Autorin: Katja Vaders Da die Pandemie uns gerade eine kleine Verschnaufpause gewährt, ist es Zeit, ein kleines Resümee zu ziehen – und in die Zukunft zu blicken: Hat Corona die Mode verändert? FT sprach mit Carl Tillessen von DMI über fünf Männerlooks für FS 2022 und darüber, ob die von ihm prognostizierte Revolution in der Männermode wirklich stattgefunden hat.
Herr Tillessen, im letzten November hatten wir über die Looks der Pandemie gesprochen. Welche Trends haben sich tatsächlich durchgesetzt?
Ein Trend, der definitiv bleiben wird, ist bequeme Kleidung. Die Geschichte lehrt uns, dass die Menschen eine einmal eroberte Bequemlichkeit nie wieder hergeben. So war das auch vor hundert Jahren. Nachdem man die Frauen einmal vom Korsett befreit hatte, bekam man sie nie wieder hinein. Und das ist gut so. Etwas Ähnliches erleben wir gerade: Die Menschen haben ein Jahr lang die bequemste derzeit verfügbare Kleidung getragen wie die klischeehafte Jogginghose oder Sweatshirts. Insgesamt sehen wir eine entspanntere Silhouette und Schuhe mit entsprechender Auftrittspufferung – da gibt es kein Zurück, zumindest nicht in der Alltagskleidung. Das Nachtleben sei hier mal ausgeklammert, aber sich den ganzen Tag Hemd und Krawatte anzutun: Das wird nicht mehr passieren!
Sie hatten im letzten Jahr die Revolution in der Männermode angekündigt. Ist die tatsächlich passiert?
Absolut! Die Männer sind von dieser Disruption viel stärker betroffen als die Frauen, bei denen der Dresscode ja auch schon vorher nicht so festbetoniert war. Bei den Männern hingegen hatte es diesen klaren Kanon von Hemd, Anzug, Krawatte gegeben, der jetzt viel stärker aufgebrochen wurde. Was ich dabei ganz wichtig finde: Diese neue Lässigkeit ist auf gar keinen Fall eine Nachlässigkeit! Wir gehen jetzt vielleicht in der Jogginghose auf die Straße, aber es darf auf keinen Fall die ausgebeulte Variante sein, sondern das Ganze muss wertig und gepflegt übersetzt werden.
Und damit sind wir auch schon beim ersten Männertyp für FS 2022, dem HOMEOFFICE-WORKER. Bei diesem Look ist auffällig, dass eine sehr helle und elegante Farbigkeit überwiegt, über die ein Bruch geschieht: Die Bequemlichkeit wird durch die neuen Farbtöne elegant. Das sind klassisch elegante Farben, die man eher von der Wolle kennt und die jetzt auf Baumwolle übertragen werden, z.B. Camel oder ein Kaschmirton wie bei einem Weimaraner-Hund und sogar Wollweiß.
Auch Pastelltöne?
Nein, die spielen bei einem anderen Männertypen eine Rolle. Hier geht es um Farbtöne, die man mit klassischer Eleganz assoziiert und die auf Elemente übertragen werden, die man aus der Home- und der Streetwear kennt. Es gibt also noch Einflüsse aus der Streetwear, es ist aber nicht mehr so Ghetto wie in den letzten Saisons. Es geht vielmehr darum, den Look so auszubalancieren, dass man über die Farbigkeit, Qualitäten und Wertigkeiten ein Gegengewicht herstellt.
Und das trägt man wirklich auf der Straße?
Ja, die Kombination aus Bequemlichkeit und Eleganz macht das Ganze straßen- und sogar bürotauglich. Es gab schon vor Corona Ansätze für diesen Look. Die Kombination aus Jeans und Blazer, die sich in den ersten 20 Jahren des neuen Jahrhunderts bei den Männern extrem etabliert hatte, war langweilig geworden. Sie wird jetzt abgelöst durch die Verbindung aus einer Joggpant, bzw. einer edlen Jogginghose und einem Sakko.
Sakkos wird es also weiterhin geben?
Was sich noch größerer Beliebtheit erfreut als vor der Krise ist das „Sweacket“ – ein Sakko aus Jersey, das die Bequemlichkeit eines Sweaters mit dem Look eines Jackets verbindet. Da gibt es jetzt sogar einen neuen Aspekt: Bei den Modellen, die man vor der Pandemie kannte, imitierte der Jersey bewusst traditionelle Anzugstoffe. Darüber ist man jetzt hinweg: Der Jersey darf jetzt auch nach Jersey aussehen.
Wird es Anzüge und Hemden überhaupt nicht mehr geben?
Das Lustige ist, dass es beides noch gibt, aber nicht mehr in Kombination. Wenn man sich die Bilder der Schauen betrachtet, sieht man Hemden und man sieht Sakkos, aber man hat Mühe, ein einziges Bild zu finden, auf dem die Kombination über den Laufsteg läuft. Der alte Look von Hemd und Sakko hat sich gewandelt: Statt eines Hemdes trägt man jetzt im Sommer T-Shirt oder Polo unter dem Sakko. Wenn man ein Hemd trägt, dann trägt man es anstatt des Sakkos. Das Hemd geht damit zunehmend in Richtung Hemdjacke.
Ein Klassiker für Männer im Sommer ist Leinen. Können wir damit weiterhin rechnen?
Natürlich. Leinen war schon immer sehr beliebt, um Naturverbundenheit und Natürlichkeit und damit Umweltbewusstsein zu signalisieren. Insofern hat es ein starkes Comeback. Es ist schön, faszinierend und spannend, dass gerade ein neuer Ökolook entsteht, der keine historischen Vorbilder hat und nicht so aussieht wie die Müslilooks vergangener Jahrzehnte. Es ist vielmehr ein sehr eleganter, raffinierter und gar nicht subversiver Look, der ganz neue Kombinationen von Material, Schnitt und Farbe hervorbringt.
Wie heißt dieser Männertyp? „Der Grünenwähler“ vielleicht? Männer mit guter Ausbildung, viel Budget und Umweltbewusstsein?
Ja, kann man so sagen. Das ist ein arrivierter, umweltbewusster Mann. Diese Aspekte spielen definitiv rein in den zweiten Männertypen, den wir den GÄRTNER genannt haben. Hier kommen auch die bereits angesprochenen Pastelltöne zum Tragen. Es gibt eigentlich zwei verwandte Typen, den FÖRSTER und den GÄRTNER.
Ich wittere Heritage …
Ja, auch. Und wie die Namen schon vorwegnehmen, hat der Förster ein traditionelleres, der Gärtner jedoch ein avancierteres, fortgeschritteneres Männerbild. Beide Typen nähren sich aus der wiederentdeckten Liebe zur Natur. Während des Lockdowns war in den Innenstädten nichts los, und so ist man dann eher raus aufs Land als rein in die Stadt und hat dementsprechend die Nähe zur Natur gesucht und gefunden. Und das behält man auch jenseits des Lockdowns bei.
Erklären Sie doch bitte etwas genauer, wie der Gärtner-Look aussieht.
Dieser Mann trägt Pastelltöne und florale Dessins, aber auch einen Strohhut oder eine Kappe aus den Materialien, aus denen auch seine Kleidung ist. Der Gärtner greift gerne zu Leinen- oder Leinenmischungen, aber auch Denim spielt eine sehr große Rolle. Man ist allerdings komplett weg vom Raw-Denim-Look, sondern freut sich wieder an sehr kunstvollen Waschungen und einem ebenso kreativen Umgang mit Jeans und sehr aufwendigen Finishes, einem dezidierten Used-Look, der alt aussehen soll und relativ hell ist. Das kann bis zu einem richtigen Hellblau gehen. Es darf auch ein bisschen mehr Design sein, mit Elementen aus der Workwear, wie z. B. eine Latzhose.
Slim ist vorbei?
Ja, obwohl es natürlich Männer gibt, die sich darin beerdigen lassen werden. Aber an der modischen Front gibt es eine erheblich entspanntere Silhouette. Der Gärtner-Look ist zudem mediterran angehaucht und transportiert Romantik und Nostalgie. Die Blumendessins tragen zusätzlich dazu bei.
Wenden wir uns dem nächsten Männertypen zu, den Sie bereits erwähnt haben, dem FÖRSTER.
Eine Verbundenheit mit der Natur kommt auch hier zum Tragen, aber eher im Outdoorbereich. Beim Förster-Look sind Männer definitiv in ihrem Element. Diese Typen definieren sich über einen „Rurban“-Lifestyle, also einen Lebensstil, in dem sich rustikale und urbane Elemente mischen. Die Kleidung des Försters ist bewusst utilitaristisch: Cargotaschen, Inspirationen aus der Workwear, zwischen Pfadfinder-Romantik und Bucket Hat. Ein sehr maskuliner Stil, mit dem der Städter signalisiert, dass er mit einem Bein auf dem Land und bereit und gewillt ist, es mit den Elementen aufzunehmen.
