Autorin: Katja VadersDer in Münster geborene Fotograf Andreas Bleckmann lebt schon seit über 25 Jahren in Großbritannien. Vor wenigen Jahren siedelte er von London in die südenglische Hafenstadt Hastings um, die ihn zu seinem aktuellen Langzeitprojekt „Rock-A-Nore“ inspirierte: Porträts von Menschen, die ihm auf der hiesigen Strandpromenade begegnen. FT sprach mit dem Fotografen über seinen Weg von Münster über New York nach Hastings, seine Kunst und darüber, wie der Brexit seine Wahlheimat Großbritannien und das Leben ihrer Einwohner verändert hat.
FT: Andreas, du bist in Westfalen geboren und aufgewachsen, hast viele Jahre in New York gelebt und bist schließlich in Hastings im englischen East Sussex gelandet. Wie kam es dazu?
Andreas Bleckmann: „Meine Eltern hatten in Münster eine Drogerie und Parfümerie, die sie in der zweiten Generation führten. Natürlich wollten sie, dass ich den Laden irgendwann einmal übernehme – ich bin der älteste Sohn –, und haben mich auf die höhere Handelsschule gesteckt. Leider hatte ich dazu aber überhaupt keine Lust. Meine Eltern hatten einen guten Ruf in Münster und ich war dementsprechend auch bekannt wie ein bunter Hund und musste mich immer benehmen. (lacht) Als dann irgendwann Punkrock nach Deutschland kam, habe ich mir die Haare grün gefärbt. Ich war dann zwar immer noch ,der Sohn der Bleckmanns‘, aber jetzt wirklich ein bunter Hund, und das gefiel mir. Mitte der 1980er-Jahre bin ich weg aus Münster, war kurze Zeit in Berlin und Köln, bis ein Freund von mir 1984 nach New York zog. Kurze Zeit später bin ich ihm gefolgt und wollte eigentlich nur drei Monate bleiben. Daraus wurden dann aber zwölf Jahre …“
Wie bist du zur Fotografie gekommen?
„Ich habe mich damals schon sehr für Fotografie interessiert. Da ich in dem Bereich keine Ausbildung hatte, bewarb ich mich als Assistent bei Fotografen, deren Arbeit ich gut fand. Das ging ungefähr vier, fünf Jahre so, in denen ich mir alle Stile anschaute, um möglichst viel zu lernen: Foodfotografie, Mode, Stillleben, Werbung … Irgendwann hat es mir dann aber gereicht, immer nur zu assistieren. Ich habe mir ein sehr fokussiertes Portfolio mit Porträtaufnahmen von Freunden und Bekannten zusammengestellt und es überall rumgezeigt – aber es hat sich niemand bereit erklärt, mir eine Chance zu geben.“
„London war damals so etwas wie das Mekka für Fotografen, was Magazine anging.“
Hast du deshalb New York verlassen?
„Ja, das war der Grund, 1996 nach London zu gehen – die Stadt war damals so etwas wie das Mekka für Fotografen, was Magazine anging. Es gab The Face, die ID oder Dazed and Confused, die weltweit als Leading Edge in Musik und Jugendkultur galten. Im Gegensatz zu New York kam mein Portfolio hier total gut an. Nach nur drei Wochen hatte ich meinen ersten Job: für The Face – ein absoluter Traum! Der zweite Job kam gleich hinterher. Man rief mich an: ,Andreas, was machst du morgen? Hast du Zeit und Lust, eine Band zu fotografieren? Die nennen sich Spice Girls.‘ Von denen hatte ich noch nie etwas gehört, sie wurden seinerzeit gerade erst in England bekannt. Ich habe die fünf Mädchen dann tatsächlich am nächsten Tag für The Face fotografiert und plötzlich hörte mein Telefon regelrecht nicht mehr auf zu klingeln.“
Kein Wunder, The Face war seinerzeit eines der innovativsten und besten Magazine überhaupt, das ständig neue Standards in Mode, Grafikdesign, Musik und Fotografie setzte.
„Ja, sie waren den Trends immer voraus. Und das war wohl auch der Grund dafür, warum es mit den ersten Face-Jobs für mich auf einmal auch in den USA lief. Plötzlich rief mich zum Beispiel die New York Times an und ich konnte für sie und für andere tolle Kunden dort arbeiten.“
Du hast zu dieser Zeit aber auch eigene Arbeiten gemacht, die definitiv für einen neuen Stil standen: Fotos, die aussahen wie Schnappschüsse, nur Ausschnitte zeigten und nicht den ganzen Menschen. So etwas hatte man vorher so noch nicht oft gesehen …
„Es gab zu dieser Zeit definitiv zwei Fotografen, die diesen Stil geprägt haben: Wolfgang Tillmans und Juergen Teller. Die fand ich seinerzeit sehr interessant – wie übrigens auch alles, was in der Szene in London um mich herum geschah, in der ich unterwegs war. Ich kam ja eher aus der kommerziellen Fotografie und Tillmans und Teller haben einen künstlerisch-akademischen Background, der mir fehlte.“
Obwohl du zu Beginn der 2000er eine Karriere als Fotograf gestartet und sehr viel in Europa und den USA gearbeitet hast, ging es irgendwann nicht mehr weiter – bis du schließlich komplett aufgehört hast zu fotografieren. Warum?
