„Vernunft und Solidarität sind christliche Werte“

Kirche und Corona

Das Coronavirus sieht harmlos aus, ist aber weltweit verantwortlich für mehr als 300 Millionen Infizierte und über 5 Millionen Tote. Illustration: ©Henry Vaders

Autorin: Katja Vaders
Das Jahr 2022 startet mit der fünften Corona-Welle. Die Inzidenzen sind hoch wie nie, Tendenz dramatisch steigend. Hilft jetzt nur noch beten? FT sprach mit dem Kulturbeauftragten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Dr. Johann Hinrich Claussen, über Kirche und Pandemien vom Mittelalter bis heute, Gottvertrauen sowie Vernunft als christlichen Wert.

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FT: Herr Claussen, auch wenn wir gerade alle am Ende unserer Kräfte sind, was Corona angeht: Die Pest war noch erheblich furchterregender. Sie gilt als schlimmste Pandemie der Menschheitsgeschichte, die im 14. Jahrhundert geschätzt ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahinraffte. Im Mittelalter glaubten die Menschen beziehungsweise die Kirche dementsprechend, sie sei eine Strafe Gottes. Welche Auswüchse hatte das?
Dr. Johann Hinrich Claussen: „Die evangelische Kirche gibt es ja seit der Reformation im Jahr 1517. Auch zu dieser Zeit gab es noch Pestwellen, sogar bis ins 16. und 17. Jahrhundert. Ich bin jetzt 57 Jahre alt; zu Luthers Zeiten hätte ich in diesem Alter bereits zehn Pestwellen hinter mir gehabt! Die Pest war für die Menschen damals also ein Dauerthema. Hinzu kommt, dass man seinerzeit kaum etwas über sie wusste. Da war es eine sehr menschliche Reaktion, die Krankheit als Strafe Gottes zu betrachten. Das klingt zwar erst einmal bedrohlich, ist aber ein archaischer Reflex, den man auch heute noch bei traumatischen Erfahrungen kennt. Kontrollverlust wird auf eine höhere Ursache oder die eigene Schuld zurückgeführt. Daraus resultiert: Ich büße, dann werde ich in Zukunft hoffentlich verschont.“

Die Pestärzte trugen schnabelähnliche Masken, in denen sich in Essig und Kräuter getränkte Säckchen oder Schwämme befanden. So wollten sie sich vor den Ausdünstungen der Kranken schützen. Illustration: ©Eliot Druschke

Versuchten die Menschen im Mittelalter also, sich mit Gebeten vor der Pest zu schützen – oder gab es bereits andere Möglichkeiten?
„Im Mittelalter war ein Mittel der religiösen Bewältigung der Pandemie, die Heiligen anzurufen – in diesem Fall waren das Sankt Sebastian und Sankt Rochus. Auch damals kamen übrigens schon Verschwörungstheorien auf, die nicht nur böse Mächte, sondern auch angeblich böse Menschen für die Pest verantwortlich machten. Infolgedessen kam es zum Beispiel zu antijüdischen Ausschreitungen. Zugleich bemerkte man schon relativ früh, dass Abstand hilft. Das war das einzige Gegenmittel gegen Pandemien: Man führte Quarantänen für Kranke ein, die auch sehr streng kontrolliert wurden, was für viele Menschen den Tod bedeutete, weil ja immer die gesamte Familie eingesperrt wurde und sich dann natürlich alle infizierten.
In der Reformation änderte sich einiges, weil mit ihr die Heiligenbeschwörung aufhörte. An ihre Stelle traten die Anfänge der modernen Medizin. Die reformierte Kirche rief dazu auf, Vernunft walten zu lassen und den Ärzten zu gehorchen. Dazu gehörte auch zu verhindern, dass Gläubige an Prozessionen oder Wallfahrten teilnahmen, weil sich hier Viren besonders gut verbreiten konnten. Aber auch die Ärzte hatten als einziges Mittel die strenge Quarantäne, dazu noch einige sehr wirkungslose Pulver wie Ingwer oder gemahlene Knochen, was aus heutiger Sicht absurd klingt.“

