Autorin: Eva Westhoff2022 wird Großbritannien aus den Top Ten der deutschen Handelspartner fallen. Das geht aus einer Analyse der Germany Trade and Invest (GTAI), deren Alleingesellschafterin die Bundesrepublik Deutschland ist, hervor. Eine bezeichnende Bilanz, zwei Jahre, nachdem das Vereinigte Königreich im Zuge des Brexits aus dem EU-Binnenmarkt und der EU-Zollunion ausgeschieden ist.
Bereits im Juni 2016 entschieden sich in einem Referendum 52 Prozent der Briten für den Austritt aus der Europäischen Union. Doch die Brexitverhandlungen zwischen der EU-Kommission und Großbritannien zogen sich hin, das britische Unterhaus stellte sich mehrmals quer. Das Vereinigte Königreich war seit dem Referendum tief gespalten, im Juni 2019 trat Premierministerin Theresa May zurück. Ihr Nachfolger wurde Boris Johnson und nachdem die Tories die Parlamentswahl im Dezember 2019 für sich entschieden hatten, zeichnete es sich dann deutlich ab: Der (geordnete) Brexit kommt. Johnson brachte das mit Brüssel ausgehandelte Brexitabkommen durch das Parlament und am 31. Januar 2020 trat Großbritannien nach mehr als 40 Jahren Mitgliedschaft aus der EU aus.
Nach Ablauf einer Übergangsfrist ist Großbritannien seit Januar 2021 auch nicht mehr Mitglied des EU-Binnenmarkts und der EU-Zollunion. Zwar sichert der Brexithandelsvertrag vielfach Zollfreiheit. Doch der Handel wird durch bürokratischen Mehraufwand erschwert. Die Notwendigkeit von Arbeitsvisa verkompliziert die Situation auf dem Arbeitsmarkt.
Auch die Bekleidungsbranche spürt die Brexitfolgen. FT hat Gerd Oliver Seidensticker, Präsident GermanFashion Modeverband Deutschland e.V., zu Zahlen und Fakten befragt. Wie stellt sich die Situation für die deutsche Modeindustrie dar und wie beurteilt er sie als geschäftsführender Gesellschafter der seidensticker group?
FT: Herr Seidensticker, welche Bedeutung hatte Großbritannien für die deutsche Modeindustrie vor dem Brexit beziehungsweise bevor feststand, dass dieser kommen wird? Über welche Umsätze reden wir?
Gerd Oliver Seidensticker: „UK war vor dem Brexit unter den Top Ten der Exportmärkte der deutschen Modeindustrie. Viele Hersteller hatten auch in UK einen Unternehmenssitz. 2018 lag UK auf der Rangliste der Exportländer auf Platz 6. Der Ausfuhrwert für Bekleidung lag laut Statistischem Bundesamt bei etwa 1,028 Milliarden Euro. 2019 waren es Platz 7 und ein Ausfuhrwert von etwa 1,044 Milliarden Euro.
Im Brexitjahr ist der Exportumsatz zunächst stark eingebrochen, mit minus 22 Prozent 2020 im Vergleich zum Vorjahr. In 2021 folgte ein weiteres Abrutschen um minus 12 Prozent. Im ersten Halbjahr 2022 scheint sich die Situation stabilisiert zu haben: UK-Exporte machten wieder ein Plus von 14 Prozent aus und UK belegte Platz 10 der Exportmärkte der deutschen Modeindustrie.
Aus Unternehmenssicht von seidensticker gehört UK seit jeher quasi zu den Kern-Exportmärkten der Marke seidensticker. Der Brexit und die Pandemie haben sich vom Effekt her eigentlich vermengt und sich gemeinsam sehr stark negativ auf den Absatz ausgewirkt. Zu verzeichnen sind circa bis zu 70 Prozent Minus im Vergleich 2019 und 2021. Erst im laufenden Jahr 2022 erzielen wir ein deutlich zweistelliges Plus zum Vorjahr und die Trends zeigen auch für das Folgejahr eine weitere positive Entwicklung.“
„Zentraler Punkt, auf den man sich relativ wenig vorbereiten konnte, waren und sind die großen Lieferschwierigkeiten.“
Wie hat sich die deutsche Modeindustrie auf den Brexit vorbereitet? Mit welchen Schwierigkeiten war man konfrontiert und welche Probleme sah man kommen?
