Autor: Markus Oess Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser ist Optimist. Der Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung, kurz BIBB, ist davon überzeugt, dass wir gut aus der Krise kommen und die Wirtschaft sich schnell von der COVID-19-Pandemie erholen wird. Wie überall wirkt das Virus wie ein Brandbeschleuniger bestehender Probleme, wie der Fachkräftemangel, aber auch Trends wie die Digitalisierung. Die Ausbildungswerte zeigen nicht erst seit Ende Januar 2020 nach unten, als in Bayern erste Infektionen auftaten. Professor Esser sieht in der Digitalisierung und dem mobilen Arbeiten Chancen, denn COVID-19 verändert die Umstände, wie wir arbeiten, und darauf müssen wir vorbereitet sein – auch in der Ausbildung.
FT: Herr Professor Esser, früher, also vor der Pandemie, war alles besser. Was sagen Sie?
Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser: „Aus der Perspektive der beruflichen Bildung kann ich das wahrlich nicht bestätigen. Drei Aspekte muss ich nennen. Zum einen trägt die demografische Entwicklung schon seit Längerem zum Fachkräftemangel bei. Es scheiden mehr Fachkräfte aus dem Berufsleben aus als nachkommen. Zweitens sorgt der Bildungsstand dafür, dass zusehends weniger Ausbildungsstellen nachgefragt werden. Das beginnt schon bei der Wahl der Schule. Gymnasien erleben einen Zulauf, während Haupt- und Realschulen für viele Eltern keine Alternative darstellen, und das setzt sich entsprechend bei der Wahl des Berufes und wachsenden Studierendenzahlen fort. Schließlich sorgt, drittens, die fortschreitende Digitalisierung und Automatisierung für einen Strukturwandel, der Antworten verlangt. Klassische Arbeits- und damit auch Ausbildungsplätze werden weniger. Wir hatten schon Anfang 2020, auch ohne Pandemie, fest damit gerechnet, dass wir am Jahresende weniger Ausbildungsverträge als 2019 haben würden.“
Erlebt Deutschland einen Digitalisierungsschub oder sind wir alle nur in der Kurzarbeit?
„Die Corona-Pandemie sorgt eindeutig für einen Digitalisierungsschub. Das erleben wir auch hier bei uns im BIBB. Im Übrigen gilt das auch für den Digitalpakt, bei dem manche Kritiker vor der Pandemie die langsame Umsetzung und die Tatsache, dass immer noch nicht das Geld komplett abgerufen wurde, monierten. Dies führt aber auch zu veränderten Anforderungen an die Lehrenden und die Lernenden gerade in den Berufsschulen. Die Lehrer müssen lernen, wie sie Präsenz- und Distanzunterricht sinnvoll miteinander kombinieren. Es geht darum, beim Einsatz der Neuen Medien Kompetenz im Lehrbetrieb aufzubauen. Gleichzeitig verändert sich der Arbeitsalltag in den Betrieben. Darauf müssen die Ausbildenden vorbereitet werden. Allerdings muss man sehen, dass in den Schulen, den Bildungszentren und Hochschulen ebenso wie in den Betrieben selbst der Status der Digitalisierung doch sehr unterschiedlich sein kann. Wir werden sicher noch Zeit brauchen, um alle auf einen guten Stand zu bringen.“
„Deutschland ist die viertstärkste Volkswirtschaft auf der Welt und das hat Gründe.“
Warum tut sich die Republik so schwer mit dem Homeoffice?
„Mir gefällt der Begriff des mobilen Arbeitens besser als Homeoffice. Im Grunde benötigen Sie in vielen Branchen zunächst ein Handy und einen Laptop. Dann können Sie von überall aus loslegen, es geht ja auch darum, wie unser Arbeitsalltag sich ändert. Der Arbeitsort ist nur ein Teil davon. Aber zu Ihrer Frage: Nicht alle Berufe und Betriebe eignen sich fürs mobile Arbeiten. Die Arbeitsinhalte schließen das für viele Berufe aus. Nehmen Sie nur die Mitarbeiter in einem produzierenden Handwerksbetrieb. Das heißt, die Geschäftsprozesse müssen geeignet sein. Um mobiles Arbeiten zu ermöglichen, benötigen Sie überdies die richtige Infrastruktur und Hardware. Die Arbeitsabläufe müssen abgestimmt sein. Das kostet auch Geld. Wir hier im BIBB hatten das Glück, uns bereits 2018/2019 mit dem Thema ,E-Government‘ intensiv auseinandergesetzt und auf diesen Wandel vorbereitet zu haben, auch weil wir die richtige Managementkultur dafür haben. Wenn ich ein Team digital auf Distanz führe, nutze ich zwangsläufig andere Kommunikationswege und brauche veränderte Kommunikationsgewohnheiten. Auch hier müssen dafür Kompetenzen aufgebaut werden.“
Nehmen wir unseren Nachwuchs ernst genug und fördern wir ihn fair?
