Autor: Andreas Grüter„Das Weltklima hat ein Textilproblem“ titelte die FAZ vor einiger Zeit und brachte damit die ökologische Misere der Textil- und Bekleidungsbranche auf den Punkt. Schließlich gilt diese nicht nur wegen des massiven Ressourcenverbrauchs und des Einsatzes giftiger Chemikalien, sondern auch aufgrund ihrer hohen CO₂-Emissionen nach der Ölindustrie als zweitschmutzigste Industrie der Welt. Im Jahr 2021 gingen rund 1,2 Mio. Tonnen CO₂ auf das Konto der Textil- und Bekleidungsbranche, das sind mehr Emissionen, als der internationale Flugverkehr und die Kreuzschifffahrt zusammen verursachen.
Dabei, und das ist der eigentliche Skandal, wird in der Mode seit Jahren auf Teufel komm raus überproduziert, mit dem Ergebnis, dass lediglich ein Drittel der Ware in den regulären Verkauf kommt. Ein weiteres Drittel landet auf dem Ramschtisch und ein letztes Drittel kommt gar nicht erst auf den Markt, sondern wird bereits vorher entsorgt. Angesichts des sich verschärfenden Klimawandels ein schwer zu ertragender Zustand.
Abhilfe verspricht der Umbau der Branche auf On-Demand-Produktion. Wie die Theorie in die Praxis umgesetzt werden kann, welche Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssen und was das für Produzenten, Einzelhandel und Verbraucher bedeutet, haben wir mit Gerd Müller-Thomkins, Geschäftsführer des Deutschen Mode-Instituts, besprochen.
Herr Müller-Thomkins, das Interesse an nachhaltiger Mode wächst. Gleichzeitig wird laut der renommierten britischen Ellen MacArthur Foundation, die sich für Kreislaufwirtschaft einsetzt, jede Sekunde ein Müllwagen voller Textilien bei der Mülldeponie abgeladen oder eine solche Menge verbrannt. Was läuft falsch in der Fashion?
„Der wachsende Wunsch, nachhaltiger zu leben, steht im klaren Widerspruch zur anhaltenden Lust am schnellen Konsum. Und schnell heißt immer noch viel. Der Erfolg umweltschonender Produktionsweisen wird durch das beschleunigte Wachstum der Produktionsmengen, die häufig überhaupt nicht verkauft werden, zunichtegemacht. Eine Entwicklung, die mit Blick auf die Umwelt und soziale Verantwortung weltweit zunehmend kritisch beobachtet wird. Allmählich werden die Grenzen des Wachstums realisiert und akzeptiert, und das stellt Wirtschaft und Betriebe vor komplexe Herausforderungen und fordert von Politik und Gesellschaft ein massives Umdenken.“
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Digitalisierung?
„Eine zielgerichtete Digitalisierung und Vernetzung der Lieferketten kann nicht nur einen wesentlichen Beitrag zur Transparenz der Prozessschritte leisten, sondern auch die Überproduktion und die Verschwendung physischer Ressourcen begrenzen. Das fängt bei der Konzeption an, geht über das Digital Product Development und die virtuelle Sample-Erstellung mit digitalem Rendering von Farben, Mustern und Oberflächen und hört bei materialsparenden High-Performance-Zuschnitten und On-Demand-Lösungen noch längst nicht auf. Natürlich gewinnt das Thema Überproduktion mit dem sich anbahnenden aktuellen Gesetzgebungsverfahren der Europäischen Gemeinschaft zusätzlich an Dringlichkeit.“
„Während es früher ‚Es wird angezogen was auf der Stange hängt‘ hieß, ist der durch Fast Fashion er- oder vielleicht auch verzogene Konsument heute ganz egomaner Hedonist, der seine Mode sofort will.“
Lassen Sie uns konkret über On-Demand-Produktion sprechen. Wie weit ist die Technik, wie weit die Branche?
„On-Demand-Produktion ist eine real existierende Vision, die bereits nutzbar ist. Interessanterweise geht hier die Entschleunigung der Slow Fashion mit einem durch Nearshoring beschleunigten Produktionsprozess Hand in Hand. Man kann quasi von Entschleunigung durch Beschleunigung sprechen. Nearshoring, also die Produktion um die Ecke und nicht mehr am anderen Ende der Welt, ist dabei die logische Konsequenz aus der sinkenden Produktionsmenge. Im optimalen Fall wird ein Teil auf Maß und nach individuellen Kundenwünschen produziert und verkauft. Die Überproduktion entfällt somit komplett. Was die Branche angeht, so gibt es bereits einige Unternehmen und Labels, die auf die eine oder andere Art mit On-Demand-Produktionen arbeiten. Der Konsument erfindet sich mit dieser Entwicklung neu und die Branche wird nachziehen müssen.“
Was bedeutet On-Demand-Produktion für den Kunden?
„Während es früher ‚Es wird angezogen was auf der Stange hängt‘ hieß, ist der durch Fast Fashion er- oder vielleicht auch verzogene Konsument heute ganz egomaner Hedonist, der seine Mode sofort will. „I want me now!“ ist hier das Stichwort. On-Demand-Produktion bietet natürlich viele Möglichkeiten, um diesen Anspruch zu erfüllen. Neben der Erfüllung von Passform- und Materialwünschen ist es darüber ja beispielsweise auch möglich, ein ganzes Baukastensystem aufzubauen, mit dem der Kunde seine Pieces individuell mit Farben, Details und Mustern bespielen kann.“
Inwieweit wird die Entwicklung den Einzelhandel verändern?
„Das kommt ganz darauf an, wie konsequent die neuen Möglichkeiten umgesetzt werden. Letztendlich könnte man einen Laden auf einen virtuellen Spiegel reduzieren, der nicht nur per Scan die Maße nimmt, sondern in dem sich der Kunde auch gleich in den per Touchscreen ausgewählten, individualisierten Styles betrachten kann. Das haptische Erleben können Stoffproben gewährleisten und eine Avatar-Performance zeigt, wie sich Styles beim Tragen bewegen. Die Frage ist dann nur noch, wie schnell geliefert werden kann. Der Einzelhandel wird seine Rolle nicht verlieren, sondern kann sich wieder auf seine Kernkompetenzen, also Inszenierung und Kommunikation von Bekleidung, konzentrieren. Und überhaupt: Wer sagt, dass ein Laden wie ein Laden auszusehen hat? Für die Körperscans, die der Online-Handel für On-Demand benötigt, gibt es ja heute Handy-Apps. Wie leistungsfähig diese Systeme bereits sind, kann ich nicht beurteilen.“
Welche Auswirkung hat On-Demand-Produktion auf die Arbeit von Labels?
„Neben dem Design sehe ich hier vor allem das Brand- und Community-Building über die verschiedenen Social-Media-Kanäle als Hauptaufgabe.“