Man kann also sagen, dass die Reformation die Moderne einläutete?
„Auf jeden Fall unterstützte die Reformation den Glauben an die Wissenschaft. Damit ging ein regelrechter Modernisierungsschub einher. Diese Bewegungen gab es natürlich auch in katholischen Regionen, wie zum Beispiel in Florenz. Das Ganze war aber ein Prozess, der schrittweise von der Renaissance über die Reformation bis zur Aufklärung anhielt.“

„Vor allem in den USA gibt es radikale, evangelikale Gruppen, die die Pandemie dazu nutzen, um gegen den Staat Programm zu machen. Auch die Katholiken in Ländern wie Polen haben starke Kräfte, die in diese Richtung gehen.“

Wie sieht das heute aus? Welchen theologischen Diskurs verfolgt die Kirche während Corona?
„Wir Theologen schauen natürlich genau hin, wie die Menschen mit so einer Pandemie umgehen. Interessanterweise gibt es ein paar Muster von damals, die auch heute wieder aufpoppen – Verschwörungstheorien beispielsweise. Insgesamt werben wir für Besonnenheit, auf das zu hören, was die Medizin sagt, und dafür, die sinnvollen Regeln zu befolgen. Dazu gehören aber auch ein gewisses Gottvertrauen und eine innere Ruhe, damit man nicht in Panik verfällt. Dieses Gottvertrauen braucht man, wenn man eine so lange Krise durchstehen muss, um angemessen handeln zu können.“

Damit geht die Kirche konform mit dem, was Politik und Wissenschaft propagieren. Gibt es denn auch Kirchenvertreter, die eher mittelalterliche Ansätze vermitteln und Corona für eine Strafe Gottes halten?
„Die gibt es natürlich auch, insbesondere in den Ländern, in denen die Pandemie zu einem kulturpolitischen Kampfthema gemacht wird. Vor allem in den USA gibt es radikale, evangelikale Gruppen, die die Pandemie dazu nutzen, um gegen den Staat Programm zu machen. Auch die Katholiken in Ländern wie Polen haben starke Kräfte, die in diese Richtung gehen. Im Endeffekt ist das ein Kampf gegen die Moderne, gegen die Wissenschaft und eine aufgeklärte Gesellschaft. Der Katholizismus ist eine Weltkirche, die in unterschiedlichen Kulturen und Ländern beheimatet ist und dementsprechend auch unterschiedliche Prägungen hat.
In Deutschland hingegen gibt es nur minimale Unterschiede bei der evangelischen und der katholischen Kirche, es herrscht im Großen und Ganzen ökumenische Einigkeit. Natürlich gibt es auch hier extreme Positionen, wie von dem rechtskatholischen Kardinal Müller, bei den Evangelischen gibt es ebenfalls AfD-Propagandisten, aber das sind keine Mehrheiten. In Ländern wie Brasilien ist das anders, hier kommt hinzu, dass der Präsident Bolsonaro das Coronavirus leugnet.
Bei den Orthodoxen in den osteuropäischen Ländern gibt es zwar ganz viele vernünftige Seelsorger, allerdings auch einige Propagandisten, die einen erheblichen Schaden anrichten. Das ist aber auch wieder von Land zu Land unterschiedlich. Hinzu kommt, dass gerade die Menschen, die im ehemaligen Ostblock groß geworden sind, allem, was vom Staat kommt, erst einmal skeptisch gegenüberstehen.“

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Das können wir ja leider auch in Deutschland beobachten: In einigen der neuen Bundesländer besteht eine erheblich niedrigere Impfquote und auch die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen sind ausgeprägter. Man sieht in den Medien immer wieder Demonstrierende, die sich auf ihr von Gott gegebenes, angeblich sehr intaktes Immunsystem berufen, welches das Virus ganz leicht allein bekämpfen kann …
„Ja, das ist leider so. Manche meinen, dass der rechte Glaube sie aus den Zwängen und Notwendigkeiten der Welt entlässt. Wir haben aber nicht nur unseren Geist, sondern auch einen sozialen Körper und leben in einem Umfeld, in dem nicht nur der Glaube existiert. Daher sollten wir versuchen, Körper und Geist miteinander zu verbinden. Wir müssen uns impfen lassen, nicht nur für unsere Gesundheit, sondern auch aus Rücksicht auf andere. Wir müssen solidarisch sein mit den Schwächeren, denn auch Vernunft und Solidarität sind christliche Werte.
Die Medien tragen allerdings sehr dazu bei, in diesem Zusammenhang die Stimmung aufzuheizen. Sie zeigen natürlich bevorzugt die radikalen Positionen, die es sicherlich gibt. Die breite Masse sieht das Thema aber auch in den neuen Bundesländern anders.“

