
Autor: Markus OessOhne den konservativen Premier David Cameron würden wir womöglich immer noch über einen Brexit diskutieren, aber nun ist es anders gekommen und der Abschied der Briten aus der EU ist faktisch ein Jahr in Kraft. Die ganz großen Turbulenzen entstanden unmittelbar nach Bekanntwerden des bevorstehenden Abschiedes der Briten, von einer Erholung der Wirtschaft ist das Land weit entfernt. Eine Rückkehr zu dem Niveau früherer Tage scheint ausgeschlossen. Immerhin erholen sich die Exporte nach Großbritannien wieder.
Für ihn könnte der Brexit positive Folgen haben. Der Ex-Tennis-Profi Boris Becker, der schon mal gern von seinem „Wohnzimmer Wimbledon“ sprach, könnte im Falle einer Abschiebung aus britischer Haft als freier Mann deutschen Boden betreten. Denn für ein und dasselbe Vergehen/Verbrechen kann man nur einmal bestraft werden. Becker war Ende April zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Nun spekulieren britische Medien über die bevorstehende Abschiebung Beckers nach einem Schnellverfahren nach Deutschland. Die britischen Gefängnisse sind zu voll.
Gesamthaft betrachtet hat der selbst gewählte Abschied aus der EU aber erst mal Großbritannien geschadet. Die Forscher der London School of Economics and Political Science kommen in einer aktuellen Studie zu dem Ergebnis, dass der Brexit das Leben verteuert hat – neben den globalen Lieferengpässen und der energiegetriebenen Inflation durch den Ukrainekrieg. Von den Verheißungen der konservativen Brexiteers auf glorreiche Eigenständigkeit sind die Briten weit entfernt und auch die Strategie der Handelsabkommen bleibt ohne große Wirkung. Die Süddeutsche Zeitung zitierte dieser Tage Finanzminister Jeremy Hunt, der im britischen Fernsehen mit Prognosen des Office for Budget Responsibility konfrontiert wurde, wonach der Brexit die Wirtschaftsleistung langfristig um 4 Prozent senken würde. Hunt, so die SZ, wolle diese Berechnungen nicht akzeptieren und lieber davon sprechen, den Wohlstand mit neuen Handelsabkommen zu mehren, die jetzt erst möglich seien. Problem nur sei: Die Handelsabkommen mit den USA oder Indien seien noch lange nicht unterschriftsreif, ausgehandelte Abkommen wie zum Beispiel mit Australien oder Japan nicht so ertragreich wie angekündigt.
Die OECD schätzt, dass die Briten unter anderem wegen des Brexits unter den G-20-Staaten von Russland einmal angesehen das niedrigste Wachstum in den kommenden zwei Jahren verzeichnen dürften. Großbritannien war dereinst der fünftgrößte Handelspartner Deutschlands. Nun dürfte UK in diesem Jahr aus den Top Ten fallen, hat die bundeseigene Gesellschaft Germany Trade and Invest (GTAI) ermittelt.
Das Schlimmste ist durch
Die größten Reibungsverluste indes entstanden, als klar war, der Brexit wird kommen, sagt Dr. Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg-Bank, Hamburg, im FT-Interview. Zwar werde das Vereinigte Königreich nicht auseinanderfallen, aber auf Normalbetrieb wie vor dem Brexit dürfte man auch nicht mehr kommen. Und wie die Wirtschaftspolitik eine Wiederannäherung mit der EU bewerkstelligen werde, hänge davon ab, wer in der Downing Street das Sagen habe, meint Schmieding weiter. Vor allem aber müsse die Nordirland-Frage dauerhaft geklärt werden.
UK war vor dem Brexit auch unter den Top Ten der Exportmärkte der deutschen Modeindustrie. Viele Hersteller hatten in UK einen Unternehmenssitz, sagt Gerd Oliver Seidensticker, Geschäftsführer des gleichnamigen Familienunternehmens und Präsident des Industrieverbandes GermanFashion gegenüber FT. Im Brexitjahr ist dann der Exportumsatz um 22 Prozent eingebrochen. Auch im Jahr darauf ging es abwärts, aber so Seidensticker, „im ersten Halbjahr 2022 scheint sich die Situation stabilisiert zu haben: UK-Exporte machten wieder ein Plus von 14 Prozent aus und UK belegte Platz 10 der Exportmärkte der deutschen Modeindustrie“. Der europäische Industrieverband Eurtex bemerkte im ersten Quartal einige Effizienzverluste, die eher auf der britischen Seite die Exporte bremsten. Inzwischen aber zeichne sich eine Erholung hab, heißt es dazu aus Brüssel.
Deutsche Marken wachsen wieder
Der Brexit ist offenbar verarbeitet. Nun, ein Jahr nach dem faktischen Vollzug, gilt es, wieder Geschäft auszubauen, verlorene Umsätze hereinzuholen, so weit es eben geht, oder sogar weiteres Wachstum hereinzuholen. Für MEYER Hosen ist UK ein wichtiger Exportmarkt mit langjährigen Kundenbeziehungen. Das Geschäft, führt Vorstand Sven Wandres gegenüber FT aus, habe durch den Brexit nicht gelitten, auch wenn anfangs gerade der Zoll große Hürden aufbaute. Im Gegenteil: „In den letzten zwölf Monaten sind wir dort wieder stark gewachsen. Wir haben durchgehend geliefert und die Kunden von Anfang an unterstützt, die neuen Anforderungen umzusetzen. Diese Zuverlässigkeit und unsere lange gemeinsame Partnerschaft mit vielen Händlern haben uns geholfen, auch den Brexit zu bewältigen“, sagt Wandres. Mittlerweile würden auch britische Kunden eine durchgehende Nachhaltigkeit schätzen.