„Bei den vielen Jobs, die ich gemacht habe, kamen irgendwann einige Aufträge, die ich vielleicht nicht hätte machen sollen. Strategische Fehltritte, was meine Karriere anging. Zu dieser Zeit habe ich mich beziehungsweise meinen eigenen Stil dann wohl irgendwie verloren. Diese ganzen Werbejobs waren zwar sehr lukrativ, haben mich aber gleichzeitig auch immer weiter von dem künstlerischen Editorialbereich entfernt. Ich habe mich dann nicht mehr um Magazinjobs oder freie Arbeiten gekümmert. Hinzu kam, dass meine Lebenspartnerin Nicky ein Modelabel gegründet hat, für das ich die Kataloge und alles Weitere fotografiert habe und in das ich auch sonst immer mehr eingestiegen bin. Wir waren sehr viel zusammen unterwegs, sind zweimal im Jahr nach Mailand und Paris gereist …“
Trotzdem seid ihr inzwischen von London nach Hastings umgezogen. Was war der Grund, die Metropole zu verlassen?
„Nicky hat nach elf Jahren ihr Modelabel aufgegeben. Das war eine Zeit des Umbruchs, auch, weil wir keine Lust mehr hatten, in London zu leben, sondern ans Meer wollten. Die Stadt hatte uns einfach nichts mehr zu bieten. Wir haben uns alle möglichen Küstenorte wie Ramsgate oder Margate angeschaut – bis wir Hastings für uns entdeckt haben. Die Stadt ist zwar nur zwei Autostunden von London entfernt, es gibt aber keine direkte Autobahnverbindung. Daher ist Hastings ein bisschen isolierter als viele andere Küstenorte, was uns gefallen hat. Wir konnten dann günstig ein Haus kaufen, das allerdings sehr renovierungsbedürftig war, da hat es buchstäblich reingeregnet. Nicky macht unter anderem Interior Design und daher konnten wir das Haus nach und nach komplett selbst renovieren. Das hat drei Jahre gedauert und in der Zeit habe ich überhaupt keine Fotos mehr gemacht, weil wir so sehr mit der Renovierung beschäftigt waren.“
Inzwischen fotografierst du aber wieder!
„Stimmt, und dazu gibt es eine Geschichte. Während wir noch in der Renovierungsphase waren, ist man in unser Haus eingebrochen. Wir haben diese klassischen Schiebefenster, die man nicht richtig schließen kann, und als wir für eine Stunde draußen unterwegs waren, ist jemand bei uns durchs Fenster eingestiegen. Alle Wertsachen waren weg, darunter auch mein Computer und meine Kameras. Das war ein Desaster für mich! Etwa zwei Jahre später erzählte mir ein Freund, dass er im Fenster eines Ladens eine Kamera entdeckt hätte, die genau wie meine gestohlene Rolleiflex aussehen würde. Ich bin dann da sofort hin und es war tatsächlich meine – ich konnte sie anhand der Seriennummer identifizieren. So ist dann meine Kamera zu mir zurückgekommen und mir war sofort klar: Jetzt muss ich sie auch wieder benutzen!“
Und das machst du: Du hast im Jahr 2019 ein neues Projekt mit dem Namen „Rock-A-Nore“ gestartet, für das du Menschen porträtierst, die dir auf den Straßen oder am Strand von Hastings begegnen. Wie kam es zu der Idee zu dieser Fotoserie?
„Mir war in Hastings gleich aufgefallen, dass ich die Menschen hier viel interessanter fand als in London. Ich ging also mit der Kamera zur Strandpromenade und zum Rock-A-Nore, so nennt sich hier ein Abschnitt des Strands, und fing an, Fotos von ihnen zu machen.“
„Irgendwie sehen die Menschen in Münster alle gleich aus.“
Deine Porträts sind keine Schnappschüsse, sondern folgen einem sehr durchdachten Konzept.
