„Stationäre Touchpoints bleiben wichtig“

Vertikalisierung

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Autor: Markus Oess
Der große Gewinner der Corona-Krise ist unbestritten der Online-Handel. Aber wie sind die Vertikalisierten durchgekommen, die zwar inzwischen den Wandel zum Omnichanneling-Anbieter eingeläutet haben, trotzdem aber von den staatlich verordneten Schließungen ihres Filialnetzes genauso betroffen waren wie die bisherige stationäre Konkurrenz? Und wie begegnen sie den künftigen Herausforderungen im Vergleich zu den zweistufigen Vertriebsformen? Wir haben Hansjürgen Heinick, Senior Consultant und Fashion-Experte am IFH KÖLN, gefragt.

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Es wird weniger Mode gekauft beziehungsweise insgesamt weniger Geld für Mode ausgegeben. Nicht nur, weil die Bedarfe andere sind, auch weil Klimakrise und Corona das nachhaltige Gewissen verstärken und teilweise auf neue Kleidung verzichtet wird.“ Hansjürgen Heinick, IFH Köln ©IFH Köln

FT: Herr Heinick, welches Gesundheitszeugnis stellen Sie der Modebranche im dritten Pandemiejahr aus?
Hansjürgen Heinick:
„Die Modebranche ist die Einzelhandelsbranche, welche mit Abstand am stärksten unter den Auswirkungen der Pandemie gelitten hat beziehungsweise die größten Umsatzrückgänge verzeichnen musste. Zwar sorgte ein leichter Zuwachs im zweiten Pandemiejahr 2021 – vor allem durch ein ausgeprägtes Online-Wachstum – für etwas Entlastung, die hohen Umsatzverluste aus 2020 wurden indes bei Weitem nicht aufgeholt. Ende 2021 lag der Umsatz nach Berechnungen des IFH KÖLN immer noch mehr als 11 Prozent unter dem des Jahres 2019.“

Wo hakt es besonders, was läuft gut?
„Die Pandemie hat sowohl die Bedarfe als auch das Kaufverhalten im Modemarkt erheblich beeinflusst. Homeoffice, fehlende Anlässe, ausbleibende Reisen und Verzicht auf private Feiern haben die Bedarfe nach Bekleidung verändert und bekanntermaßen vornehmlich deutlich reduziert.

Von den verschiedenen Lockdownphasen, Kontaktbeschränkungen und Infektionsängsten hat vor allem der Online-Handel profitiert, mit einem außerordentlichen Wachstum insbesondere 2021. Der Online-Anteil liegt mittlerweile zwischen 40 und 50 Prozent. Demgegenüber hat der stationäre Handel mit Mode insbesondere in innerstädtischen Ladengeschäften hohe Umsatzverluste hinnehmen müssen. Grundsätzlich ist der Modemarkt längst schon vom Strukturwandel ergriffen, Corona hat die Entwicklung allerdings noch mal deutlich beschleunigt. Neu ist: Es wird weniger Mode gekauft beziehungsweise insgesamt weniger Geld für Mode ausgegeben. Nicht nur, weil die Bedarfe andere sind, auch weil Klimakrise und Corona das nachhaltige Gewissen verstärken und teilweise auf neue Kleidung verzichtet wird. Inwieweit sich künftig das Ausgabeverhalten im Modemarkt wieder dem Vor-Corona-Niveau annähert, ist noch ebenso offen wie die Folgen der Preisentwicklungen und Lieferengpässe.“

Es kommt darauf an

Wie schlagen sich die rein Vertikalen? Natürlich sind sie vom Lockdown genauso betroffen, können aber systemisch besser durchsteuern und haben oft auch im E-Commerce ganz gute Karten. Überwiegen die Vor- oder Nachteile zur zweistufigen Konkurrenz?
„Ganz allgemein betrachtet können gerade Filialsysteme bei zunehmender Nachfrage nach Omnichannel-Zugängen ihre breite stationäre Präsenz für geeignete online vernetzte Services nutzen, etwa mit Click & Collect oder Warenverfügbarkeitsanzeigen. Bei den Vertikalen muss man aber unterscheiden zwischen den eher in der unteren (Discount-)Preislage agierenden Unternehmen (wie KiK, TAKKO …) und den Unternehmen, welche mit ihren Hauptvertriebslinien eher zwischen unterer Preislage und klassischer Preismitte verortet sind (H&M, ZARA …). Aufgrund der Versandkosten ist der Online-Handel im Niedrigpreissegment grundsätzlich weniger attraktiv. Daher schlagen sich Ladenschließungen und Zugangsbeschränkungen in solchen Konzepten eher stärker nieder als in anderen Preissegmenten. Die Vertikalen in der Zwischenpreislage haben ihre Online-Aktivitäten vielfach deutlich ausgebaut und teilweise bereits vor der Pandemie begonnen, ihr stationäres Ladennetz zu bereinigen und mehr oder weniger deutlich zu reduzieren. Der Vorteil der Vertikalen im Online-Handel gegenüber dem Multilabel-Handel ist in erster Linie, dass es keine konkurrierenden Anbieter gibt, welche dieselbe Marke vertreiben, also weder Online-Player, wie zalando, ABOUT YOU, asos, noch dass der Hersteller selbst (D2C) die Marke anbietet.“