„Zentraler Punkt, auf den man sich relativ wenig vorbereiten konnte, waren und sind die großen Lieferschwierigkeiten. Bevor der Brexit in Kraft trat, haben die Hersteller noch so viele Produkte wie möglich nach UK geliefert. Hier erinnern wir uns an die langen Lkw-Schlangen an der Grenze … Das ist natürlich nun vorbei, aber die Logistik ist sehr schwierig.
Für die Hersteller von Persönlicher Schutzausrüstung (PSA) gibt es zusätzliche Auflagen bei der Zertifizierung, sodass sich der Export von PSA-Produkten in das Vereinigte Königreich erheblich erschwert hat.
seidensticker musste die neu entstandene Situation und den damit verbundenen Mehraufwand bei Frachten und Zoll früh in der Preiskalkulation berücksichtigen. Dass es dabei zu Reibungsverlusten kommen konnte, wurde planerisch einkalkuliert. Auch das anfänglich holprige Zusammenspiel zwischen der UK-Zollbehörde, den Speditionsunternehmen und den Kunden wurde von uns erwartet, nicht jedoch der Umstand, dass es bis heute noch immer nicht verlässlich abläuft.“
Sehen Sie Chancen auf Besserung, etwa durch eine politische und wirtschaftliche Wiederannäherung zwischen der EU und UK? Oder wird UK für die Bekleidungsindustrie weiter an Bedeutung verlieren?
„Wie wir an den Zahlen sehen, versuchen die deutschen Hersteller weiterhin, Produkte nach UK zu liefern, und konnten diesbezüglich auch aufholen. UK ist und bleibt ein wichtiger Markt.
UK bleibt auch für seidensticker ein Fokusmarkt, wird aber voraussichtlich erst 2024 wieder die Ergebnisse aus 2019 erreichen. Der Modefacheinzelhandel in UK arbeitet trotz Brexit bis heute sehr stark mit Marken und Lieferanten aus Deutschland zusammen. Eine etwaige Wiederannäherung zwischen EU und UK würde sich deshalb gegebenenfalls eher nur im Bereich der Logistikprozesse positiv für uns auswirken.“
„Für die Produkte aus UK sieht es deutlich schlechter aus.“
Der Export ist die eine Seite. Was hören Sie in der Branche über die Importe aus UK?
„Für die Produkte aus UK sieht es deutlich schlechter aus. Scheinbar wirken sich die Hürden, die sich dadurch ergeben, dass Deutschland nun ein Drittland für UK ist und kein freier Handel mehr möglich, hemmend aus. Dies zeigt die Importstatistik: Laut Statistischem Bundesamt belegte in 2018 und 2019 UK bezogen auf sämtliche Bekleidungsprodukte Platz 14, im ersten Halbjahr 2022 war es Platz 24.“
Gibt es Alternativmärkte, die inzwischen angegangen oder zumindest verstärkt bearbeitet werden? Und wie beeinflusst der Ukrainekrieg mit all seinen Folgen – den Sanktionen und der Energiekrise sowie der Inflation – die aktuelle Entwicklung?
„Die Branche ist immer auf der Suche nach neuen Märkten, insbesondere, da zu den Schwierigkeiten auf dem britischen Markt hinzukommt, dass der russische Markt so gut wie weggefallen ist. Das ist für viele Unternehmen ein herber Schlag, da Russland ein wichtiger Absatzmarkt war. Wir bemerken, dass zunehmend der amerikanische Markt interessant wird. Die Ukraine selbst war ein nicht unbedeutendes Produktionsland für deutsche Hersteller. Auch hier müssen die Unternehmen flexibel und schnell reagieren und neue Importländer suchen. seidensticker kompensiert die Verluste aus den genannten Märkten zum Teil durch die weitere Expansion mit führenden Playern aus dem grenzübergreifenden Online-Modehandel.“