Autorin: Katja Vaders Über 80 Millionen Menschen waren im Jahr 2020 auf der Flucht. Wer nach Großbritannien will, landet meist in Calais. FT sprach mit den Flüchtlingshelfenden Clare Moseley und Benne Schmitz über die verheerenden Zustände in der nordfranzösischen Hafenstadt. Ein Spendenaufruf.
FT: Clare, wie bist du zur Flüchtlingsarbeit gekommen?
Clare: „Das war eher zufällig. Früher habe ich als Buchhalterin gearbeitet und hatte keine Ambitionen, mich für irgendetwas zu engagieren. Im Jahr 2015 las ich einen Artikel über Geflüchtete, die im Mittelmeer ertrunken sind, und war entsetzt. Ich wusste damals nicht viel über die politischen Hintergründe, also fing ich an zu recherchieren. Dabei stieß ich auf eine sehr kleine Gruppe aus Großbritannien, die in Calais in der Flüchtlingshilfe aktiv war. Kurzerhand fuhr ich dorthin, um mir selbst ein Bild zu machen.“
Was hast du dort vorgefunden?
Clare: „Als ich in Calais ankam, war ich geschockt: 6.000 Geflüchtete, die auf zweieinhalb Quadratmetern zusammengepfercht waren, ohne Zelte, Decken oder sonstigen Schutz. Die Leute fragten mich nach Essen und ein Mann hielt mir sein Baby hin und sagte: ,Bitte, nimm meine Tochter, damit sie hier rauskommt!‘ Der blanke Horror! Ich bin an einem Sonntag von Calais nach Hause gefahren, schon am Mittwoch darauf habe ich meinem Mann gesagt, dass ich wieder zurückmuss. Noch am selben Abend bin ich wieder nach Calais und habe angefangen, dort zu arbeiten.
Anfangs dachte ich, es wäre nur für kurze Zeit, bis die Regierung oder jemand Offizielles kommt, um die Situation zu regeln. Aber niemand kam und ich blieb. Eine der schlimmsten Erinnerungen aus dieser Zeit ist der Beginn des zweiten Winters – der erste war schon furchtbar gewesen: Kälte, Regen und der ganze Matsch. Ich konnte einfach nicht begreifen, dass die Menschen dort noch so einen Winter durchstehen mussten.“
Du bist dann im Endeffekt zweieinhalb Jahre in Calais geblieben …
Clare: „Ja. Damals waren Leute aus aller Herren Länder im Camp, jeden Tag kamen irgendwelche Autos mit Hilfsgütern an. Das absolute Chaos! Viele Sachen landeten daher auf dem Müll oder kamen nicht bei den richtigen Leuten an. Als ich circa eine Woche in Calais war, kam ein Mann ins Camp. Er war Rentner, aber früher Lagerleiter für eine Supermarktkette gewesen. Er sagte: ,Ihr braucht ein Lager für die Hilfsgüter!‘ Ich schrieb also verschiedene Hilfsorganisationen an und wartete zwei Wochen auf Antwort. Als die nicht kam, nahmen der Mann und ich das selbst in die Hand. Jeder von uns hatte 5.000 Pfund und damit besorgten wir uns ein Lager. Jetzt hatten wir einen Ort, an den die Leute die Hilfsgüter bringen und wir die Weitergabe organisieren konnten. Irgendwie kam auch immer wieder neues Geld zusammen, damit das Lager weiterlaufen konnte. Und ich blieb und blieb und blieb …“
Aber irgendwann bist du dann doch wieder nach Hause nach Großbritannien gefahren.
Clare: „Nach zweieinhalb Jahren war ich total erschöpft, körperlich und auch emotional. Inzwischen gab es ein richtiges Team vor Ort, also fand ich jemanden, der das Lager übernahm. Heute bin ich vor allem in der Organisation tätig und fahre nur noch einmal im Monat nach Calais, um zu sehen, ob dort alles gut läuft.“
Benne, wie hat es bei dir mit der Flüchtlingsarbeit angefangen?
Benne: „Wir erinnern uns alle noch an das Jahr 2015, als es in den Medien kein anderes Thema mehr gab als die Geflüchteten in Ungarn, die versuchten, nach Deutschland zu gelangen. Es herrschte unheimliches Chaos und man sah viele Bilder von alten Frauen in Rollstühlen, Kindern und schwangeren Frauen. Ich dachte mir: Wir müssen einen Minibus organisieren, nach Ungarn fahren und die Schwächsten da rausholen und nach Deutschland oder Österreich bringen. Wenn sie dich dabei geschnappt hätten, wärst du allerdings im Gefängnis gelandet. Daher verwarf ich die Idee und konzentrierte mich mit meiner Frau und Freunden darauf, Hilfsgüter zu organisieren und in ein Lager in Kroatien zu bringen.
Kurz nachdem ich von dort zurückkam, sah ich die ersten Bilder aus Calais in den Medien. Ich dachte mir: Okay, das ist gleich um die Ecke. Also fuhr ich dorthin und arbeitete mit einer französischen Organisation, wir bauten damals Hütten im ,Dschungel‘ auf, so nannte man das Camp. Zu dieser Zeit habe ich dann auch Clare kennengelernt.“
In den letzten Jahren warst du sehr engagiert auf der sogenannten Balkanroute, jetzt hast du aber wieder vermehrt Calais im Fokus. Warum?
Benne: „Durch meinen deutsch-britischen Hintergrund war ich schon immer an der politischen Lage in Großbritannien interessiert. Als der Brexit kam, wusste ich sofort, dass er ganz massive Auswirkungen auf die Situation in Calais haben würde. Ich lebe in Düsseldorf und mit dem Auto sind es nur vier Stunden bis dahin. Wenn uns zum Beispiel Bekleidung in größeren Mengen von einem Textilunternehmen gespendet wird, ist es für uns erheblich leichter, sie nach Calais zu bringen, als nach Griechenland zu fahren, was viel mehr Zeit und Geld kostet. Außerdem ist die Situation in Calais ähnlich schlimm wie die in den Camps in Südosteuropa.
Wir haben also einerseits das Elend vor der eigenen Haustüre und andererseits ist es wirtschaftlicher, die Ware nach Calais zu bringen und das Spendenbudget effizient einzusetzen.“
Besonders verheerend an der Lage in Calais ist, dass sich weder die französische noch die britische Regierung für die Geflüchteten verantwortlich fühlt: Sie leben in Zelten am Straßenrand, die alle 48 Stunden von der Polizei geräumt werden. Wie kann das mitten in Europa passieren?
Clare: „In Calais versucht man mit allen Mitteln, die Flüchtlinge loszuwerden. Die Polizei denkt, dass sie sie nur schlecht genug behandeln muss, damit sie verschwinden. Aber das funktioniert natürlich nicht. Flüchtlinge haben keine Wahl! Trotzdem hören die Polizisten nicht mit ihren Schikanen auf, das geht schon seit Jahren so, einfach grauenhaft. Sie nehmen den Menschen die Möglichkeit, irgendwo im Trockenen und Warmen zu schlafen, und es ist inzwischen sogar illegal, ihnen Essen zu geben. Das ist Folter!“
Benne: „Einer der Gründe, warum mir schlecht wird, wenn über die europäischen Werte gesprochen wird. Hier geht es um Menschen, die vor Folter, Bürgerkriegen oder vor Hunger fliehen. Was sind das für Werte, wenn ich ihnen einen sicheren Platz zum Schlafen oder Essen verweigere? Jeder, der ein Gewissen hat, muss sich hier einmischen!“
Haben die Geflüchteten in Großbritannien große Chancen auf Anerkennung ihres Asylverfahrens?
Clare: „Nein, aber sie haben keine andere Möglichkeit. Viele von ihnen waren vorher in Deutschland, aber mussten weg, weil sie kein Asyl bekommen haben. Dorthin können sie jetzt nicht mehr zurück. Das ist das Problem aller Geflüchteten: Sie können nirgendwohin zurück.“
Wir haben eben schon kurz über den Brexit gesprochen. Was hat sich seitdem konkret in der britischen Flüchtlingspolitik verändert?
Clare: „Die Regierung in Großbritannien rückt immer weiter nach rechts und streicht zunehmend Sozialleistungen. Dadurch lassen sich die Flüchtlinge aber nicht abschrecken und versuchen trotzdem, den Kanal zu überqueren. Die Briten wollen das mit allen Mitteln verhindern und geben astronomische Summen für den Grenzschutz aus. Das ist einfach nur lächerlich! Die Menschen versuchen die Überfahrt mit kleinen Schlauchbooten und die Briten schalten das Militär ein, um sie abzufangen.“
Wie viele Flüchtlinge leben derzeit in Calais?
Clare: „Um die 1.000. In den letzten zwei Monaten haben es ungefähr 200 Menschen nach Großbritannien geschafft, mehr als zur gleichen Zeit im letzten Jahr. Etwa genauso viele sind neu in Calais angekommen, daher bleibt die Zahl der Geflüchteten dort relativ stabil.“
Was geschieht mit denen, die die Überfahrt nicht schaffen?
Clare: „Viele bleiben in Calais und versuchen es wieder, andere haben die Nase voll von dem harten Leben und gehen nach Paris oder in eine andere französische Stadt. Aber keiner von ihnen hat jemals gesagt: ,Ich kann nicht mehr, ich gehe zurück nach Hause.‘“
Gibt es auch Menschen, die im Kanal ertrinken?
Clare: „Im letzten Jahr waren es fünf oder sechs.“
Benne: „Das sind die, von denen wir wissen. Wir haben ja keine genauen Angaben, wie viele Menschen die Überfahrt versuchen und wie viele Leichen eventuell gar nicht gefunden wurden.“
Warum kommen die Geflüchteten trotzdem nach Calais und lassen sich nicht gleich irgendwo anders in Frankreich registrieren?
Clare: „Wer gezielt nach Calais kommt, will nach Großbritannien. Darunter sind Kriegsflüchtlinge, die einen Großteil ihrer Familie in ihren Heimatländern verloren, allerdings noch ein paar Verwandte oder Freunde in Großbritannien haben. Wieder andere kommen aus ehemaligen Kolonialländern des Commonwealth. Sie kennen die Sprache und die Kultur aus dem Fernsehen und wollen daher dort leben …“
Aber das, was sie in Calais vorfinden, hat so gar nichts mit einem zivilisierten Europa zu tun …
Clare: „Ja, das stimmt. In einem sehr heißen Sommer wurde in allen Parks und an öffentlichen Plätzen das Wasser abgedreht, damit die Geflüchteten nichts zu trinken haben. Damals haben wir den ganzen Tag über Wasser für sie abgefüllt und es ihnen gebracht – es war furchtbar.“
Momentan wütet das Coronavirus in Europa. Wie wirkt sich das auf die Situation in Calais aus?
Benne: „Clare, du hast mir erzählt, dass ihr seit Wochen keine Lieferungen von Hilfsgütern mehr aus Großbritannien bekommen habt …“
Clare: „Ja, das stimmt, seit dem 1. Januar ist nichts mehr angekommen – das liegt aber vor allem am Brexit. Dazu kommt, dass wegen Corona viele Gruppen aufgehört haben, aktiv in Calais zu arbeiten und auch keine Volunteers mehr schicken. Die Situation an den Grenzen ist momentan ein Alptraum.“
Gibt es unter den Geflüchteten viele Infizierte?
Clare: „Beim ersten Lockdown waren wir sehr besorgt, dass das Virus unter den Flüchtlingen ausbrechen könnte. Die Menschen leben auf sehr engem Raum und die Hygienebedingungen sind sehr schlecht – sie können sich nicht einmal die Hände waschen. Aber inzwischen können wir glücklicherweise sagen, dass sich die Sorgen nicht bestätigt haben, vermutlich, weil die Geflüchteten die ganze Zeit draußen sind. Trotzdem versorgen wir sie mit Masken und Handdesinfektionsmittel und versuchen, ihnen Social Distancing zu erklären.“
Wie wirken sich die ausbleibenden Hilfslieferungen aus Großbritannien auf die Versorgungslage im Camp aus?