„Wir sollten aus der Pandemie lernen, wie wir in zukünftigen Krisen miteinander umgehen können und wollen. Denn das wird nicht die letzte Krise sein, weitere werden folgen, natürlich vor allem der Klimawandel …“

Auch wenn wir das derzeit vielleicht anders wahrnehmen, befindet sich die Pandemie in einem stetigen Wandel. Letzten Winter hatten wir zwar niedrigere Inzidenzen, sind aber jetzt erheblich entspannter. Das liegt natürlich vor allem an der Impfquote, trotzdem verunsichern neue Virusmutationen wie Omikron stark. Sind daher auch die Fragen und Bedürfnisse von Gläubigen einem Wandel unterworfen?
„Interessante Frage, da kann ich natürlich nur über meine Erfahrungen berichten. Am Anfang der Pandemie waren die Menschen geschockt und es überwog ein Wissensdurst, der sich vor allem auf das bezog, was die Virologen sagten, und weniger auf das, was von den Pastoren kam. Es gab viel Solidarität und Verständnis für die Maßnahmen.
Im zweiten Lockdown war das schon ganz anders, da dieser ja durch ein staatliches Versagen hervorgerufen wurde und dazu auch noch quälend lang anhielt. Zu dieser Zeit hatten die Menschen einen großen seelsorgerischen Bedarf, für den man allerdings mit ihnen in Kontakt treten musste – und das war schwer oder überhaupt nicht möglich. Die Folge waren Isolation und Rückzug, was es uns noch schwerer machte, mit Gläubigen in Verbindung zu treten.
Glücklicherweise haben wir aus dieser Zeit sehr viel gelernt. Ich kann jetzt wieder Sterbebegleitungen im Hospiz oder in Krankenhäusern vornehmen, was im letzten Jahr unmöglich war. Das geht natürlich nur mit sehr viel Testen und dem Tragen von Masken, aber wir können endlich wieder unseren pastoralen Dienst ausführen. Dafür bin ich sehr dankbar!
Wir als Gesellschaft haben gelernt, was es heißt, mit den seelischen Folgen einer Pandemie umzugehen, mit Trauer und Einsamkeit. Das ist ein echter Fortschritt!“

Wenn wir jetzt mal einen vorsichtigen Blick in die Zukunft wagen: Wie wird es in der nächsten Zeit weitergehen – mit der Pandemie, aber auch mit der Gesellschaft?
„Wir sollten aus der Pandemie lernen, wie wir in zukünftigen Krisen miteinander umgehen können und wollen. Denn das wird nicht die letzte Krise sein, weitere werden folgen, natürlich vor allem der Klimawandel … Wir können jetzt üben, wie wir in der nächsten Krise handeln, kommunizieren oder mit unseren inneren, seelischen Ressourcen umgehen werden. Da hat der christliche Glaube einiges zu bieten: Besonnenheit, Liebe und die Kraft, eine Krise gemeinsam zu bewältigen.“

Vielen Dank für das Gespräch!

Johann Hinrich Claussen ©Andreas Schoelzel

Der Gesprächspartner

Johann Hinrich Claussen wurde 1964 in Hamburg geboren. Er absolvierte ein Studium der Evangelischen Theologie in Tübingen, Hamburg sowie London und promovierte und habilitierte anschließend in Systematischer Theologie. Claussen publiziert zu kulturtheologischen Themen in deutschen Zeitungen, Zeitschriften und Radioprogrammen und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, zum Beispiel über die Geschichte des Kirchbaus und der Kirchenmusik. Nach Stationen als Pastor, Propst und Hauptpastor in Hamburg ist Dr. Johann Hinrich Claussen seit dem 1. Februar 2016 Kulturbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland.