sie transportiert eine Botschaft, zeigt Haltung und ist Ausdruck unserer Persönlichkeit. Meiner Meinung nach stehen wir an einem kulturellen Wendepunkt. Die Gesellschaft ist bereit, alte Normen zu überdenken, neue Formen zu akzeptieren. Wir beschreiten dabei den Ansatz des ‚New Nowʻ, in dem Fashion Ausdruck von Stil und Haltung jenseits von Gendergrenzen ist, sich geradezu von traditionellen Geschlechternormen abwendet. Im Bereich der Genderfluid Fashion kennen alle Unisex-T-Shirts und -Hoodies, an Hosen hat sich bisher jedoch kaum jemand herangetraut. Es freut mich besonders und macht mich stolz, dass wir in kurzer Zeit eine große Fangemeinschaft an inspirierenden Persönlichkeiten und Opinion Leadern für uns gewinnen konnten, zudem Fashion Stores wie LUDWIG BECK, ANITA HASS, C.WIRSCHKE, BAILLY DIEHL und viele mehr. Ein weiterer Antrieb war es, mir auch etwas zu erschaffen, das mir persönlich zusagt. Ich bin jeden Tag happy, meine eigenen Hosen tragen zu können.“
Worauf legen Sie in der Optik besonderen Wert?
„Uns liegt daran, eine geschlechtsneutrale Identität zu verkörpern, während wir gleichzeitig sicherstellen, dass unsere Styles genauso einzigartig sind wie die Menschen, die sie tragen. Unsere Auswahl an lässig-weiten Hosen in neutralen Farben spiegelt den Lifestyle einer jungen, informierten Klientel wider. Kosmopolitisch, urban, modern und cool.“
Gilt es nicht doch, geschlechterspezifische Unterschiede in den Passformen zu berücksichtigen?
„Das ist eine große Herausforderung, vor allem im Bereich Hose, bei der die Passform das Wichtigste überhaupt ist. Wir arbeiten mit kleinen innovativen Tricks, die zum Teil aus der Kinderbekleidung inspiriert sind. Dadurch können wir unterschiedliche Taillen gut ausgleichen oder auch in der Länge variieren. Der generelle Trend nach lässigen, weiten Hosenformen bei allen Geschlechtern spielt uns zudem noch in die Karten.“
Wer sind Ihre Kunden?
„Wir sprechen die Fashionistas dieser Welt an, die unsere Philosophie teilen und auch hinter dem Ansatz des ‚New Now‘ stehen. Was mich besonders freut, ist, dass unsere Styles zu Lieblingshosen unserer Kunden werden.“
Wie ist Ihrer Meinung nach das Verständnis um Unisex-Bekleidung?
„Ich glaube, es existieren verschiedene Strömungen. Es gibt Menschen, die aus ihrer persönlichen Überzeugung speziell nach Unisex-Fashion suchen. Diese Kundengruppe ist aktuell sehr spitz, wächst aber. Und es gibt Menschen, ein viel größerer Anteil, die einfach etwas Neues, Innovatives, Cooles, Zeitgeistiges und so weiter suchen. Es ist ihnen völlig egal, ob dies jetzt für Frauen oder Männer designt wurde. Für diese Personen, zu denen ich mich auch persönlich zähle, ist ROSSI die perfekte Hose.“
Denken Sie, die Kategorien Womenswear/Menswear sind generell überholt?
„Die Frage, ob die klassischen Konzepte von Womenswear und Menswear generell überholt sind, wird viel diskutiert. Es gibt viele Ansichten und alle sind auf ihre Art und Weise richtig. Meiner Meinung nach sind die traditionellen Kategorien von Womenswear und Menswear zu eng definiert und werden nicht den vielfältigen und sich verändernden Bedürfnissen und Ausdrucksformen der Menschen gerecht. Ich befürworte wie gesagt den Ansatz des ‚New Now‘, in dem Fashion Ausdruck von Stil und Haltung jenseits von Gendergrenzen ist. Dass sich die Branche komplett von der Unterteilung löst, ist aber schwer vorstellbar und wäre auch nicht richtig. Ich weiß, dass sich innovative Stores schon sehr stark mit dem Thema auseinandersetzen und Konzepte entwickeln. In diesen Planungen spielen wir als Unisex-Hosenbrand eine wichtige Rolle, da wir in gewisser Art und Weise eine Alleinstellung haben.“
„Wir sind davon überzeugt, dass Mode DIE Möglichkeit ist, Identität auszudrücken!“
Der Onlinehändler zalando präsentiert sich offen in seiner Kategorisierung von Mode, die Berücksichtigung von Diversität nimmt einen wichtigen Stellenwert ein. FASHION TODAY hat den Konzern nach einem Statement zu seinen inklusiven Konzepten gefragt.
FT: Welche Bedeutung haben heutzutage die Kategorien Womenswear und Menswear für Sie? Inwieweit funktioniert für Sie Genderless Fashion und wie berücksichtigen Sie das Thema im Verkauf?
zalando: „Bei zalando wollen wir der Ausgangspunkt für Mode sein, die jeden willkommen heißt, unabhängig von Alter, Größe, Geschlecht, Herkunft oder sexueller Orientierung. Wir streben danach, ‚Inclusive by Design‘ zu sein und die Vielfalt unserer über 51 Millionen aktiven Kunden sowie unserer Mitarbeiter, Führungskräfte und Partner zum Leben zu erwecken. Dieses Engagement und die damit verbundenen Ziele spiegeln sich in unserer langfristigen Diversity- und Inklusionsstrategie do.BETTER wider. Im Grunde bedeutet es, dass wir ALLEN unseren Kunden ermöglichen wollen, modische Artikel zu finden, die ihnen die Gelegenheit geben, ihr wahres Selbst zum Ausdruck zu bringen. Wir sind davon überzeugt, dass Mode eine, wenn nicht sogar DIE Möglichkeit ist, die Identität einer Person auszudrücken, und deshalb sind Vielfalt und Inklusion in unserer Branche unerlässlich.
Eine der Verpflichtungen im Rahmen unserer D&I-Strategie besteht darin, unseren Kunden ein Erlebnis und eine Kommunikation zu bieten, die Vielfalt durch unsere Bilder, Sprache und Erzählungen widerspiegelt und feiert (zum Beispiel in unseren Marketingkampagnen). Wir ermutigen und unterstützen unsere Partner, dasselbe zu tun. Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst, authentische, repräsentative und integrative Inhalte zu erstellen, zum Beispiel porträtieren wir bei Fotoshootings häufig dieselben Produkte an Models, die sich als Männer, nicht binär oder Frauen identifizieren. Diesen Monat hat zalando eine spezielle Männerkampagne in der DACH-Region gestartet, die darauf abzielt, das Bewusstsein und die Aufmerksamkeit für unser Männersortiment zu steigern und Männer zu ermutigen, überholte Geschlechter-Stereotypen infrage zu stellen, Vielfalt selbstbewusst anzunehmen, sich mit einem eigenen Stil auszudrücken und eine eigene Interpretation von Männlichkeit zu leben, getreu dem Motto ‚Mann sein, wie man will‘.
Darüber hinaus arbeiten wir gemeinsam mit unseren Markenpartnern an mehreren Initiativen, um ein umfassenderes Modesortiment anzubieten. Unsere Arbeit an einem integrativen Sortiment ist vielfältig und umfasst beispielsweise die Einbindung von Black-owned Brands, Modest Fashion, Adaptive Wear oder Genderless Fashion. Für jeden dieser Bereiche ist zalando bestrebt, mit Marken zusammenzuarbeiten, die Experten auf dem jeweiligen Gebiet sind und die spezifischen Kundenbedürfnisse verstehen. Einige aktuelle Beispiele unseres Engagements für Genderless Fashion: Letzten Sommer haben wir eine geschlechtsneutrale Kapsel-Multibrand-Kollektion herausgebracht, in die die zeitgenössischen nordischen Marken HAN KJØBENHAVN, Martin Asbjørn, MAKIA und Double A by Wood Wood involviert waren und die exklusiv bei zalando erhältlich ist. Anfang 2023 brachten wir mit der niederländischen Designermarke FILLING PIECES eine größenunabhängige, genderneutrale Kapselkollektion auf den Markt, die Artikel wie ikonische FILLING-PEACES-Sneaker in Kombination mit Statement-Teilen wie einem geschlechtsneutralen Korsett umfasst, ebenso Gali-Stiefel mit Absatz im Größenbereich von 35 bis hin zu 46 sowie ökogegerbte Lederstücke. Inspiration für Genderless Fashion finden Kunden grundsätzlich auf einer eigenen Seite in unserem Fashion Store.
Ein Beispiel dafür, wie wir die Vielfalt unserer Kunden inspirieren und repräsentieren möchten, findet sich darüber hinaus in unserem ‚Style Creator Program‘ der Website-Rubrik ‚Get the Look‘. Modebewusste Menschen können hier Outfits und Inhalte erstellen, die unabhängig von Produktkategorie und Geschlecht ihren Stil widerspiegeln. Zudem haben wir Schritte unternommen, um unseren Kunden ein umfassend inklusives Erlebnis zu bieten. So können sich seit einigen Jahren Kunden im zalando-Shop registrieren, ohne binäre Geschlechtsinformationen eingeben zu müssen. Stattdesssen wählen sie ihre Modepräferenz aus. Wir fragen sie, welche Mode sie am meisten interessiert, ob Herrenbekleidung, Damenbekleidung oder keine Präferenz. Wie bereits erwähnt, sind alle diese Initiativen in die D&I-Strategie von zalando eingebunden, öffentlich zugänglich und werden regelmäßig in einem transparenten Fortschrittsbericht veröffentlicht.“