„Ja, das ist mir sehr wichtig. Es ist tatsächlich das erste Mal, dass meine Bilder eine konzeptionelle Kontinuität haben. Die Menschen, die ich porträtiere, stehen immer in der Mitte des Bildes, alle Fotos haben das gleiche Format und ich verwende natürliches Tageslicht. Im Hintergrund sollte man keine anderen Menschen sehen, die den Blick ablenken könnten. In Hastings hat man in diesem Zusammenhang natürlich den Vorteil, dass man mit dem Meer und dem weiten Himmel sehr leicht einen perfekten Hintergrund hinbekommt. Außerdem fotografiere ich immer mit meiner Rolleiflex, analog und niemals digital. Ich bin sehr rigoros darin, dieses Konzept beizubehalten. Die Filme sind dieser Tage ziemlich teuer, 70 Pfund für fünf Rollen mit jeweils zwölf Aufnahmen. Was mich dazu zwingt, langsamer und reduzierter (maximal drei Aufnahmen für eine Person) zu arbeiten. Obwohl meine Rolleiflex schon eine recht alte Kamera ist (Baujahr1960), macht sie Bilder von sehr guter Qualität. Wichtig für meine Arbeit ist auch, dass bei der Kamera der Sucher oben ist, ich die Menschen also nicht direkt anschaue, wenn ich sie fotografiere. Daher sind sie beim Fotografieren meiner Meinung nach viel relaxter.“
Nach welchen Kriterien suchst du die Menschen aus, die du porträtierst?
„Hastings ist eine Fischereistadt. Daher fing ich auch damit an, Fischer zu fotografieren. Zuerst hatte ich eine große Hemmschwelle, sie anzusprechen. Die Fischer sehen teilweise ziemlich hart und einschüchternd aus – weil die Fischerei auch sehr harte Arbeit ist, die im Prinzip schon vor tausend Jahren genauso abgelaufen ist wie heute. Komischerweise waren aber alle ganz offen und ich wurde sehr gut aufgenommen in der Fischer-Community. Bald kannten mich alle und grüßten sehr nett, wenn ich vorbeikam!“
„Und dann sehe ich zum Beispiel jemanden mit einem banalen Hut oder einem übergroßen Kopfhörer, was mich dazu motiviert, sie anzusprechen.“
Inzwischen fotografierst du aber nicht nur Fischer, sondern alle möglichen Menschen, die dir begegnen.
„Speziell am Wochenende kommen viele Touristen nach Hastings, meist aus London. Da sind immer wieder ziemlich exzentrische Leute dabei, die ich interessanterweise gar nicht gesehen habe, als ich noch in London gelebt habe. Das liegt vielleicht daran, dass dort jeder Stadtteil seine ganz spezielle Szene hat und ich die ganze Zeit nur im Osten gewohnt habe. Das war dann also plötzlich extrem spannend, diese Menschen zu sehen und zu fotografieren. Ich gehe gern zu einem sehr großen Parkplatz direkt an der Seafront, auf dem mir immer wieder besondere Charaktere begegnen. Und dann sehe ich zum Beispiel jemanden mit einem banalen Hut oder einem übergroßen Kopfhörer, was mich dazu motiviert, sie anzusprechen.“
Du hast neulich bei einem deiner Bilder auf Instagram das Hashtag „August Sander“ benutzt. Sind seine Arbeiten eine Inspirationsquelle für dich?
„Auf jeden Fall, er beeinflusst meine Arbeit schon sehr lange, genauso wie die Fotos von Garry Winogrand und Diane Arbus – das sind für mich Schlüsselfiguren und deren Arbeiten gehörten zu den ersten Fotobüchern in meinem Regal.“
Neben den Porträts, die du in Hastings aufgenommen hast, gibt es noch Bilder, die dem gleichen Konzept folgen, die du aber in Münster fotografiert hast.
„Ja, ich war ja eine längere Zeit in Münster, als meine Mutter im Sterben lag. Seinerzeit hatte ich in Hastings gerade angefangen, die Fischer zu fotografieren. In Münster gab es natürlich keine Fischer, dafür aber sehr viele Geistliche. Ich stellte mich auf den Domplatz und wartete, bis interessante Leute vorbeikamen, allerdings vergeblich. Irgendwie sehen die Menschen in Münster alle gleich aus. Es gab also nichts Exzentrisches – bis auf die Geistlichen. (lacht) Daher habe ich dann die fotografiert. Vielleicht, aber nur vielleicht ist das auch einer der Gründe, warum ich nicht mehr in Münster wohne.“
Du lebst schon seit vielen Jahren in Großbritannien. Was hat sich seit dem Brexit verändert? In Hastings haben sicherlich viele Einwohner, die in der Fischereiindustrie arbeiten, für den Brexit gestimmt. Wie sieht man das Ganze heute – auch, was die aktuelle politische Instabilität und die wirtschaftlichen Probleme des Landes angeht?
„Die Fischer sind alle Brexiteers – da sie aufgrund der Auflagen der EU zu viele Abgaben hatten, haben sie für den Austritt gestimmt. Nach dem Brexit geht es ihnen leider immer noch genauso dreckig wie vorher und sie fühlen sich deshalb zu Recht betrogen – und da sind sie nicht die Einzigen. Insgesamt redet man in Großbritannien sehr wenig über den Brexit – obwohl allen klar ist, dass die Situation, in der sich das Land gerade befindet, vor allem vom Brexit verursacht wurde. Diejenigen, die für den Austritt gestimmt oder ihn sogar verursacht haben, behaupten jedoch, wir seien halt gerade in etwas schwierigen Anfangsjahren, damit habe man gerechnet und das werde sich alles wieder einrenken.“
Wie wirkt sich die Situation für dich persönlich aus?
„Da meine Partnerin Nicky Interior Design macht (www.oldtownhaus.com), hat sie sehr oft Dinge in ganz Europa gekauft. Das verursacht inzwischen eine riesige Menge Papierkram und daher lässt sie es. Auch ich persönlich kaufe nichts mehr in Europa, zum Beispiel über eBay, und die Leute vom Kontinent kaufen immer weniger in Großbritannien. Ich habe mal ein paar Fotobücher verkauft, aber auch das gab nur Ärger. Der Zoll hat bei einer Kundin aus Frankreich seinerzeit ihr Buch nicht mehr rausgerückt. Eine Katastrophe“.
Wie war es denn für dich als Deutscher kurz nach dem Brexit mit dem Aufenthaltsstatus? Hattest du Probleme?
„Nein, das ging problemlos. Man musste lediglich beweisen, dass man länger als fünf Jahre in Großbritannien lebte und steuerpflichtig arbeitete, dann durfte man bleiben. Trotzdem: Der Brexit war natürlich ein Fehler, jeder weiß es, aber man spricht nicht mehr darüber. Als Boris Johnson Premierminister wurde, hieß es: ,Let’s get Brexit done‘, jetzt heißt es: ,Let’s make Brexit work‘. (lacht)
Hinzu kommt: Diejenigen, die für den Brexit gestimmt haben, sind vor allem Menschen, die kaum reisen und wenig politisch interessiert sind, und viele haben sich daher von Desinformationskampagnen beeinflussen lassen. Wieder andere haben nicht abgestimmt, obwohl sie gegen den Brexit waren. Keiner hat damit gerechnet, dass Großbritannien tatsächlich aus der EU austreten könnte. Ich erinnere mich an den Morgen nach dem Referendum: Die Stimmung war total gedrückt, alle waren geschockt und deprimiert. Man hätte das Referendum nicht durchführen dürfen. Eine Entscheidung von solcher Tragweite sollte ein Parlament treffen und nicht die Bürger. Vor allem nicht in diesen unberechenbaren Zeiten.“
Olaf Scholz nennt das „Zeitenwende“ – die Krise ist ja nicht nur in Großbritannien, sondern in ganz Europa deutlich zu spüren. Ein Grund mehr zu versuchen, nach vorne zu schauen – was du auch tust: Du planst aktuell, ein Fotobuch herauszubringen. Gibt es schon einen Verlag?
„Ich bin gerade dabei, meine Fotos zu editieren, und auf der Suche nach einem Verlag und einer Galerie, die meine Bilder präsentieren möchte. In den letzten Jahren habe ich nur produziert, jetzt ist es aber Zeit, die nächsten Schritte einzuleiten.“
Dabei wünschen wir dir sehr viel Erfolg und danken dir für das Gespräch!
Kurzbio:
Andreas Bleckmann wird 1960 in Münster/Westfalen geboren und absolviert dort Ende der 1970er-Jahre eine Ausbildung zum Schauwerbegestalter, als der er anschließend einige Jahre arbeitet. Im Jahr 1984 entschließt er sich, nach New York zu ziehen. Hier arbeitet er zunächst im Bereich Visuelle Kommunikation und als Maler, bis er beginnt, als Assistent zahlreicher Fotografen das Fotografie-Handwerk zu lernen. 1996 siedelt er nach London über. In der britischen Hauptstadt beginnt er eine Karriere als Editorial- und Werbefotograf und arbeitet für diverse Magazine wie The Face, Süddeutsche Zeitung, Libération oder die New York Times. Seit 2017 lebt er in Hastings, 2019 startet er hier sein freies Porträtprojekt „Rock-A-Nore“, zu dem er derzeit eine Buchveröffentlichung plant.