Schillernde Flüsse und hausgemachte Zertifikate

Wandel

„Dass die Bekleidungskarawane allzu schnell weiterzieht, wenn die Preise steigen, hat sich in weiten Teilen als falsche Annahme erwiesen. Seit Jahren wird beispielsweise prognostiziert, dass Afrika Asien als neuer Produktionsstandort ablöst. Passiert ist bislang jedoch nichts." Johanna Katharina Mützel, Consultant mit Schwerpunkt Textil und Plastik bei adelphi ©adelphi

Autor: Andreas Grüter
Vorne hui, hinten pfui – die Textil- und Bekleidungsindustrie hat in ihren Produktions- und Lieferketten nach wie vor massive Probleme mit Umweltschutz und Arbeitsrechten. Über den Stand der Dinge und die Möglichkeiten zu Veränderungen haben wir uns mit Johanna Katharina Mützel, Consultant mit Schwerpunkt Textil und Plastik beim Berliner Think-and-Do-Tank adelphi, Europas führendem Forschungs- und Beratungsinstitut in den Bereichen Klima, Umwelt und Entwicklung, unterhalten.

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Die Textil- und Bekleidungsbranche gilt nach der Ölindustrie als die zweitschmutzigste Industrie weltweit. Welche Umweltschäden gehen auf das Konto der Mode und was sind die größten Probleme?
„Die Liste der von der Textil- und Modeindustrie verursachten Umweltschäden ist lang. Sie fängt beim Wasserverbrauch und der Wasserverschmutzung an, geht über den Einsatz von Pestiziden und die Verunreinigung von Böden bis hin zu hohen CO₂-Emissionen und dem grundsätzlichen Ressourcenverbrauch, vor allem den von ölbasierten Stoffen. Hier einige Zahlen, um die Dimensionen ein wenig greifbarer zu machen: Beim Anbau einer Tonne Baumwolle fallen rund 266 Mio. Liter graues Wasser an, also Abwasser, das nicht mehr genutzt werden kann. 16 Prozent der weltweit eingesetzten Insektizide werden auf Baumwollfeldern verspritzt, obwohl Baumwolle lediglich auf 2,5 Prozent der weltweit verfügbaren Nutzfläche angebaut wird. Hinzu kommt, dass durch den Einsatz der Pestizide und Insektizide die Böden der Felder mit Chemikalien dermaßen durchseucht und versauert werden, dass dort nichts anderes als Baumwolle mehr angebaut werden kann. Und natürlich werden diese Stoffe bei Regen auch ins Grundwasser gespült. Das Problem mit den eingesetzten Chemikalien, die in den Wasserkreislauf gelangen, setzt sich in der Produktion fort, etwa beim Waschen und Färben oder auch bei Verklebungen. Ich glaube, wir kennen alle die Bilder von verseuchten Flüssen nahe Textilfabriken, die in höchst unnatürlichen Farben schillern. Obendrauf kommt dann noch die Umweltverschmutzung durch nicht sachgerechte Entsorgung. So landen Textilabfälle häufig zunächst auf Mülldeponien und dann im Meer. Ein großes Problem, welches die CO₂-Emissionen der Industrie noch zusätzlich befeuert, ist das Verbrennen von Textilien. Und das betrifft potenziell immerhin rund ein Drittel der weltweit produzierten Textilwaren, die es gar nicht erst auf den Markt schaffen.“

Mit der Auslagerung der Produktion ins Ausland haben sich Modelabel lange aus ihrer Verantwortung für Mensch und Umwelt gestohlen. Hat sich daran grundlegend etwas geändert? Verzeichnen Sie hier ein echtes Bewusstsein?
„Ich denke, in den letzten zehn, 15 Jahren hat sich zwar recht viel, aber leider nichts Grundlegendes geändert. Das Bewusstsein für die Problematiken wächst und der Druck auf Unternehmen nimmt deutlich zu, etwa durch das Lieferkettengesetz oder die anstehende EU-Reform zum Thema Due Diligence, also der unternehmerischen Sorgfaltspflicht entlang der Lieferkette. Die erreichten Veränderungen sind meiner Meinung nach eher eine Reaktion auf den Druck von außen und haben weniger mit echtem intrinsischen Interesse zu tun. Das gilt vor allem für die Fast-Fashion-Industrie, die substanziell zu den negativen Auswirkungen der Textilindustrie beiträgt. Meistens muss erst einmal etwas passieren, bevor sich etwas bewegt. Denken Sie nur an den Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza vor einigen Jahren: Plötzlich wurde sich vonseiten der Labels gekümmert und plötzlich wurden Sicherheitstraining etc. gegeben. Die arbeitsintensiven Produktionsschritte werden jedoch nach wie vor in Länder mit geringer Lohnstruktur, also in den globalen Süden ausgelagert, und je länger eine Lieferkette ist und je weiter die Entscheidungsträger*innen von den Produktionsstätten entfernt sind, desto mehr an Transparenz und Handhabe geht verloren. Standards und Zertifizierungen setzen zwar die Maßstäbe, aber an der Überprüfung und notwendigen Korrekturen der Implementierung hapert es dann. Das ist ein systemisches Problem.“