Benne: „Es fehlt einfach an allem. Wenn man auf der Flucht ist, braucht man warme und regenfeste, bequeme Kleidung, ein Zelt, einen Schlafsack, eine Isomatte, Schuhe … Es geht um die Basics. Ich weiß natürlich, dass gerade wegen Corona alle eine schwere Zeit durchmachen, was mir für alle Beteiligten sehr leidtut. Trotzdem kann ich nicht anders, als dieses Interview für einen Spendenaufruf zu nutzen.
Ich habe gelesen, dass viele Händler ihre durch den Lockdown nicht verkauften Waren vernichten. Es wäre toll, wenn sie sich überlegen würden, sie stattdessen zu spenden, vor allem wetterfeste Winterkleidung. Wir arbeiten unter anderem mit einem Lager in der Nähe von Köln zusammen, das diese Spenden für uns entgegennimmt und lagert, mit anderen sind wir bereits im Gespräch. Sollten sich also Händler oder Textilunternehmen bereit erklären, uns Kleidung zu spenden, könnten wir sie in diesem Lager abholen und nach Calais bringen. Vielleicht liest das jetzt jemand, der uns kontaktieren und mit uns zusammenarbeiten möchte. Wir stellen selbstverständlich für alle gespendeten Waren eine Spendenquittung aus!“
Bisher waren Sachspenden von Unternehmen umsatzsteuerpflichtig. Bundesfinanzminister Olaf Scholz plant jedoch gerade, pandemiebedingt für einen begrenzten Zeitraum auf die Umsatzsteuer bei gespendeten Waren zu verzichten, damit diese nicht vernichtet werden müssen …
Benne: „Das ist richtig. Und wir hoffen sehr, dass sich das Gesetz bald ändert und dass es nicht nur für den Einzelhandel, sondern auch für Ketten und Textilhersteller gelten wird. Das würde uns das Spendensammeln erleichtern. Allerdings können wir nicht darauf warten, da sich die Flüchtenden bereits jetzt in einer furchtbaren Lage befinden.
Daher nochmals gerne mein Aufruf an alle: Wenn Sie unverkaufte Ware haben und diese nicht vernichtet sehen wollen, dann melden Sie sich bitte bei uns, dann besprechen wir alles Weitere.“
Ich hoffe, dass sich viele bei euch melden werden! Sind denn auch Geldspenden erwünscht?
Benne: „Die sind natürlich auch willkommen. Wir brauchen immer Geld, um die Transportkosten nach Calais zu finanzieren.“
Vielen Dank für das Gespräch und euer Engagement, Clare und Benne!
Clare Moseley arbeitet für Care4Calais. Die Hilfsorganisation wurde von einer Gruppe Freiwilliger gegründet, um den Menschen im Flüchtlingslager in Calais frisches Essen, warme Bekleidung und medizinische Versorgung zur Verfügung zu stellen.Benne Schmitz engagiert sich seit 2015 in der Flüchtlingsarbeit. Er sammelt Spenden, organisiert Projekte und war schon in Camps in Kroatien, Serbien und Calais tätig. Die Hilfe für Calais wird in Kooperation mit Flüchtlinge willkommen in Düsseldorf e. V. durchgeführt.
Sie möchten für die Geflüchteten in Calais spenden und brauchen mehr Informationen? Bitte kontaktieren Sie Benne Schmitz unter: ben-schmitz@gmx.de
Geldspenden unter:
Flüchtlinge willkommen in Düsseldorf e. V.
IBAN: DE 48 3005 0110 1007 7908 41
Bitte im Verwendungszweck „Calais“ angeben. Wenn Sie eine Spendenquittung (ab 200 Euro) benötigen, bitte Mailadresse oder Name/Anschrift im Verwendungszweck mit angeben.
Weitere Infos: www.care4calais.org
Besonders dringend benötigt werden folgende Dinge: