Der Russlandexperte Prof. Dr. Gerhard Mangott rechnet nicht mit einem schnellen Frieden. Und wenn er kommt, dürfte die Ukraine weit weg sein von Stabilität und Sicherheit, sagt Prof. Mangott im FT-Interview. Der russische Präsident Wladimir Putin sei der Aggressor, dessen Angriff durch nichts zu rechtfertigen sei, aber auch der Westen trage eine Mitverantwortung für die Entwicklung hin zum Krieg.
FT: „In Russland selbst werden wir über einen großen Politiker lesen, der Russland zu alter Stärke als Großmacht zurückgebracht und den Staat stabilisiert hat. Im politischen Westen wird das Pendel auf die andere Seite ausschlagen und wir lesen von einem aggressiven Autokraten, der sich nicht um Menschenrechte kümmert. Während China, Indien oder Vietnam ein differenzierteres Bild zeichnen werden, wird die Abneigung gegenüber Putin bei den NATO- und OECD-Staaten groß sein.“
„Ich rechne nicht mit einer Wiederannäherung. Biden bleibt wenigstens bis 2024 im Amt, ebenso Putin und auch vonseiten der EU gibt es keine Zeichen der Entspannung. Dass aber mit dem Abtritt Putins ein neues, dem Westen zugewandtes Russland entsteht, halte ich für einen fatalen Irrglauben.“
Zwei Zitate aus unserem letzten Interview vom April 2021. Hätten Sie damit gerechnet, dass wir heute ein knappes Jahr später über den Angriff Russlands gegen die Ukraine sprechen?
Prof. Gerhard Mangott: „Seit Januar, als klar war, dass sich weder der Westen noch Russland in den Gesprächen auf einen Kompromiss einigen und von ihren Maximalpositionen abrücken würden, musste man mit einer militärischen Eskalation rechnen. Ich war aber eher davon ausgegangen, dass Putin in kleineren Eskalationsschritten den Verhandlungsdruck erhöht, etwa mit dem Einmarsch in die prorussischen Separatistengebiete Donezk und Luhansk. Das Putin auf breiter Front die Ukraine angreift und eine umfassende Invasion startet, hat mich überrascht, denn klar ist, dass auch mittel- bis langfristig die Kosten dieses Krieges höher sein werden als dessen Nutzen.“
Was hat sich gegenüber April 2021 geändert, dass Putin die Ukraine großflächig angreifen lässt?
„Es war nicht der erste Truppenaufmarsch an den Grenzen zur Ukraine. Auch im Frühjahr 2021 wurden umfangreiche Kräfte zusammengezogen, um klar zu machen, wo für Putin die roten Linien sind und um den Westen und die NATO zu weiteren Zugeständnissen zu bringen. Damals ging es darum, dass die Ukraine abrücken sollte vom Westen. Als die Truppen wieder abzogen, blieb das Gerät ja dort. Zwischenzeitlich sind der Westen und vor allem die USA weiter auf die Ukraine zugegangen und haben auch umfangreiche Militärhilfen geleistet. Putin hatte in Reaktion darauf klar formuliert, was wer wollte: Nicht nur den Stopp der Ostexpansion der NATO, sondern den militärischen Rückzug aus Osteuropa. Das allerdings war für den Westen ein Nonstarter, also nicht verhandelbar. Als am 27. Januar die schriftliche Antwort der USA und der NATO kam mit Vorschlägen zu anderen Punkten wie Rüstungskontrollen von Mittelstreckenraketen und weitere vertrauensbildende Maßnahmen, reagierte der russische Außenminister Sergey Lawrow mit dem Hinweis, dass es um das Gesamtpaket gehe und der Westen sich nicht einzelne Punkte herauspicken könne.“
Die Fronten sind verhärtet. Dort Putin, der mit brutaler Waffengewalt Realitäten schafft und auf der anderen Seite der Westen in überraschend schneller Einhelligkeit, genau diese Realitäten nicht zu gelten zu lassen. Der Westen liefert Waffen und Geld, aber keine Soldaten. Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, dass die Nato über diesen Weg in den Krieg gezogen wird?
„Weder die USA noch die NATO haben ein Interesse in den Konflikt militärisch hinein gezogen zu werden. Auch wenn die Rufe nach einer Flugverbotszone immer wieder aufkommen und lauter werden, werden sich der Westen und die NATO nicht darauf einlassen, weil das zu einem direkten Konflikt zwischen der NATO und Russland führen könnte. Daran wird sich bei allen Forderungen auch nach dem Europa-Besuch des US-Präsidenten Joe Biden kommende Woche nichts ändern. Russland betont immer wieder, dass Konvois mit Waffenlieferungen an die Ukraine legitime Angriffsziele seien. Aber erst dann, wenn sie ukrainischen Boden erreicht haben. Ob aber die Waffenlieferungen überhaupt sinnvoll sind, hängt von der Beurteilung ab, in wieweit sich dadurch die Überlegenheit der russischen Armee ausgleichen lässt. Eine Minderheit der Militärexperten sieht durchaus die Chance, dass die Ukrainer auf Sicht das russische Militär an den Rand der Niederlage bringen können. Dann wären Waffenlieferungen natürlich hilfreich und sinnvoll. Die meisten Experten rechnen aber damit, dass die Überlegenheit Russland zwangsläufig zu einer militärischen Niederlage der Ukraine führen wird. Dann würde durch Waffenlieferungen das Leid nur verlängert, der Krieg in die Länge gezogen. Putin wird die Schraube enger anziehen und den Krieg weiter eskalieren und brutalisieren lassen, um die Ukraine zur Kapitulation zu zwingen.“
Sehen Sie noch Möglichkeiten einer schnellen Entspannung, eine Fluchttür, die sich als Ausweg aus diesem Konflikt öffnen lässt?
„Putin will, dass die Ukraine ein neutrales Land wird und der Westen sich auch militärisch aus der Region zurückzieht. Lawrow spricht von einem Verbot bestimmter Waffensysteme auf ukrainischen Boden und will auch die Truppenstärke beschränken. Selbst wenn der ukrainische Präsident Woloymyr Selenskyj dem zustimmen würde, wäre nicht klar, ob er die gesamte ukrainische Führung hinter sich wüsste. Selenskyj kann sich den Status der Neutralität zwar vorstellen, fordert aber Sicherheitsgarantien, unter anderem, dass westliche Staaten das Land verteidigen werden, sollte Russland erneut einmarschieren. Und dann hätten wir die Bündnisgarantie der NATO durch die Hintertür eingebaut, dann hätte die Ukraine faktisch den Status eines NATO-Landes. Das wird Putin auf keinen Fall akzeptieren.
Putin kann jetzt nicht mehr zurück, er muss seine Forderungen durchsetzen. Alles andere würde für ihn eine Niederlage bedeuten. Der russische Präsident fordert die Demilitarisierung der Ukraine und ihre Neutralität. Die Krim soll als Teil Russlands anerkannt werden und auch die Volksrepubliken des Donbass. Dabei hat er nicht nur die von den Separatisten besetzten Gebiete im Sinn, sondern die komplette Region. Das hieße, dass die Ukraine weitere zwei Drittel der Provinzen Donezk und Lugansk dort verlöre. Das wiederum kann Selenskyj nicht zulassen. Ich fürchte, wir müssen damit rechnen, dass der Konflikt sich nicht nur länger hinziehen, sondern Putin den Krieg gezielt verschärfen wird, um Selenskyj zum Einlenken zu bewegen.“
Wird es ein weiteres Jahr dauern, bis wir von einer neuen Situation sprechen können und wie könnte diese neue Situation aussehen?
„Wenn die Ukraine den Krieg militärisch verliert, wird die Regierung in Kiyv gestürzt und Putin wird eine Marionettenregierung installieren, etwa Wiktor Janukowitsch wieder zum Präsidenten machen, der 2014 vom Parlament abgesetzt wurde. Dann müsste sich Russland aber darauf einrichten, die Ukraine dauerhaft zu besetzen, um eine solche Regierung zu stützen. Das wiederum ist militärisch und finanziell sehr teuer. Sich seiner Sache sicher sein kann Putin nicht. Das zeigt aktuell die Lage in Melitopol und Cherson. Wenn es zu einem asymmetrischen Krieg kommt – und die USA haben schon zugesichert, auch eine ukrainische Guerilla-Armee zu unterstützen – kann das über kurz oder lang zu einer militärischen Zwangslage führen. So wie sich die USA in Afghanistan zurückziehen mussten, faktisch den Konflikt verloren haben. Egal wie, der Frieden wird, wenn er denn kommt, ein fragiler sein.
Ich möchte an dieser Stelle klar sagen, dass der Aggressor Putin heißt. Er hat einen souveränen Staat angegriffen. Das ist durch nichts zu rechtfertigen. Aber wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, dass auch der Westen eine Mitverantwortung für die Entwicklung hin zum Krieg trägt. Der Westen und die NATO haben sich ziemlich unflexibel in der Gesprächen mit Russland gezeigt. Wenn dieser Krieg nun dazu führt, dass die Ukraine neutral wird, ein entmilitarisiertes Land, hätte man dieses Ergebnis sicher auch dem Verhandlungsweg erzielen können. Die USA haben von Anfang an gesagt, wir werden keinen Krieg gegen Russland führen, also auch keine Soldaten schicken. Dennoch beharrten die USA und die NATAO darauf, die Prinzipien der Open Door und der freien Bündniswahl hochzuhalten. Man hat also gewissermaßen die Ukraine genau dafür geopfert, in dem Wissen, dass das Land nicht auf den militärischen Beistand der USA und NATO zählen kann.“
Der Interviewpartner
Gerhard Mangott studierte von 1984 bis 1989 Politikwissenschaft, Geschichte und Slawistik an der Universität Innsbruck sowie an der Universität Salzburg. Von 1989 bis 1991 war er Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck. Von 1991 bis 2008 arbeitete Mangott als Russland- und Osteuropareferent am Österreichischen Institut für Internationale Politik (oiip) in Laxenburg und in Wien. Im Jahr 2001 promovierte der Russlandexperte zum Doktor der Philosophie im Fach Politikwissenschaft. Mangott wurde im Jahr 2002 habilitiert und hält die Venia Docendi der Politikwissenschaft. Im Oktober 2015 wurde er Universitätsprofessor für Internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck. Sein Hauptforschungsgebiet sind Internationale Politik und vergleichende Regimelehre.
Mangott gilt als Experte im Bereich der Regimelehre Russlands und der Ukraine, der Rüstungskontrolle und Proliferation sowie der Energiesicherheit der Europäischen Union im Öl- und im Gassektor. Seit 2009 ist der Politologe auch Scientific Adviser on Post-Soviet Affairs am oiip in Wien. Mangott ist überdies als Gutachter für den britischen „Economic and Social Research Council“, die „Volkswagenstiftung“, den „Jubiläumsfonds“ der Oesterreichischen Nationalbank, den „Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung“ und verschiedene wissenschaftliche Fachzeitschriften tätig.