„Initiativen, die auf Freiwilligkeit beruhen, reichen nicht aus, das hat die Vergangenheit bewiesen.“

Im Textil- und Bekleidungsbereich wimmelt es nur so von Nachhaltigkeitszertifikaten, die häufig jedoch lediglich ein Greenwashing-Tool sind. Welche Forderungen sollte man hier stellen?
„Es ist klar, dass Zertifikate nicht alles adressieren können und nur eine unter vielen Maßnahmen darstellen. Daher ist ein Mix aus verschiedenen methodischen Elementen, die ineinandergreifen, notwendig, allen voran ein strenger politischer Rahmen, der den eigentlichen Hebel zur Umsetzung darstellt. Initiativen, die auf Freiwilligkeit beruhen, reichen nicht aus, das hat die Vergangenheit bewiesen. Eine weitere Forderung unsererseits wäre die Entwirrung des Zertifikate-Dschungels, der bei den Produzent*innen nur für Verwirrung sorgt. Es braucht hier dringend eine globale Vereinheitlichung der Regeln. Auf hausgemachte Zertifikate, die ausschließlich Marketingzwecken dienen, sollte man aus offensichtlichen Gründen grundsätzlich verzichten.“

Welche Zertifizierungen würden Sie präferieren?
„Als Expertin für Kreislaufwirtschaft liegt mir Cradle to Cradle natürlich besonders am Herzen, weil hier die gesamte Produktions- und Lieferkette im Hinblick auf die Materialnutzung berücksichtigt wird. Das grundsätzliche Problem mit den ganzen Zertifikaten ist, dass immer nur bestimmte Bereiche abgedeckt werden. Das perfekte Zertifikat, das sowohl alle sozialen als auch alle umwelttechnischen Problematiken berücksichtigt, existiert leider noch nicht.“

Wie realistisch ist es, in Europa erdachte Umweltschutzbestimmungen in den Produktionsländern durchzusetzen?
„Grundsätzlich ist die Technik vorhanden, um Umweltschutzbestimmungen in allen Ländern umzusetzen. Das Problem ist, dass die Finanzierung häufig auf die Produktionsländer abgewälzt wird, die die Kosten jedoch nicht stemmen können. Die Gewinner und Verlierer in den Lieferketten lassen sich sehr klar ausmachen. Gewinner sind die Unternehmen am oberen Ende, Verlierer die Unternehmen am unteren Ende. Und sie sollen auch noch die zusätzlichen Kosten tragen. Für uns ist es ganz klar, dass das so nicht funktionieren kann.“

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„Was mich positiv stimmt, ist die Tatsache, dass das ganze Thema Regularien jetzt sowohl an den bestehenden als auch an den potenziellen Produktionsstandorten ankommen wird. Das Lieferkettengesetz setzt seine Regeln international und lässt sich nicht durch einen Umzug aushebeln.“

Sind die Produktionsländer überhaupt in der Position, die Mehrkosten an die Labels weiterzugeben? Gerade in der Textilherstellung herrscht ja ein harter Unterbietungswettbewerb, und ein neuer, noch günstigerer Produktionsstandort ist schnell gefunden.
„Dass die Bekleidungskarawane allzu schnell weiterzieht, wenn die Preise steigen, hat sich in weiten Teilen als falsche Annahme erwiesen. Seit Jahren wird beispielsweise prognostiziert, dass Afrika Asien als neuer Produktionsstandort ablöst. Passiert ist bislang jedoch nichts. Dafür gibt es viele Gründe, wovon Wasserknappheit und die politischen Gegebenheiten nur einige sind. Klar, die produzierenden Länder sind ein Stück weit abhängiger von den Auftraggebern als umgekehrt, aber es ist bei Weitem nicht so, dass man die Produktion einfach problemlos woandershin verlagern könnte. Was mich positiv stimmt, ist die Tatsache, dass das ganze Thema Regularien jetzt sowohl an den bestehenden als auch an den potenziellen Produktionsstandorten ankommen wird. Das Lieferkettengesetz setzt seine Regeln international und lässt sich nicht durch einen Umzug aushebeln.“

Wie groß ist das Interesse seitens der Produzenten und der Politik vor Ort, die Bemühungen zu unterstützen?
„Das ist sehr unterschiedlich. Man findet in ein und demselben Land sowohl Produzenten, die sehr fortschrittlich und transparent agieren und unglaublich an Innovationen interessiert sind, als auch Produktionsstätten, die noch gar nicht so weit sind. Ganz grundsätzlich gibt es in den produzierenden Ländern schon ein Interesse. Wo es hakt, ist wie gesagt die Finanzierung. Ein Mangel an Verbindlichkeit und Vertrauen sind weitere Aspekte, die die Bemühungen ausbremsen. Gerade in der Corona-Krise haben viele Auftraggeber ihre Produzenten im Stich gelassen. Teilweise wurden Rechnungen nicht mehr bezahlt und Waren nicht mehr abgenommen. Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, wenn Produzenten die Investitionen, die nötig sind, um westlichen Standards zu genügen, noch einmal überdenken. Was die Politik betrifft, so gibt es in allen Produktionsländern natürlich Gesetze zu Umwelt- und Arbeitsschutz. Leider sind die Bestimmungen häufig nicht streng genug und, was noch viel gravierender ist, sie werden viel zu lax geahndet.“

Sollten die Audits von den Auftraggebern oder von unabhängigen Beobachtern wie NGOs oder Gewerkschaften durchgeführt werden?
„Auf jeden Fall sollte die Überprüfung von unabhängigen Parteien durchgeführt werden. Im besten Fall im Auftrag der Zertifizierungsinstitute, die die Glaubwürdigkeit ihrer Zertifikate sicherstellen wollen.“

Lange Transportwege belasten die Umwelt zusätzlich. Inwieweit steht das Speditionswesen mit im Fokus der Wende hin zu mehr Nachhaltigkeit?
„Die Transportwege sind natürlich Teil der CO₂-Bewertung. Ein richtiger Fokuspunkt sind sie allerdings noch nicht.“

„In Spanien arbeiten beispielsweise viele Frauen ohne Anstellungen, ohne ordentliche Verträge und mithin ohne Anspruch auf Renten in den Textilfabriken.“

Lassen Sie uns einen Blick auf die Produktionsstätten in der EU werfen. Herrscht hier eitel Sonnenschein?
„Leider ist in der EU nicht alles besser, und das ist sehr traurig. In Spanien arbeiten beispielsweise viele Frauen ohne Anstellungen, ohne ordentliche Verträge und mithin ohne Anspruch auf Renten in den Textilfabriken. Das grenzt teilweise an moderne Sklaverei. Ganz schlimm sieht es für Menschen mit Migrationshintergrund aus, deren Notlage ausgenutzt wird und die dann in Sweatshops landen und auf dem Fabrikgelände wohnen müssen.“

Durch Production on-demand und die Rückkehr zum Nearshoring würden viele der Umweltprobleme, die die Textilindustrie derzeit verursacht, wegfallen. Gleichzeitig entzöge man den bisherigen Produktionsstandorten und damit den Arbeiter*innen dadurch möglicherweise ihre wirtschaftliche Basis …
„So eine Entwicklung kommt ja nicht von heute auf morgen. Das ist ein langsamer Prozess, der für die Produzenten genug Zeit lässt, um sich umzuorientieren oder zu spezialisieren. China ist hier ein gutes Beispiel. Ehemals berüchtigt für Billigware fragwürdiger Qualität wird dort längst auf einem High-End-Level mit hoher Expertise produziert. Zudem gibt es politische Mechanismen, um einen wirtschaftlichen Wandel zu begleiten und die sozialen Folgen abzufedern. Das Stichwort ist hier „Just Transition“, also die Ermöglichung eines gerechten Übergangs. Das hat sich ja auch schon in anderen Branchen, etwa beim Ausstieg aus der Kohle, bewährt.“