Auch für den Hemdenspezialisten ETERNA ist UK einer der wichtigsten Exportmärkte. Speziell im Wholesale, aber auch im E-Commerce lief es bis zum Brexit gut. „Obwohl wir 2020 und 2021 aufgrund des Brexitsgut 40 Prozent des Umsatzes verloren hatten, haben wir im B2B beziehungsweise im Wholesale-Geschäft bereits wieder das Niveau von 2019 erreicht. Das E-Commerce-Business haben wir aufgrund der Einzelverzollungen sowie massiv gestiegener weiterer Kosten bisher nicht wieder aufgenommen. Hier gibt es jedoch Gespräche mit möglichen Partnern, die die Abwicklung dieses Geschäftsbereiches lokal übernehmen könnten“, berichtet Maximilian Engel. Er verantwortet bei ETERNA das internationale Business. Die Einstellung des E-Commerce kostete rund 500.000 Euro Umsatz.
Die ersten drei Monate war es nicht möglich, Ware auf die Insel zu schicken, da es keinen Dienstleister gab, der die Verzollung abwickeln konnte. Inzwischen übernimmt das die DHL. Aufgrund der massiv gestiegenen Kosten und der Verzollung musste ETERNA die Preise deutlich anpassen. „Ein B2C-Geschäft macht praktisch keinen Sinn aufgrund der hohen Preise für Versand und Verzollung. Gleichzeitig erhalten wir regelmäßig Reklamationen von Kunden, dass für bereits von uns verzollte Ware nochmals Zölle- und Verzollungskosten verlangt werden, bevor die Ware zugestellt wird. Generell sehen wir eine Verbesserung des Prozesses in den letzten Wochen, aber die Probleme sind noch nicht vollständig gelöst“, sagt Engel.
Immerhin: In diesem Jahr rechnet ETERNA sogar mit einem Umsatzplus von knapp 10 Prozent im Vergleich zu 2019 und über 50 Prozent zu 2021. „Dies liegt vor allem an den guten Umsätzen im Formal-Wear-Bereich beziehungsweise von anlassbezogener Mode im Markt“, sagt Engel. Derzeit versucht ETERNA in Zusammenarbeit mit DHL wieder das B2C-Geschäft mit UK aufzunehmen. „Um Profitabilität sicherzustellen, werden wir hier aber Kompromisse machen müssen bezüglich Mindestbestellwert und besonderer Retouren-Regelungen“, sagt Engel.
Marktchancen gibt es
Formal Wear beziehungsweise Anlassmode läuft augenblicklich gut in UK. Davon könnte zum Beispiel auch der Anzuganbieter Création Gross profitieren. Allerdings zählt die Region heute noch nicht zu den starken Exportregionen für die Franken. Die angestammte Klientel, serviceorientierte Läden, musste sich schon vor dem Brexit angesichts der Dominanz der Filialisten und großen Ketten durchbeißen, so Geschäftsführer Ralph Böhm. Aktuell ist das Unternehmen nur mit CARL GROSS im britischen Handel. Böhm berichtet ebenfalls von anfänglichen Verwirrungen im Zoll und von kostspieligen Versandproblemen, nachdem der Brexit vollzogen war. Das Geschäft wächst wieder, auch wenn es in der Logistik beim Versand immer noch hakt. Trotz allem sieht Böhm gerade für die junge Marke CG – CLUB of GENTS sogar Potenzial auf der Insel. „Wir sondieren gerade die Möglichkeiten. Die Marke gibt es auf alle Fälle her“, sagt Böhm.
Für bugatti, erklärt Viktor Schneider, Head of International Sales, spielt UK eine untergeordnete Rolle, aber es weist derzeit trotz Brexit signifikante Wachstumsraten aus. Aufgrund einer angepassten Länderstrategie haben die Herforder bereits vor dem Brexit begonnen, den britischen Facheinzelhandel anzugehen, der sich in den vergangenen zwölf Monaten weiterhin positiv entwickelte. „Der Brexit hatte in unserem Fall keinen negativen Einfluss auf unsere Geschäfte. Es gab Verzögerungen in den Zustellungen, aber das Ordervolumen wurde aufgrund des Brexits nicht angepasst“, führt Scheider aus. Wie es scheint, sind die Brexit-Probleme mehr auf der Insel selbst zu finden als außerhalb. Die deutschen Marken jedenfalls blicken mehr oder weniger ungerührt über den Kanal. Sei es, weil sich die Geschäfte wieder erholen, wenn auch nicht mehr auf das Niveau früherer Zeiten, sei es, weil UK für die einzelnen Marken an Bedeutung eingebüßt hat oder diese noch nie hatte. Tennisstar Becker jedenfalls dürfte ganz froh sein, dass UK raus ist.