Die Karten werden noch einmal völlig neu gemischt

Mittelstand

©engelhorn

Autor: Markus Oess
An die Bilder der gespenstischen Ruhe in den Innenstädten während des Lockdowns haben wir und längst gewöhnt. Nun kehrt das Leben in die Einkaufsstraßen zurück, kommen Öffnungen in greifbare Nähe. Aber, sagt Klaus Harnack, geschäftsführender Gesellschafter beim Beratungsunternehmen h+p hachmeister+partner, die Innenstadt werde sich ändern. Macher-Typen werden diejenigen sein, die am schnellsten aus der Krise herauskommen, mit neuen kreativen Sortiments-, Marketing- und Servicekonzepten auf allen relevanten Kanälen“, so der Berater. Harnack über Mittelstand und Mittelmaß.

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„Auf jeden Fall hat COVID-19 der Nachhaltigkeit zu einer alles überstrahlenden Kraft verholfen.“ Klaus Harnack ©h+p hachmeister+partner

FT: Herr Harnack, die Branche wettert gegen den Lebensmittelhandel und natürlich gegen die Online-Konkurrenz, die auch während des gesamten Lockdowns Bekleidung verkaufen durften. Wie groß ist der Wettbewerbsnachteil wirklich?
Klaus Harnack: „Der Wettbewerbsnachteil ist wirklich enorm. Egal ob Online- oder Lebensmittelhandel, gerade bei Mitnahmeprodukten und Spotthemen wie Casuals oder Kinderkleidung fehlt dem Modehandel natürlich die Frequenz, greifen die Verbraucher zu den von ihnen angesprochenen Alternativen. Dabei ist dem Lebensmittelhandel aber kein Vorwurf zu machen, die Unternehmen nutzen nur ihre Chancen.“

Wie viel ist dann systembedingt und wie viel politisch verursacht?
„Das ist schon politisch verursacht. Durch die Bundesnotbremse wurde gerade dem innerstädtischen stationären Handel jeglicher Spielraum genommen, auch wenn es die Exekutive in der Pandemie wahrlich nicht einfach hat, die richtigen Entscheidungen zu treffen.“

„Auf Branchenebene hat es viele Entwicklungen gegeben, die auf das Omnichannel-Modell einzahlen und die die Akzeptanz der Digitalisierung deutlich erhöht haben. Die Menschen wollen sich wieder treffen, zusammen sein. Aber Dinge wie die Online-Reservierung eines Restauranttisches oder die Nutzung anderer Apps werden bleiben.“

Wird es zu dem befürchteten Händlersterben im Mainstream kommen? Sie hatten ja im letzten Interview gewarnt, dass hier die Luft immer dünner wird, der Preis immer mehr an Bedeutung gewinnt …
„Eine Pleitewelle im Handel ist durchaus zu befürchten, auch wenn wir nicht wissen, wie viele Firmen sich aus dem Markt verabschieden werden. Zum einen sind die Strukturprobleme von vor COVID-19 ja immer noch da, zum anderen hat sich durch den Lockdown die Gesamtsituation dramatisch verschärft. Dinge wie Click & Meet mögen vielleicht bei kleineren Boutiquen etwas Entlastung bringen, aber das wichtige Frequenzgeschäft ist komplett weggebrochen. Ich rechne aber damit, dass die Aussetzung der Insolvenzmeldepflicht bis nach den Wahlen aufrechterhalten wird. Schlechte Nachrichten sind keine Wahlhelfer.“

Allgemein gilt COVID-19 als Booster, als Beschleuniger bestehender Trends. Hat die Pandemie dennoch auch neue Entwicklungen hervorgebracht?
„Auf jeden Fall hat COVID-19 der Nachhaltigkeit zu einer alles überstrahlenden Kraft verholfen. Die Menschen hinterfragen vieles und wir erleben eine neue Wertediskussion. Wir sehen ein neues Bewusstsein und die Menschen konzentrieren sich auf das, was ihnen am wichtigsten ist: ihre Kinder und deren Zukunft. Wir sehen das in der Aufmerksamkeit für Friday for Future, auch wenn sie durch die Pandemie etwas abgenommen hat, wir sehen das an der politischen Agenda aller demokratischen Parteien und wir sehen das am aktuell großen Erfolg der Grünen. Auf Branchenebene hat es viele Entwicklungen gegeben, die auf das Omnichannel-Modell einzahlen und die die Akzeptanz der Digitalisierung deutlich erhöht haben. Die Menschen wollen sich wieder treffen, zusammen sein. Aber Dinge wie die Online-Reservierung eines Restauranttisches oder die Nutzung anderer Apps werden bleiben.“

In der Pandemie sehnen sich die Menschen wieder nach Vertrautem, nach Sicherheit. Hat das den Discountern eher geschadet oder spielt es keine Rolle, weil sie eh schon Teil der bekannten Welt sind, wie wir sie kennen, also Fashion und Food, und welche Rolle spielt der Preis bei der ganzen Geschichte?
„Man muss auf die Einkommensentwicklung in der Pandemie schauen. Es gibt sicher viele Menschen, die auch in der Pandemie Wohlstandsgewinne eingefahren, viel Geld verdient haben. Aber die Schar derer, deren sowieso schon prekäre Situation sich weiter verschlechtert hat, ist groß und die Menschen werden noch mehr auf die Angebote der Discounter angewiesen sein, vor allem, wenn sie Value for Money bieten. Das ist leider nicht wegzudiskutieren.“

Online, das zeigt die Entwicklung von PRIMARK, die eben ohne digitalen Arm auskommen müssen, ist in dem ganzen Spiel ein zentraler Faktor. Wie können aber gerade stationäre Mittelständler davon profitieren, wenn viele keinen eigenen Shop haben und wenn, auf Plattformen zurückgreifen und damit im Grunde die Plattform stärken, dafür aber immerhin Umsatz generieren?
„Es wird nicht reichen, den Wettbewerb einfach zu kopieren. Das Einzige, das hilft, ist die Definition und Umsetzung eines klaren, konsequenten Gegenentwurfs zum Geschäftsmodell der großen Marktplätze und Online Pure Player. Es geht um echte Store Experience, die Zusammenstellung überraschender, faszinierender Sortimente zu einem Fashion-Lifestyle-Angebot. Und es geht um eine gelebte Willkommenskultur, die Kunden das Gefühl gibt, wirklich mit Freude im Laden begrüßt zu werden. Gleichzeitig ist klar, dass Händler, die digital nicht stattfinden, keine Überlebenschance haben. Aber auch hier helfen intelligente Konzepte mehr als die bloße Kopie. Und wir werden auch horizontale Allianzen und Plattformen sehen, dass sich also Händler im Netz zusammentun und eine echte Alternative zu amazon und zalando aufbauen. Wir müssen dazu nur nach Asien schauen, was sich dort tut. Im Gegensatz zu vielen anderen bin ich nicht der Meinung, dass der Zug schon abgefahren ist. Damit meine ich nicht nur so schlagkräftige Unternehmen wie engelhorn, breuninger oder HIRMER, sondern auch kleinere innovative Mittelständler.“

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Wird bald jeder stationäre Händler auch digital verkaufen müssen oder gibt es auch Alternativen?
„Es wird nach meiner Einschätzung kaum ein Handelsunternehmen in der Zukunft geben, das nicht digital stattfindet in Form von digitalen Schaufenstern, Social-Media-Auftritten, Omnichannel Services et cetera. Ob dann daraus ein signifikanter E-Commerce-Umsatz entsteht, ist ein zweites Thema. Wer heute noch keinen eigenen E-Shop mit relevanter Reichweite am Markt etabliert hat, wird es schwer haben, diesen noch erfolgreich zu launchen und zu platzieren. Der Weg über die Marktplätze bleibt jedem Unternehmen auch kurzfristig offen, allerdings mit fragwürdiger wirtschaftlicher Ergebnisperspektive.“

„Ich sehe durchaus ein Revival der Innenstadt, wenn es gelingt, interessante Konzepte in die jetzt entstehenden Leerflächen zu bringen. Man muss hierzu völlig neu außerhalb der klassischen filialisierten Retail-Konzepte denken. Dazu gehören neue Gastronomie-Konzepte, Co-Working Spaces, neue Services wie Fahrradstationen, neue Formen von Wohnen in der Stadt, Showrooms von interessanten Marken et cetera.“

Manche stationären Händler lehnen einen Online-Shop immer noch ab, setzen aber die sozialen Medien für Werbung und Verkauf (Click & Collect) ein, so zum Beispiel bubeundkönig in Nürnberg, die aus Prinzip stationär bleiben wollen. Was raten Sie?
„Das ist ein konsequenter Weg für Unternehmen, die eine wirklich hochprofessionelle und unique stationäre Präsenz und Relevanz in ihrem lokalen Markt haben. Wichtig ist dabei, dass diese Unternehmer wie zuvor ausgeführt alle für sie relevanten digitalen Kanäle und Services nutzen, die am Ende des Tages auf das stationäre Business einzahlen. Dieser Ansatz ist durchaus nachhaltig und wirtschaftlich erfolgreich, ohne ein signifikantes E-Commerce Business betreiben zu müssen.“

Mit dem Voranschreiten der Impfkampagne wird eine dauerhafte Öffnung immer wahrscheinlicher. Wie sollen die Mittelständler jetzt agieren: laut sein und preisaggressiv werben, serviceorientierte Ansprache oder die individuelle Kunden-Händler-Karte ausspielen?
„Es ist klug und positiv, mit offenen Armen auf die Kunden zuzugehen. Wir haben im Herbst erlebt, wie groß die Sehnsucht der Menschen nach Normalität und Freiheit inzwischen geworden ist. Händler sollten ihren Kunden in dieser Situation das Gefühl geben, willkommen zu sein und die Situation genießen zu können, ohne gleich zu denken, übervorteilt zu werden. Aber natürlich lassen sich aggressive Preiskämpfe nicht vermeiden. Auch hier gilt es, intelligent zu agieren im Sinne der Dachmarke und nicht zu reagieren. Man kann auch kreativ mit Preisnachlässen arbeiten, ohne gleich die eigene Händlermarke zu demontieren.“

Glauben Sie an die Renaissance der Innenstadt, so wie es auch nach dem ersten Lockdown war, oder kehren wir Deutschen schnell wieder in den alten Trott zurück? Das Virus löst ja die Strukturprobleme nicht.
„Ich sehe durchaus ein Revival der Innenstadt, wenn es gelingt, interessante Konzepte in die jetzt entstehenden Leerflächen zu bringen. Man muss hierzu völlig neu außerhalb der klassischen filialisierten Retail-Konzepte denken. Dazu gehören neue Gastronomie-Konzepte, Co-Working Spaces, neue Services wie Fahrradstationen, neue Formen von Wohnen in der Stadt, Showrooms von interessanten Marken et cetera. Die Innenstadt der Zukunft wird im besten Sinne definitiv anders aussehen als die heutigen rein von Retail geprägten Stadtbilder. Ich hoffe dabei in der Tat auf eine Renaissance einer vitalen Innenstadt als Gesamtkunstwerk aus Handel, Kultur, Gastronomie und neuen Dienstleistungen.“

Wir stehen kurz vor dem Saisonwechsel. Was ist jetzt wichtiger: Liquidität und Durchhaltevermögen oder ein kalkuliertes Risiko mit neuer Ware?
„Die Beantwortung dieser Frage hängt im entscheidenden Maße von der wirtschaftlichen Stärke jedes einzelnen Handels- und Industrieunternehmens ab. Je stärker ich bin, umso mehr bin ich in der Lage, kalkulierte Risiken mit neuer Ware einzugehen. Liquidität ist in der aktuellen Situation mit Sicherheit wichtiger als Rentabilität. Das Motto ,Cash is King‘ gilt mehr denn je. Am Ende des Tages werden nach meiner Einschätzung die Unternehmen die Gewinner sein, die jetzt mit Augenmaß ins Risiko gehen und dem Endverbraucher ein kompetentes aktuelles Angebot präsentieren können und damit ein neues Lebensgefühl vermitteln.“

Brauchen wir einen neuen Händlertyp, einen „Macher“, der auch zu Experimenten und Risiken bereit ist, oder sind die Karten längst verteilt?
„Die Karten werden nach Corona noch einmal völlig neu gemischt und auch verteilt. Will heißen, dass durch die jetzt anstehenden Marktveränderungen auch neue Chancen entstehen für kreative Neukonzepte, für Experimente und für damit verbundene kalkulierte Risiken. Wir erleben diesen Händlertyp bereits jetzt in der Krise, der Teststationen in seinem eigenen Laden oder in seinem eigenen Parkhaus errichtet in Kooperation mit lokalen Ärzten oder Apothekern. Wir erleben diesen Händlertyp, der sich aktuell über Außengastronomie Gedanken macht, um wieder Frequenz in die Städte zu bringen. Wir erleben diesen Händlertyp, der als Fels in der Brandung seinen Mitarbeitern Hoffnung macht und Perspektiven vermittelt und sie damit dem Unternehmen erhält. Es ließen sich noch viele andere Beispiele aufführen, die Zeugnis sind für einen Spirit und für eine urunternehmerische Kraft und Grundhaltung, die auch durch die Krise trägt. Diese ,Macher‘-Typen werden diejenigen sein, die am schnellsten aus der Krise herauskommen, mit neuen kreativen Sortiments-, Marketing- und Servicekonzepten auf allen relevanten Kanälen.“

Der Gesprächspartner

Klaus Harnack blickt auf 30 Jahre Strategieberatung im Lifestyle-Sektor zurück. Der geschäftsführende Gesellschafter des Beratungsunternehmens hachmeister+partner hat diverse Mandate als Beirat für Industrie und Handel und arbeitet als Trusted Advisor für zahlreiche CEOs und Unternehmer. Seine Projektschwerpunkte liegen bei Strategieberatung, Vertikalisierung, Basismandaten, Retail Excellence, Category Management sowie Merchandise Planning & Controlling.