„Neben Österreich und der Schweiz haben wir mit dem dualen Ausbildungssystem einen Erfolgsgaranten unserer wirtschaftlichen Leistungskraft etabliert. Deutschland ist die viertstärkste Volkswirtschaft auf der Welt und das hat Gründe. Wir sollten unser Licht nicht unter den Scheffel stellen. International erfährt unser System sogar viel Aufmerksamkeit und das zu Recht. Wir haben mit die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit weltweit. Das ist für mich die größte Wertschätzung gegenüber unserem Nachwuchs, die ich mir vorstellen kann. Die meisten Ausbildungen gehen über drei bis dreieinhalb Jahre. So können wir den wachsenden Ansprüchen der Berufsausbildung gerecht werden. Zum einen wird die Arbeitswelt, und damit die fachlichen Inhalte, immer komplexer. Darauf reagieren wir. Wir bieten eine Ausbildung, die betriebsunabhängig ist. Was in Bayern gelehrt wird, hat auch in Hamburg Gültigkeit und umgekehrt. Und wir kümmern uns auch um die Entwicklung der Persönlichkeit, also Soft Skills wie Teamgeist, Kommunikation und die Fähigkeit, Konflikte auszutragen und aufzulösen. Dazu haben wir für die Nachwuchskräfte eine Vielzahl von Förderprogrammen aufgelegt von der Berufsausbildungsbeihilfe bis zum Meister-BAföG und Erasmus+, um junge Menschen bei ihrer Karriere zu begleiten. Ich denke, all das ist Ausdruck eines fairen Umgangs mit unserem Nachwuchs.“
Hat ein Jahr Corona auch dauerhaft die Ausbildung verändert?
„Nein. Das Virus verändert nicht die Berufe. Aber es verändert die Umstände, wie wir arbeiten. Wenn wir stärker mobil arbeiten, müssen wir auch wissen, wie wir uns organisieren in den Betrieben und in den jeweiligen Berufen. Ich bin mir sicher, dass sich die Wirtschaft nach der Pandemie, beziehungsweise wenn wir das Virus kontrollieren können, wieder schnell erholt. Es gibt ja viele Branchen, die gar nicht von der aktuellen Krise betroffen sind, wie zum Beispiel der Lebensmittelhandel. Andere Branchen wie Friseure werden schnell wieder auf die Beine kommen. Bestimmte Bereiche, wie beispielsweise die Gastronomie oder die Veranstaltungsbranche, die von der Pandemie besonders betroffen sind, werden es voraussichtlich etwas schwerer haben, in den Normalmodus zurückzukehren. Hier ist gegebenenfalls weitere Unterstützung vonnöten. Was wir aber sehen werden, ist die Neuorganisation der Berufswelt durch das mobile Arbeiten gerade in der Aus- und Weiterbildung. So gesehen glaube ich, dass vieles zurückkehrt, manches aber anders, abwechslungsreicher und agiler wird.“
„Wir benötigen das mediale Rüstzeug und eine nachhaltige Strategie, um Lehrende und Lernende mit der nötigen digitalen Kompetenz auszustatten. Und wir brauchen ein besseres Verständnis unserer digitalisierten Arbeitswelt, um die immer komplexer werdenden Prozesse abbilden zu können.“
Wenn wir ins Ausland blicken, sind wir bei den Impfungen im Augenblick allenfalls Mittelmaß, wie sieht es denn mit der Aus- und Weiterbildung aus?
