Autorin: Cordelia Albert Je länger Lockdown und Geschäftsschließungen andauern, umso größer ist auch in der Bekleidungsbranche die Verzweiflung, denn eine Kollektion nach der anderen bleibt liegen. Die Preise fallen immer mehr und mit drastischen Mitteln wird versucht, die Massen an Ware irgendwie loszuwerden. Was macht das mit dem Verbraucher? Ein Verfall nicht nur der Preise, sondern auch der Wertigkeit der Mode, der im schlimmsten Fall irreparabel ist.
Der Preis ist nicht heiß, sondern schon lange verdorben. Immer günstiger werdende Angebote und dazu noch massive Reduzierungen stehen bei Bekleidung seit Jahren auf der Tagesordnung. Das hat Folgen im Bewusstsein der Verbraucher. Längst haben sie sich daran gewöhnt, dass alles reduziert wird und dass man darauf immer weniger lange warten muss. Kaum waren die neuen Kollektionen am Markt, gab es bald die ersten Rabattaktionen. Dem folgten schnell große und farbenfrohe Sale-Schilder, die sich in die Augen brannten. Warme Winter, verregnete Sommer, Überangebot – die Ware blieb liegen, die Preise gingen runter. Der Kunde weiß, dass darauf Verlass ist.
Dazu kam dann noch das Internet, in dem in Sekundenschnelle der Preis eines Modells verglichen oder noch irgendein Rabattgutschein runtergeladen werden kann. Psychologisch hat das längst das Verhalten verändert: Wer kauft heute noch Kleidung zu ihrem eigentlichen Preis, wenn jeder weiß, dass man nur ein bisschen warten oder im Netz suchen muss? Offen zugeben würde das natürlich keiner, doch es ist Realität, genauso wie die extrem niedrigen Preise, die Discounter und Billig-Ketten für ihre Kleidung verlangen und die ein T-Shirt für 3,99 Euro normal erscheinen lassen.
Preis-Killer Corona
Zu all dem kommt jetzt noch die Corona-Krise mit hohen Einkaufshürden oder komplett geschlossenen Läden. Das verschärft die Entwicklung. So kostete laut Statistischem Bundesamt Bekleidung 2020 im Vergleich zum Vorjahr im Schnitt 2,75 % weniger.
Alexander Birken, Firmenchef der Hamburger otto group, wurde in einem Artikel der „Welt“ zitiert: „Textilien und Bekleidung wird man in nächster Zeit wohl ganz besonders günstig kaufen können … Wir erwarten massive Überbestände … Die Konsumenten können in den nächsten Monaten mit großen Rabatten rechnen.“ Man gehe davon aus, dass sich das Tempo des Preisverfalls weiter beschleunigen werde. Ein deutliches Signal an die Endverbraucher. Doch das war erst der Anfang, denn der Artikel stammt vom 27. Mai 2020. Ein Jahr später sieht die Lage noch dramatischer aus. Eine Kollektion nach der anderen ist der Pandemie zum Opfer gefallen, riesige Mengen an Kleidungsstücken blieben liegen und verstopfen den Warenfluss. Im Januar 2021 meldete der BTE Handelsverband Textil, dass sich durch die Absatzschwierigkeiten im Corona-Jahr in den Lagern etwa eine halbe Milliarde unverkaufter Modeartikel türmen. Ein massives Warenproblem, dem mit „normalen“ Reduzierungen längst nicht mehr beizukommen ist. Eine „Lösung“ ist die massenhafte Vernichtung. Die wurde bislang offiziell zwar nie zugegeben, aber aufgrund der Menge und des größer werdenden Nachhaltigkeitsbewusstseins erfährt der Kunde immer öfter aus den Medien davon und sieht die Bilder: Tonnen neuer Ware auf dem Müllhaufen. Ist unbenutzte Kleidung Abfall?
Wundertüten als Wertekiller
Nicht besser für die psychologische Wahrnehmung des Kunden ist die aktuelle Verkaufsidee der „Fashion-Wundertüte“. Ähnlich dem Überraschungsmoment aus Kindertagen, kauft man hier eine „Tüte“ voll Kleidung und manchmal auch Accessoires, bei der man nicht weiß, was drin ist. Alle machen mit, von der großen Modekette C&A über kleine Fachhändler vor Ort bis hin zu Fashion-Labels, die die Wundertüten über ihre eigenen Internetportale vertreiben. Einfach Betrag, Größe und eventuell modische Vorlieben auswählen, der Händler beziehungsweise Hersteller packt zusammen – und endlich ist Ware weg.
Zwar wird das Lager leerer, doch der psychologische Schaden ist enorm, denn es handelt sich in der Regel um Mode der aktuellen Saison, die zu Spottpreisen verkauft wird. So stellte beispielsweise ein Fachhändler aus dem Sauerland seinen Kunden für 200 Euro neue Ware im Wert von über 440 Euro zusammen und C&A warb damit, dass man sieben Teile für 15 Euro erhält. Nicht nur das Interesse der Kunden ist riesig, auch die Medien lieben das Thema. Modeexpertin Tanja Comba packte bei RTL all ihre erstandenen Überraschungstüten aus und war überglücklich, für wie wenig Geld sie die viele neue Mode bekommen hatte. Bei Street One beispielsweise wurde ihr für 75 Euro Ware im Wert von 250 Euro zugesichert und die Moderatorin zog dann allein ein Strickkleid aus dem Paket, das mehr als 200 Euro kostete. Das sind Geschichten, die auf Social Media laufen: Das Netz ist voll von Videos, in denen Tüten ausgepackt werden. So zeigt eine Modebloggerin auf YouTube dem verblüfften Zuschauer, dass sie für ihre 15 Euro bei C&A zwei Strickpullover, einen Rollkragenpullover, eine Hose, einen Schal, einen Doppelpack Handschuhe und eine Strumpfhose erhielt. Rechnet man nach, sind das pro Artikel 2,14 Euro. Eine Fahrt mit Bus oder Straßenbahn kostet im Schnitt 3 Euro. Der Verbraucher nimmt es zur Kenntnis. Kann unsere Kleidung so wenig wert sein?