Ich sehe da Marken wie The North Face, Patagonia oder Fjallraven, also hochwertige Outdoor-Brands, die aber inzwischen auch von der Streetwear adaptiert werden.
Absolut. Dazu Hybrid-Sneaker und Schuhwerk, das sich zwischen Trekking und City-Hiking bewegt.
Ist das ein cooler Look? Ich bin gerade etwas hin und hergerissen zwischen „extrem lässig“ und „alter Herr mit Anglerweste“…
Nein, das ist definitiv ein cooler Look, der allerdings auch eine Prise Ironie aushält. Der Bucket Hat zum Beispiel hat ja auch etwas senioren- bzw. anglermäßiges, ist aber gleichzeitig cool. Der Stil hat auch etwas Jungenhaftes, weil es extrem viel kurze Hosen gibt.
Kommen wir zum vierten Männertyp. Wen haben Sie noch definiert?
Diesen Männertyp haben wir den AUSWANDERER genannt, und er ist ebenfalls genährt durch das Lockdown-Erlebnis. Der Look ist in einer Farbigkeit, die überraschend dunkel ist für den Sommer. Ohne spezielle Länder benennen zu können, sind die Farben eher mit der südlichen Hemisphäre assoziiert. Der afrikanische und südamerikanische Kontinent, vor allem äquatoriale Gegenden, in denen es ein Übermaß an Sonnenlicht gibt und man daher den Schatten und die Dunkelheit sucht. Der Auswanderer strahlt ein Fernweh nach exotischen Ländern und Gegenden aus, das während des Lockdowns natürlich unbefriedigt geblieben ist. Dieser Mann sieht allerdings nicht aus wie ein Tourist, der sich eben mal ein Hawaiihemd angezogen hat, sondern er hat diese fremde Farbigkeit komplett adaptiert.
Welche Farben sind das konkret?
Zentral sind dunkle Brauntöne, Bordeaux, Dunkelgrün mit Highlights aus einem satten Orange oder einem Fliesen-Türkis. Insgesamt eine eher warme Farbigkeit, auch Aubergine-Töne sind dazwischen. Der Auswanderer trägt eine entspannte Klassik: Chinos, mal ein ungefüttertes Sakko, ein Polohemd. Das Ganze hat im Gegensatz zu Förster und Gärtner, die ja sportlich sind, eine klassische Eleganz, die man z. B. in der Kollektion von Paul Smith sieht und die durch die neue Farbigkeit einen Twist bekommt.
Wie sieht es mit Mustern aus, den Klassikern wie z. B. Tweed? Finden wir die am Auswanderer?
Nein, die trägt eher der Förster. Es ist sehr auffällig, dass es beim Auswanderer Muster zwar in Form von Drucken gibt, die bei einem Hemd oder einem Schal eingesetzt werden, aber neu ist, dass Anzüge, Sakkos und Anzughosen eine Stückfärber-Optik haben, was für diese Produkte eher untypisch ist. Es ist zentral für das Thema, dass diese Stoffe richtig uni sind. Die großen Teile haben eine tiefe, satte Farbigkeit, die nicht durch Melangen aufgelockert wird. Lediglich bei den kleineren Teilen wie Hemden, T-Shirts oder Jersey gibt es Tie-Dye-Effekte oder Ethno-Drucke und Stickereien.
Wer ist der fünfte und letzte Männertyp?
Wir haben ihm den Namen VISIONÄR gegeben. Er ist jung, hat ein starkes Avantgarde-Bewusstsein und ist sehr vorwärtsgewandt – sowohl, was seinen modischen Anspruch als auch seinen Fortschrittsglauben anbelangt. In Bezug auf die Farbigkeit ist der Look geprägt von kräftiger Buntheit und hat sowohl eine große Affinität zum Künstlichen wie auch zum Künstlerischen. Das Thema wendet sich damit ab vom Diktat der Authentizität, das in der Männermode in den letzten 20 Jahren sehr präsent war. Der Look darf also ruhig designt aussehen, auch im Umgang mit Mustern, die in gewagten Kombinationen aufeinander clashen. Der Visionär holt sozusagen das Digitale in die reale Welt: Die Looks haben die Leuchtkraft eines Computermonitors, auch, was die Farbigkeit angeht. Die Bilderflut, die uns aus dem Netz entgegenschlägt, wird in Kleidung übersetzt.
Ich muss bei Ihren Beschreibungen an die Cosplayer-Szene denken …
Das ist genau die richtige Assoziation. Bei der Verbindung aus „künstlich und künstlerisch“ meine ich nämlich auch Pop Art, Werbe- oder Comicästhetik. Das darf ruhig etwas Futuristisches haben, spielt mit großer Typographie, sehr bunte Science-Fiction-Sneaker, spannungsreiche Silhouetten, bei denen körpernahe Schnitte auf Oversize treffen. Das Ganze ist extrem plakativ und instagramable und hat einen hohen Anspruch an Neuheit.
Ist das ein Look, den auch Männer über 40 tragen können?
Es ist ein Look, der eher von der Generation Z adaptiert wird, die in digitalen Bildern denkt und auch schon ein Gefühl dafür hat, wie ein Foto ihres Outfits als Thumbnail auf dem Handydisplay aussieht: dass es da immer noch knallen muss! Was ich spannend finde und was mich als Modemenschen freut, ist, dass hier dem Design sehr viel Raum gegeben wird.
Ich habe die Assoziation mit belgischen Designern aus den 1990er Jahren wie z. B. Walter Van Beirendonck, der ja auch ultraplakativ war.
Ja, genau! Und dann kamen, und das haben wir gerade hinter uns, Jahrzehnte, in denen Design unsichtbar war. Die junge Generation von Männern findet allerdings ein Plissee-Top von Issey Miyake wieder richtig super! Hier berühren sie sich: Die Freude am Design und an der Künstlichkeit, die wir eher mit den späten 80ern und frühen 90ern assoziieren.
Ich freue mich sehr darauf, den Visionär auf der Straße zu sehen! Vivienne Westwood hat ja mal gesagt: „When in doubt, overdress!“ Ist das so eine Art Mantra für die postpandemischen Looks?
Absolut! Denn auch über den Themen, die sehr entspannt rüberkommen, liegt eine dünne Schicht Eleganz, etwas Liebevolles. Alles wirkt sehr durchdacht und gekonnt, auch die lässigen Looks. Was mir sehr viel Freude bereitet: dass wir in der Mode auf eine neue Hochkultur zusteuern. Das sieht man auch jetzt schon im Straßenbild.
Liegt es daran, dass die Leute endlich wieder mehr rausgehen können?
Klar! Wenn man sonntags durch die Straßen geht, sind Leute unterwegs, bei denen ich mir denke: Wow! Da hat sich doch jemand bestimmt fünfmal umgezogen! Dabei gibt es offenbar nicht einmal einen besonderen Anlass. Er geht einfach nur spazieren und hatte Zeit und Lust, sich Gedanken zu seinem Look zu machen.
Das heißt also, wir können uns auf das nächste Jahr mit tollen, innovativen und durchdachten Looks freuen! Vor allem der Homeoffice-Worker ist ja komplett neu …
Hier darf man allerdings nicht die Sprengkraft unterschätzen, die das Ganze für die HAKA-Industrie hat. In dieser Sparte gibt es eine extreme technische Spezialisierung. Dementsprechend wurden Maschinen angeschafft, die vollautomatisch die hintere Ärmelnaht des Sakkos nähen und Pressen, die das Vorderteil in Form bringen usw. Da wurde über Jahrzehnte eine Kompetenz aufgebaut, die plötzlich kaum noch gefragt ist. Diese Sparte muss jetzt auf eine völlig neue Situation reagieren, in der der Business-Dresscode komplett aufgebrochen wird. Das wird für viele Unternehmen alles auf den Kopf stellen.
Da stehen uns definitiv noch einige Entwicklungen bevor. Wir sind gespannt, was kommen wird. Vielen Dank für das inspirierende Gespräch!
Carl Tillessen ist studierter Betriebswirt und Kunsthistoriker. 1997 gründete er das Berliner Modelabel FIRMA. Als Kreativdirektor und Geschäftsführer entwickelte er nicht nur 17 Jahre lang die Kollektion, die weltweit vertrieben wurde und zahlreiche Preise gewann, sondern auch sechs eigene Läden, einen Onlineshop und eine Kosmetiklinie. Heute ist Tillessen Teilhaber und Chefanalyst beim Deutschen Mode-Institut und berät renommierte Firmen aus der Branche.
Ende letzten Jahres kam sein erstes Buch „Konsum. Warum wir kaufen, was wir nicht brauchen“ heraus, in dem er sehr detailliert und schlau über die Auswüchse der Globalisierung und die psychologischen Mechanismen reflektiert, die uns immer wieder zum Kaufen animieren. Ein Versuch, das Bewusstsein für unsere eigentlichen Bedürfnisse und vor allem für die Menschen in den Produktionsländern zu schärfen, damit diese nicht länger den Preis für unseren Hyperkonsum zahlen müssen.