Chinese Whispers und die Lust an Billig

SHEIN

„Dank der stilistischen Vielfalt und dem günstigen Preis bietet SHEIN die Möglichkeit, Styles auszuprobieren, und ich denke, das spielt vor allem für jüngere Teenager, die sich noch suchen, eine große Rolle." Merle ©privat

Autor: Andreas Grüter
Kopierte Designs, miese Arbeitsbedingungen, intransparente Lieferketten, mit gefährlichen Chemikalien durchtränkte Ware, Greenwashing – die Geschichte des 2008 gegründeten Ultra-Fast-Fashion-Giganten SHEIN ist gespickt mit einer Vielzahl umfangreich belegter Skandale. Warum der chinesische Billigheimer wohl dennoch erst mal auf Erfolgskurs bleibt, haben wir uns von der Basis erklären lassen.

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SHEIN ist ein Phänomen, dem man nicht so einfach auf die Schliche kommt. Schon gar nicht, wenn man wie ich ein Dude der Generation X ist. Schließlich war der Einkauf bei Billiganbietern wie etwa Woolworth noch bis zum Ende der Achtziger modisch ein absolutes No-Go. Wer es trotzdem tat, tat es mit gesenktem Haupt und war sich des Spotts seiner Peergroup sicher. H&M, Zara und Co. leiteten schließlich die Zeitenwende hin zur Akzeptanz der Fast Fashion ein und Primark drückte noch einmal kräftig aufs Gas. SHEIN legte bei seiner Gründung im Jahr 2008 direkt den Turbo ein und schießt seitdem 7.000 bis 8.000 neue Teile raus – und zwar täglich! Ein durchaus gewagter Move, der sich für das primär online agierende Unternehmen jedoch gelohnt hat. So erwirtschaftete man im Jahr 2021 einen Umsatz von 16 Milliarden Euro und wurde auf einen Wert von 100 Mrd. Euro geschätzt – mehr als Zara und H&M zusammen.

Um den Hype um SHEIN, den „erfolgreichsten Modekonzern der Welt, den kein Erwachsener kennt“ (SPIEGEL ONLINE), zu verstehen, habe ich kurzerhand meine 18-jährige Nichte Merle zurate gezogen und ihr stellvertretend für die Zielgruppe einige Fragen gestellt.

FT: Wie wichtig ist dir Fashion, welchen Style bevorzugst du und wie informierst du dich über Mode?
Merle: „Generell ist mir Fashion schon sehr wichtig, allerdings habe ich keinen spezifischen Style. Ich würde sagen, dass ich über Social Media influenced werde. Was ich dort an Trends sehe, beeinflusst meinen modischen Geschmack. Wahrscheinlich gehe ich stilmäßig ein Stück weit mit der Masse, aber natürlich habe ich auch einige ganz individuelle Teile im Schrank.“

Was sind deine Lieblingslabels?
Ich kaufe eigentlich nicht nach Labels, sondern danach, ob mir ein Teil gefällt. Wenn ich allerdings gute Erfahrungen mit einer Brand gemacht habe, schaue ich mir das Angebot auch schon mal gezielt an, wenn ich auf der Suche nach neuen Klamotten bin.“

„SHEIN habe ich etwa 2019 über Social-Media-Influencer wie Bianca Claßen mit ihrem BibisBeautyPalace kennengelernt. Die haben massive Werbung für das Unternehmen gemacht und Rabattcodes an ihre Follower verteilt. Die eh schon günstigen Klamotten wurden so noch günstiger.”

Wann und wie wurdest du zum ersten Mal auf SHEIN aufmerksam?
„SHEIN habe ich etwa 2019 über Social-Media-Influencer wie Bianca Claßen mit ihrem BibisBeautyPalace kennengelernt. Die haben massive Werbung für das Unternehmen gemacht und Rabattcodes an ihre Follower verteilt. Die eh schon günstigen Klamotten wurden so noch günstiger. Zudem arbeitet SHEIN selbst auch noch mit vielen Rabatten und Aktionen. Als junger Teenie mit wenig Taschengeld, aber viel Interesse an Mode spricht einen das natürlich noch einmal ganz besonders an. SHEIN war in meinem Freundeskreis damals ein richtig großes Ding und wir haben sehr viel dort gekauft. Später kamen dann die ersten Social-Media-Posts, die sich kritisch mit dem Unternehmen und vor allem den Arbeitsbedingungen auseinandersetzten, unter denen die Bekleidung hergestellt wird. Da haben wir dann auch viel drüber diskutiert.“

Hat dich die Mode von SHEIN sofort überzeugt und wenn ja, warum?
„Na ja, ich hatte halt meine Lieblingsinfluencer, deren Style ich mochte. Die wiederum promoteten SHEIN, und so kam für mich dann eins zum anderen. Nicht zuletzt bietet das Unternehmen in seinem Programm ja eine unglaubliche stilistische Vielfalt. Man findet dort quasi alles.“

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Bestellst du dort nach wie vor regelmäßig?
„Ich kaufe dort heute definitiv sehr viel weniger, habe aber die Option stets im Hinterkopf. Vor allem wenn es um Events wie etwa den jetzt anstehenden Karneval geht, ist SHEIN für mich eine gute Adresse, um günstig an die passenden Klamotten zu kommen.“

Bist du qualitativ mit der Ware zufrieden?
Qualitativ kommt es tatsächlich auf das jeweilige Kleidungsstück an. Manche Pieces sind da besser, andere schlechter. Ich bin mal zufrieden und mal unzufrieden.“

Das heißt, dass nicht jedes SHEIN-Kleidungsstück bereits nach der ersten Wäsche komplett auseinanderfällt?
„Nein, das passiert nicht. Man kann die Teile schon öfter tragen, aber sie sind natürlich nicht für die Ewigkeit gemacht. Sie laufen im Vergleich mitunter stärker ein, reißen häufig auch schneller und nach mehreren Waschgängen fühlt sich der Stoff dann auch nicht mehr so richtig angenehm auf der Haut an. Eine Saison halten sie aber meist trotzdem durch.“

Du bist ja, wie du sagst, jetzt ein Stück weit weg davon, größere Mengen bei SHEIN zu bestellen. Liegt das daran, dass du mit deinen 18 Jahren alterstechnisch so langsam aus der Zielgruppe herausfällst, oder spielen die Kritikpunkte, die du eben selbst angesprochen hast, auch eine Rolle?
„Dank der stilistischen Vielfalt und dem günstigen Preis bietet SHEIN die Möglichkeit, Styles auszuprobieren, und ich denke, das spielt vor allem für jüngere Teenager, die sich noch suchen, eine große Rolle. Je älter man wird, desto mehr entwickelt sich der eigene Stil. Ich weiß mittlerweile, was mir auch auf längere Sicht gefällt, und greife dementsprechend auf Mode zurück, die wertiger ist, länger hält und hoffentlich auch unter okayen Bedingungen produziert wird. Also ja, ich bin mittlerweile wohl wirklich ein Stück weit aus der Zielgruppe gefallen. Apropos Arbeitsbedingungen: Ich glaube, dass immer klar war, dass Pieces, die so günstig verkauft werden, nicht fair hergestellt sind. Man hat das als Kid halt lange ausgeblendet, aber mit der Kritik, die auch auf den Social-Media-Kanälen vieler Influencer immer lauter wurde, wuchs auch das Bewusstsein für solche Themen. Hinzu kommt, dass ich mir vermehrt Gedanken über die Auswirkungen der Chemie in den Stoffen gemacht habe. Nicht nur bezogen auf die Umwelt, sondern auch auf meinen Körper. Man hat ja beim Tragen den direkten Hautkontakt und ich habe da bei einigen SHEIN-Styles schlechte Erfahrungen gemacht …“

Wie verhält es sich in deinem Freundeskreis mit den Bestellungen bei SHEIN?
„Ein Großteil meiner Freunde ist ein Stück weit auf Abstand zu SHEIN gegangen. Allerdings gibt es auch einige Leute, die nach wie vor sehr viel dort bestellen. Das wird dann mit dem Preis und dem schnellen Service begründet.“

Spielen auch andere Themen wie etwa Designklau oder minderwertige Qualität in euren Gesprächen eine Rolle?
„Ja, auf jeden Fall. Allerdings ist es ja so: Gerade begehrte Designteile, die man gerne hätte, sich aber nicht leisten kann, sind mitunter der Grund, bei SHEIN einzukaufen. Schließlich findet man dort Pieces, die dem Original sehr ähnlich sind, aber nur einen Bruchteil kosten.“