Autor: Markus OessDie Kehrtwende in der Corona-Politik Chinas zeigt, dass der Druck im Land zu groß wurde. Die Wirtschaft leidet und die Bevölkerung wurde ungeduldig. Aber kommt mit der Öffnung auch der Boom früherer Jahre zurück und was heißt das für die deutsche Bekleidungsindustrie?
Chinas Rolle in der Welt verändert sich nicht allein durch seinen Machtanspruch. Sie ändert sich auch durch die Wahrnehmung des Landes in der westlichen Welt. Jüngstes Beispiel ist die Aufregung um Spionageballons, die plötzlich über den USA und anderen Ländern gesichtet wurden. Ist es tatsächlich denkbar, dass die Chinesen unbemerkt Flugobjekte über ein hochgerüstetes Hightech-Land lenken können? Möglich. Möglich, dass für US-Präsident Joe Biden auch innenpolitische Erwägungen eine Rolle im Umgang mit den mutmaßlichen Spionageballons spielen. Ein anderes Beispiel ist der Taiwan-Konflikt, der wieder an Schärfe gewinnt. Der Streit um den Inselstaat schwelt nicht erst seit gestern und es gibt klar definierte rote Linien, die vonseiten der Schutzmacht Taiwans, der USA, und von China gleichermaßen nicht überschritten werden. China wird eine Souveränität Taiwans nicht akzeptieren, genauso wenig wie die USA den gewaltsamen Anschluss der Insel an China.
Krisen in der Region hat es zwischendurch immer gegeben. Auch solche mit kriegerischen Drohgebärden. Als noch Bill Clinton in den 1990er-Jahren Präsident der USA war, flogen schon einmal chinesische Raketen über Taiwan. „Fauchender Drache“, titelte der Spiegel im Dezember 1996. „Mächtigster Militäraufmarsch in Fernost seit dem Vietnamkrieg: Mit ihren Kriegsspielen vor Taiwan forderten die Pekinger KP-Bosse die USA heraus. Das rote Regime fühlt sich verunsichert durch die ersten demokratischen Präsidentschaftswahlen in der chinesischen Geschichte – Taiwans künftige Führung strebt nach mehr Unabhängigkeit“, schrieb das Magazin weiter. Clinton, schon im Wahlkampfmodus, schickte seinerseits den Flottenverband des Flugzeugträgers Independence mit knapp 60 Kampfjets vor Taiwans Nordküste. Ein zweiter Flugzeugträger, die Nimitz, machte sich ins asiatische Krisengebiet auf und drei Atom-U-Boote drehten ihre Runden vor Ort.
Die Zeiten, in denen es keinen direkten Reiseverkehr zwischen China und Taiwan gab, sind so lange nicht her. Erst seit 2008 gibt es erstmals seit 1949 wieder regelmäßige Flugverbindungen zwischen China und Taiwan. Hat sich also etwas verändert? „Peking lässt die Muskeln spielen und testet die Grenzen aus. Das war schon immer so. Neu ist, dass durch den Ukraine-Krieg das Bedrohungspotenzial in der westlichen Welt anders, konkreter wahrgenommen wird und die USA aktuell Taiwan strategische und auch öffentliche Aufmerksamkeit widmen. US-Präsident Biden hat in der Vergangenheit mehrmals gesagt, dass er eine militärische Einnahme oder Annexion Taiwans niemals akzeptieren würde und bereit sei zu handeln. Dazu kommt, dass auf den Philippinen ein US-Stützpunkt reaktiviert werden soll und auch Japan massiv aufrüsten will. Japan ist abgekommen von der Doktrin, die Armee allein auf die Verteidigung der eigenen Landesgrenzen auszurichten, und will schon früher mögliche Attacken abwehren können“, betont ein China-Experte, der selbst lange Jahre in China und Taiwan gelebt hat, gegenüber FT. „Allerdings zeigt der Ukraine-Krieg, dass die Risiken steigen und auch Unvorhergesehenes passieren kann“, sagt der Experte weiter. Noch aber hat die Ein-China-Doktrin Gültigkeit.
Allerdings führt der Ukraine-Krieg auch in der Wahrnehmung der eigenen Gefährdungslage zu einer Zuspitzung. Nur wenige hatten zu Beginn der militärischen Mobilmachung wirklich gedacht, Putin könnte den Angriffsbefehl tatsächlich erteilen. Die Maxime „Wandel durch Handel“ scheint ihre Gültigkeit in schmerzlicher Weise eingebüßt zu haben. So wird auch China in der öffentlichen Diskussion zum Klumpenrisiko, nachdem viele Konzerne lange Jahre viel Geld verdient und sich selbst in die Abhängigkeit hineinmanövriert haben. Nun werden chinesische Investitionen in deutsche Firmen völlig neu bewertet. Umgekehrt sehen manche Konzerne wie VW und SIEMENS immer noch keinen Anlass, die Waren- und Zahlungsflüsse strategisch umzuleiten, sprich einzudämmen.
Auch für die deutsche Bekleidungsindustrie ist China von zentraler Bedeutung. Gerd Oliver Seidensticker ist Präsident des Textilverbandes GermanFashion und Chef des gleichnamigen Textilunternehmens in Bielefeld. Seidensticker hat selbst lange in Asien gelebt und kennt die Zusammenhänge bestens. „Ehrlich gesagt, war meine Überraschung nicht allzu groß. Das musste irgendwann kommen, letztendlich war der Druck auf die Regierung so groß, dass selbst ein Xi Jinping nicht so weitermachen konnte. Ausgangssperren und Lockdowns haben der chinesischen Wirtschaft so massiv geschadet, dass die Notbremse gezogen wurde. Das Fass zum Überlaufen brachten dann die öffentlichen Proteste gegen die Non-COVID-Politik“, sagt Seidensticker gegenüber FT zur Kehrtwende Pekings. „China ist als Beschaffungsmarkt nach wie vor einer der wichtigsten, wenn nicht DER wichtigste Beschaffungsmarkt für die Branche. In den Zeiten der Pandemie sind allerdings die Lieferketten teilweise zusammengebrochen und es gibt immer mehr Unternehmen, die nach Sourcingmöglichkeiten europanäher suchen. Hier spielt Nordafrika eine Rolle, aber auch die Türkei. Die Türkei hat im ersten Halbjahr 2022 rund 40 Prozent gewonnen. Ein weiteres wichtiges Beschaffungsland, Bangladesch, hat China erstmalig in der Rangliste vom ersten Platz verwiesen“, ordnet er die Entwicklung des Landes in den zurückliegenden Jahren ein. Chinesische Firmen wandern inzwischen in billigere Produktionsländer wie Bangladesch oder Vietnam ab, auch um mögliche Wirtschaftssanktionen und Exportbeschränkungen zu umgehen.
Die strikte Null-COVID-Politik in den letzten beiden Jahren führte überdies zu einer verstärkten Abwanderung von ausländischen Fachkräften aus China. Seit der Amtseinführung des heutigen Staatspräsidenten habe die Regierung sukzessive auf mehr Abschottung sowie auf einen stärkeren Inlandskonsum gesetzt, betont Seidensticker: „Wir beobachten die Entwicklungen sehr genau, um den möglichen verbundenen Risiken und Unsicherheiten für unsere Beschaffungsaktivitäten in China rechtzeitig gegensteuern zu können.“
China als Absatzmarkt sei für deutsche Marken nach wie vor schwierig. Von Region zu Region herrschten sehr große Unterschiede und man müsse vor Ort schon sehr gut vernetzt sein, um dort einen Fuß in die Handelstür zu bekommen. „Aus diesem Grund liegt China nach wie vor nicht unter den TOP 25 der wichtigsten Exportländer der Branche und spielt eine untergeordnete Rolle“, sagt Seidensticker. Das gilt natürlich nicht für alle Marken. „Absatzseitig bleibt China nach wie vor ein wichtiger Markt für HUGO BOSS und mit dem Ende der Zero-COVID-Politik wird allgemein eine spürbare Erholung für die Modebranche erwartet“, antwortet eine Sprecherin auf FT-Anfrage. Die Metzinger verzeichneten 2022 ein Rekordjahr und steigerten ihren Umsatz um 31 Prozent auf 3,65 Milliarden Euro. In der Region Asien/Pazifik ging es immerhin noch um 10 Prozent auf 467 Millionen Euro nach oben. Auf dem chinesischen Festland gaben allerdings die Pandemie und rigiden Maßnahmen der Staatsregierung auch im Jahr 2022 den Takt vor und führten quartalsweise bis zu zweistelligen Umsatzeinbrüchen. Auch Brühl verkauft in China seine Hosen und das zu einem Durchschnittspreis von 230 Euro. Das ist überaus attraktiv, vergegenwärtigt man sich die Verkaufspreise der Marke hierzulande. Allerdings ist es das dann nicht mehr, wenn alles geschlossen wird. Maro Nachtrab, Chef der Rotenburger, erklärte gegenüber FT, dass zwischendurch nichts mehr ging. Nun hofft er wie alle, dass der Konsum wieder anzieht.
Nach Einschätzung der GTAI (Germany Trade and Invest – Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing, eine bundeseigene Marketing-Agentur für den Standort Deutschland) scheint zumindest in den großen Städten der Höhepunkt der Infektionswelle bereits überschritten. Auch wenn wegen der schlechten Datenlage unklar ist, wie stark ländliche Regionen betroffen sind, sieht es so aus, als sei das Gröbste durch. Selbst wenn im Herbst wieder die Fälle steigen, dürften die Ausbrüche lokal bleiben und damit auch die pandemiebedingten Ausfälle handelbar.
„Es gibt eine Besserung“, bestätigt auch Seidensticker ein Wiedererwachen der Produktion und die Rückkehr zu funktionierenden Lieferketten. Und auch wenn sich deutsche Unternehmen alternative Beschaffungsmärkte suchten, gebe es den Gegentrend und sourcten Unternehmen auch wieder vermehrt in China. „Die Stärken von China sind nach wie vor ein hohes Qualitätslevel, gutes Verständnis für deutsche Marken, hohe Effizienz und Sicherheit, gute Infrastruktur und hoher Digitalisierungsgrad“, sagt Seidensticker. Die Lage hinsichtlich der Lieferkettenproblematik innerhalb Asiens normalisiert sich ebenso für HUGO BOSS wieder. Der Konzern lege Wert auf einen regional ausgewogenen strategischen Beschaffungsmix. Auch adidas sieht aktuell keine wesentlichen coronabedingten Einschränkungen bei seinen chinesischen Zulieferern.
Und die Menschrechte? „adidas stellt seit mehr als 25 Jahren mit vielfältigen Maßnahmen faire und sichere Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten seiner Lieferkette sicher. Ein Team von weltweit rund 50 Fachleuten arbeitet in den Lieferländern täglich an der Anwendung und Einhaltung unserer Arbeitsplatzstandards. Im Jahr 2021 führte adidas mehr als 1.200 Fabrikaudits bei Zulieferern durch. Bei Verstößen gegen unsere Standards gibt es einen Sanktionsmechanismus bis hin zur Beendigung der Geschäftsbeziehung“, sagt ein Unternehmenssprecher der Sportmarke.
GermanFashion erklärt, es gebe keine hundertprozentige Sicherheit. „Doch wir empfehlen unseren Mitgliedern drei Maßnahmen, um sich dort abzusichern. Erstens: Wir raten dazu, den Code of Conduct in das Vertragswerk mit aufzunehmen und sich sowohl diesen als auch die Einhaltung des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes schriftlich bestätigen zu lassen. Zweitens: In diesem Zusammenhang ist der darin enthaltene Beschwerdemechanismus von großer Bedeutung, damit die Unternehmen von Missständen erfahren können, da es in China keine Gewerkschaft gibt. Drittens: Frei nach dem Motto ,Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser‘ sollten Audits und Monitorings vorgenommen werden“, sagt Seidensticker.
China bleibe einer der wichtigsten Partner, werde jedoch zugleich immer deutlicher zum systemischen Wettbewerber, heißt es vom Branchenverband BDI. „Auf diese neue Realität muss sich die deutsche Industrie einstellen. Es gilt, die marktwirtschaftliche Ordnung in Deutschland und Europa widerstandsfähiger zu machen. Gleiche und faire Wettbewerbsbedingungen und das Prinzip der Gegenseitigkeit stehen dabei im Mittelpunkt.“ China kommt zurück, allerdings wird die Wirtschaftsmacht mit niedrigeren Wachstumsraten auskommen müssen. Der demografische Wandel wird spürbar und der Fachkräftemangel schlägt auf die Wachstumsperspektiven des Landes durch. Ihm beginnt, die Zeit davonzulaufen. „China wird arm, bevor es alt wird“, sagt der China-Kenner. Dazu kommt die Immobilienblase, die zwar nicht zu platzen droht, aber kontinuierlich Luft verliert. Schätzungen gehen davon aus, dass die Immobilienwirtschaft bis zu einem Drittel von Chinas Bruttoinlandsprodukt (BIP) ausmacht. Das Land ist hoch verschuldet. Davon kommt ein erheblicher Anteil aus Immobiliengeschäften und von unrentablen Staatsfirmen, die am Tropf hängen, um Arbeitsstellen nicht zu gefährden. Der IWF rechnet für China mit einer anhaltend wachsenden Staatsverschuldung von knapp 78 Prozent 2022 bis auf rund 95 Prozent am BIP im Jahr 2027. Schulden kosten Geld. Und da gibt es noch das Problem mit den Halbleitern. Es sieht nicht so aus, als könne das Reich der Mitte darauf hoffen, zumindest mittelfristig und aus eigener Kraft Zugriff auf die wichtige Querschnittstechnologie zu bekommen und damit zum wirklichen Hochtechnologieland aufzusteigen, wie es der eigene Anspruch fordert. Das ist ein Trumpf im weltpolitischen Poker, den die USA kaum aus der Hand geben werden. Laut IWF sollen sich bis zum Jahre 2027 die Zuwächse des realen Bruttoinlandsprodukts auf 4 Prozent einpendeln. Das ist immer noch viel, aber nicht mehr die gleiche Dynamik wie noch vor der Pandemie.