Sie sagen, Firmen ohne strategische Neuausrichtung werden Probleme bekommen. Ein neues Konzept müsse her. Auf der einen Seite ist es einfacher, in die Filialen hinein zu delegieren, auf der anderen Seite kostet das auch eine ganze Stange Geld und der Alltag auf der Fläche ist von den Zentralen weit entfernt. Wie kommen die Vertikalen, die es betrifft, aus dieser Situation?
„Bei einer strategischen Neuausrichtung kommen ja zunächst einmal viele Ideen und mögliche Ansätze der Marktbearbeitung zusammen, von denen nicht alle zum Ziel führen. Heute kommt es darauf an, von den Kundinnen und Kunden her zu denken – diese stehen im Zentrum der Angebotsgestaltung und brauchen ein klares Leistungsversprechen. Für einen gewissen Trial-and-Error-Prozess und eine möglichst effiziente Umsetzung stationär bieten sich bei Filialsystemen immer Pilotprojekte an, die entweder einzelne Maßnahmen betreffen oder lokal/regional begrenzt in einer oder mehreren Filialen getestet werden.“

Wer macht das richtig gut?
„Ein Beispiel, wenn auch nicht das eines vertikalen Filialsystems, ist ABOUT YOU. ABOUT YOU hat vorgemacht, wie man mit klarer Positionierung in einem scheinbar besetzten Markt Marktanteile gewinnen kann. Dabei spielen auch die Eigenmarken beziehungsweise die Personal Brands von ABOUT YOU eine besondere Rolle.“

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Das Konzept entscheidet

Inwiefern kommt die wachsende Digitalisierung ins Spiel? Die technologischen Verkaufshilfen werden ausgefeilter und der Kunde dafür informierter …
„Entscheidend sind die Zugangsmöglichkeiten und die Sichtbarkeit in den Kanälen, in welchen sich die Ziel-/Kundengruppe üblicherweise bewegt – online wie offline. Sichtbar sein heißt, sich in (Kauf-)Gelegenheit bringen, durch entsprechende Präsenz online und offline, in den relevanten Social-Media-Kanälen und dort, wo die potenzielle Kundschaft vorbeikommt oder sich (am besten gerne) aufhält – physisch und digital. Es geht also nicht darum, alle Kanäle wahllos zu bespielen, sondern die relevanten Kanäle gezielt zu nutzen.
Technologische Verkaufshilfen im Ladengeschäft müssen einen echten Mehrwert bieten und unkompliziert sein. Vorstellbar ist sicherlich eine Vielzahl von Geräten und Features, wie virtuelle Spiegel oder VR-Brillen, welche im alltäglichen Einsatz aber (noch) schnell an ihre Grenzen kommen. Vieles ist noch nicht ausgereift und braucht auch Zeit, um bei den Kundinnen und Kunden akzeptiert zu werden. So gibt es Handscanner und Selfscanning schon seit vielen Jahren, aber erst in den letzten Jahren findet eine wachsende Verbreitung tatsächlich statt. Hier gilt es, sinnvolle Innovationen immer wieder zu testen, gegebenenfalls aber auch wieder fallen zu lassen, wenn die Praktikabilität ausbleibt.“

Wenn der E-Commerce auch anteilig weiter wächst, was heißt das für das Filialnetz, genauer gesagt für die Anzahl und Größe der Filialen und die angebotenen Dienstleistungen?
„Auch mit einem weiter wachsenden E-Commerce bleiben stationäre Touchpoints wichtig und können einen Wettbewerbsvorteil darstellen. Voraussichtlich wird sich die Anzahl der stationären Ladengeschäfte im Modemarkt aber noch weiter verringern. Der niedrigere Bedarf an Offline-Touchpoints wird sich wohl auch bei den Vertikalen bemerkbar machen. Über die notwendige oder sinnvolle Größe des einzelnen Outlets entscheidet das jeweilige Konzept. Grundsätzlich ist aber auch klar, dass (persönliche) Services als Attraktionsfaktor für Ladenstandorte immer bedeutender werden.“

Ein Megatrend, der immer wieder zur Sprache kommt, ist das Thema Nachhaltigkeit. Speziell die preisorientierten Anbieter müssten, wenn sie nachhaltiger werden wollen, teurer werden und sie müssten auch mehr Kontrolle zulassen. Sehen Sie eine Bereitschaft der Unternehmen dazu?
„Am Thema Nachhaltigkeit kommt keiner mehr vorbei. Das Schwierigste mit der Nachhaltigkeit im Modemarkt ist eine transparente, nachvollziehbare und glaubwürdige Kennzeichnung. Die Vielzahl der beteiligten Wertschöpfungsstufen und die Breite der Ansatzpunkte – von ökologischer Rohstoffgewinnung über schadstofffreie Verarbeitung bis zu sozial gerechten Arbeitsverhältnissen in Produktionsstätten – sind dabei die Herausforderung, in allen Preislagen. Die Kundinnen und Kunden brauchen Orientierung und wer diese geben kann, ist künftig im Vorteil.“

Viele sprechen auch vom Trend der Individualisierung. Beißt sich das nicht mit „Standardangeboten in Standardfilialen“?
„Individualisierung meint ja nicht zwangsläufig Customization. Geht es nicht vielmehr darum, den Kundinnen und Kunden die Möglichkeit zu geben, sich mit der vielfältigen Produktpalette ein individuelles Outfit zusammenzustellen? Vorschläge für Outfits seitens des Händlers sind dabei durchaus willkommen.
Modisch dürften die Vertikalen auch in Zukunft keine Probleme haben, ihre Kunden zu finden. Aber Konsumenten achten heute nicht nur auf den ökologischen Fußabdruck eines Unternehmens. Die Gen Z fordert von Unternehmen auch, dass sie sich mit sozialen Fragen befassen, zu politischen Fragen Stellung beziehen. Muss ein grünes und soziales Bewusstsein Teil der Unternehmensstrategie werden und wie kann das aussehen?
Unternehmen, welche sich nicht auch an den gesellschaftlichen Werten der Bevölkerung orientieren beziehungsweise diese auch selbst ,leben‘ und spiegeln, haben es immer eher schwer. Da kommt es selbstverständlich auf die Zielgruppen an. Wenn also etwa die ältere Bevölkerung die Zielgruppe ist, werden vermutlich das Thema Diversity und eine gendergerechte Kommunikation weniger erwartet als in der jüngeren Bevölkerung – sicher ist das allerdings auch nicht und bei einem Herauswachsen der Zielgruppe ist eine Umorientierung ohnehin notwendig. Entscheidend ist am Ende aber die Authentizität: Was versprochen wird, muss auch glaubhaft umgesetzt werden.“

„Grundsätzlich stehen die Multilabel-Händler unter größerem Druck der Online-Player und mehr und mehr auch der Markenhersteller mit eigenem D2C-Vertrieb, was vor allem für die kleinen Läden existenzbedrohend ist.“

Wo sehen Sie dagegen die Stärken der Lokalmatadore, der Platzhirsche, gegenüber den Vertikalen?
„Die Platzhirsche bedienen als Multilabel-Händler im mittleren bis gehobenen Genre ohnehin andere Bedarfe als Vertikale. Unabhängig vom Sortiment beziehungsweise der Preislage sind diese viel enger mit ihren Kundinnen und Kunden im Einzugsgebiet und teilweise darüber hinaus verbunden als vertikale Filialsysteme. Die digitale Sichtbarkeit ist für diese ebenso wichtig, findet aber auf einer persönlicheren Ebene statt.“

Bleibt es bei den aktuellen Kräfteverhältnissen zwischen Wholesale und Vertikalen?
„Grundsätzlich stehen die Multilabel-Händler unter größerem Druck der Online-Player und mehr und mehr auch der Markenhersteller mit eigenem D2C-Vertrieb, was vor allem für die kleinen Läden existenzbedrohend ist.
Wenn sich das Ausgabeverhalten insgesamt wieder normalisiert und künftig das Nachhaltigkeitsinteresse der Konsumierenden im Modemarkt zu einer abnehmenden Kauffrequenz mit einer Verlagerung der Ausgaben in wertigere Produkte führt und dabei der lokale Händler besonders berücksichtigt wird, ist das eine Chance für den Multilabel-Handel, auch für einige Kleinere. Die aktuellen Geschehnisse in der Ukraine können indes schon durch die rasant steigenden Energie-, Rohstoff- und Transportkosten deutliche Verschiebungen in den Ausgabeprioritäten hervorbringen und den Fokus stärker auf preiswertere Mode der Vertikalen auch im Niedrigpreissegment lenken.“

Der Gesprächspartner

Hansjürgen Heinick, Senior Consultant und Fashion-Experte am IFH KÖLN, befasst sich seit vielen Jahren mit den Themen Online-Handel und Einzelhandel sowie Fashionmärkte. Heinick analysiert die aktuelle Marktsituation und sucht nach relevanten Trends. Dazu gehört auch die Einordnung der Position eines Unternehmens, einer Vertriebslinie oder einer Marke, die durch Zielgruppen-, Distributions- und Wettbewerbsanalysen vertieft wird. Neben einer Vielzahl individueller Projekte für Unternehmen, Verbände oder öffentliche Auftraggeber veröffentlicht das IFH regelmäßig Branchenstudien zu Heinicks Kernthemen wie den „Branchenreport Onlinehandel“.