„Zu den Impfungen will ich mich in meinem Amt natürlich nicht äußern, aber was die Aus- und Weiterbildung angeht, stehen wir, wie eingangs gesagt, im internationalen Vergleich sehr gut da. Das duale Ausbildungssystem ist einer der Grundpfeiler der Leistungs- und Innovationskraft unserer Volkswirtschaft. Es ist gut, dass wir gemeinsam mit Sozialpartnern, Bund und Ländern in einer ,Private Public Partnership‘ operieren und ein Rad ins andere greift. Vor allem aber ist das Kommunikationsnetz zwischen Wirtschaft, Regierung und Ausbildungsbetrieben nicht nur engmaschig, es funktioniert auch in beide Richtungen. Wenn in den Betrieben etwas drückt, kommt das in Berlin auch an. Dennoch besteht auch Handlungsbedarf, wenn wir für die Zukunft gerüstet sein wollen.“
Wo sehen Sie besonders Handlungsbedarf?
„Wir müssen die Infrastruktur schaffen, um die Digitalisierung zu einem Erfolgsmodell zu gestalten. Das heißt schnelles Internet und digitale Zugänge in den Betrieben und für unterwegs. Wir benötigen das mediale Rüstzeug und eine nachhaltige Strategie, um Lehrende und Lernende mit der nötigen digitalen Kompetenz auszustatten. Und wir brauchen ein besseres Verständnis unserer digitalisierten Arbeitswelt, um die immer komplexer werdenden Prozesse abbilden zu können. Der Schraubenschlüssel wird nicht gänzlich verschwinden, aber vieles wird sich im Kopf abspielen, weniger mit den Händen. Nehmen Sie nur den Sanitär- und Heizungsinstallateur. Heute heißt er Anlagenmechaniker und muss ganz andere Fragen lösen, zum Beispiel in den Bereichen Gebäudeenergietechnik und Umweltschutz. Gleichwohl muss er immer noch in der Lage sein, einen Heizkörper zu wechseln.“
Werden wir in fünf Jahren dann immer noch die gleichen Probleme besprechen oder wird sich tatsächlich vieles zum Besseren wenden?
„Herausforderungen wird es immer geben. Ich bin Optimist. Wir werden unser freies Leben wieder zurückbekommen. Aber auch wenn die Wirtschaft schnell wieder auf die Beine kommt, werden große Anstrengungen notwendig sein: sei es beim Fachkräftemangel, beim Transformationsprozess unserer Arbeitswelt oder beim Einzug der künstlichen Intelligenz in unser Leben. Wir werden immer wieder vor neuen Herausforderungen stehen. In fünf genauso wie in zehn oder zwanzig Jahren.“
Der Ausbildungsexperte
Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser, Jahrgang 1959, hat nach einer Ausbildung im Bäckerhandwerk in Grevenbroich sein Abitur über den „zweiten Bildungsweg“ am Friedrich-Spee-Kolleg in Neuss gemacht. Er studierte von 1983 bis 1989 zunächst Wirtschaftswissenschaften an der Technischen Universität Braunschweig und dann Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftspädagogik an der Universität zu Köln. Seinen beruflichen Werdegang startete Professor Esser 1989 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialpädagogik an der Universität zu Köln. Zwei Jahre später wechselte der verheiratete zweifache Familienvater zum Forschungsinstitut für Berufsbildung im Handwerk an der Universität zu Köln (FBH), wo er 13 Jahre lang in unterschiedlichen Funktionen tätig war, ab 2003 als stellvertretender Direktor. Im November 2004 übernahm Professor Esser die Leitung der Abteilung „Berufliche Bildung“ beim Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) in Berlin, wo er bis zur Übernahme des Amtes als BIBB-Präsident tätig war.
Über das BIBB
Das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) ist das anerkannte Kompetenzzentrum zur Erforschung und Weiterentwicklung der beruflichen Aus- und Weiterbildung in Deutschland. Das BIBB identifiziert Zukunftsaufgaben der Berufsbildung, fördert Innovationen in der nationalen wie internationalen Berufsbildung und entwickelt neue, praxisorientierte Lösungsvorschläge für die berufliche Aus- und Weiterbildung. Das Institut wurde 1970 auf der Basis des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) gegründet und seither als Einrichtung des Bundes für die Politik, die Wissenschaft und die Praxis beruflicher Bildung tätig. Das BIBB wird als bundesunmittelbare, rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts aus Haushaltsmitteln des Bundes finanziert und untersteht der Rechtsaufsicht des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Es hat seit 1999 seinen Sitz in Bonn.