Autor: Markus Oess „Die Corona-Pandemie hat die existierenden Machtasymmetrien in globalen Lieferketten offengelegt“, sagt der Makro-Ökonom Prof. Dr. Hansjörg Herr. Für ihn ist ein gutes Lieferkettengesetz ein Muss, gerade für eine führende Exportnation wie Deutschland. Denn nicht immer sei das, was aus Sicht eines Unternehmens wünschenswert sei, auch volkswirtschaftlich sinnvoll. Und die Erfahrung lehre, dass Selbstverpflichtungen kein probates Mittel sind, „schwarze Schafe“ in der Wirtschaft aufzuhalten. Der Volkswirt fordert aktiv ein Lieferkettengesetz. Warum, erklärt er im FT-Interview. Herr über Marktversagen, Überschüsse und Verteilungsgerechtigkeit. Warum Deutschland jetzt handeln muss.
FT: Herr Professor Herr, der Markt führt zum optimalen Ergebnis auch hinsichtlich der Verteilungsgerechtigkeit der Wertschöpfung. Was steckt eigentlich hinter diesem Denkansatz wirtschaftsliberaler Herangehensweise?
Prof. Dr. Hansjörg Herr: „Dies ist eine komplexe Frage. In der traditionellen Ökonomie wird davon ausgegangen, dass jeder Arbeitnehmer und auch as Kapital entsprechend seiner Produktivität, oder genauer Grenzproduktivität, entlohnt wird. Sorgt man für flexible Märkte, so wird argumentiert, dann ergibt sich die Vollauslastung aller Kapazitäten und Vollbeschäftigung und eine Entlohnung der Produktionsfaktoren eben nach ihrer Produktivität. Dann gibt es Positionen, die argumentieren, dass ein unregulierter Markt langfristig zur Vollauslastung aller Produktionsfaktoren führt, dies jedoch möglicherweise zu lange dauert. Dies rechtfertigt das Eingreifen des Staates.
Diese Vorstellungen übersehen eine ganze Reihe von Punkten. Erstens führt der Markt nicht zur Vollbeschäftigung. Existiert jedoch Arbeitslosigkeit, dann sinken die Löhne der am wenigsten qualifizierten Arbeitskräfte auf ein unakzeptabel niedriges Niveau, ohne dass sich dadurch Vollbeschäftigung ergibt. Ohne staatliche Eingriffe wie Mindestlöhne fallen in Entwicklungsländern Löhne von wenig qualifizierten Arbeitskräften auf ein Niveau, das kein menschenwürdiges Leben erlaubt. Auch in Deutschland hat die Abnahme der Tarifabdeckung zur Explosion eines Niedriglohnsektors und der Notwendigkeit der Einführung von Mindestlöhnen im Jahre 2015 geführt. Die Internationale Arbeitsorganisation in Genf hat ausgerechnet, dass über 60 Prozent der Beschäftigten der Welt im informellen Sektor arbeiten, also kaum geschützt sind. Dies führt zu unakzeptablen Löhnen und Arbeitsbedingungen.
Auch sollte bedacht werden, dass es eine langfristige Tendenz zur Vermachtung von Märkten gibt. Also, immer mehr Märkte werden durch Oligopole dominiert, die sich einen Teil der Wertschöpfung ungerechtfertigt aufgrund ihrer Marktmacht aneignen und nicht aufgrund ihrer Leistung. Schließlich sollte bedacht werden, dass die zu beobachtende Konzentration von Einkommen und Vermögen wie ein Schneeballsystem wirkt. Wer viel hat, der spart viel, erhöht sein Vermögen schnell und bekommt dadurch noch mehr Einkommen, das gespart wird.
Ich möchte hier noch betonen, dass geradezu alle Ökonomen ein Marktversagen im Bereich der Ökologie und der Arbeitsbedingungen, etwa bei Kinderarbeit, betonen – auch wenn die vorgeschlagenen Strategien zur Lösung der Probleme unterschiedlich sind.“
Warum kann das aus mikroökonomischer Sicht oder für Unternehmen gelten, aber für die Gesamtheit nicht?
„Es gibt viele Beispiele für den Tatbestand, dass die mikroökonomische Logik zu makroökonomisch fatalen Ergebnissen führt. Ein Beispiel: Macht ein Unternehmen in einer Krise keine Gewinne, dann versucht es, Kosten zu sparen. Wenn in diesem Zusammenhang die Löhne gesenkt werden, dann ist es aus Sicht eines Unternehmens sinnvoll. Senken jedoch alle Unternehmen die Löhne, dann sinkt das Preisniveau, die Nachfrage bricht ein und die reale Schuldenlast steigt. Unternehmen kommen dann in eine noch schwierigere Lage. In solchen Fällen muss die Wirtschaftspolitik eingreifen und einer gesamtwirtschaftlichen Logik folgen. In dem gewählten Beispiel würde eine Mindestlohnpolitik, welche das Sinken von Löhnen verhindert, eine sinnvolle Politik sein.“
„Für Länder wie Bangladesch ist die Integration in globale Wertschöpfungsketten etwa in der Bekleidungsindustrie ein zweischneidiges Schwert.“
Sichern wir mit der Unterstützung der deutschen Exportwirtschaft tatsächlich inländische Arbeitsplätze?
„Die Antwort ist: Ja, aber. Exportüberschüsse sind ein Teil der aggregierten Nachfrage, neben privaten Investitionen, privatem Konsum und staatlicher Nachfrage. Ein Anstieg der Exportüberschüsse erhöht somit bei ansonsten unveränderten Bedingungen Produktion und Beschäftigung im Inland. Nun zum ‚Aber‘. Wenn die Exportüberschüsse durch eine Politik angeregt werden, welche im Inland die Nachfrage drosselt, dann müssen Exportüberschüsse nicht zu steigender Beschäftigung führen. Wenn etwa zur Exportförderung ein Niedriglohnsektor geschaffen wird, der die Einkommensverteilung ungleicher macht und die Konsumnachfrage dämpft, oder wenn der Staat aus internationalen Wettbewerbsgründen Unternehmen ungenügend besteuert und aus diesem Grunde seine Investitionen oder Ausgaben senkt, dann muss die Konzentration auf Exporte nicht beschäftigungsfördernd sein.“
Deutschlands Handelsbilanzüberschuss sorgt in der Welt für Probleme. Warum ist das so?
„Gut, dass Sie diese Frage stellen. Ein Handelsbilanzüberschuss in Deutschland führt zwingend zu Handelsbilanzdefiziten in anderen Ländern. Höhere Handelsbilanzdefizite führen in den betroffenen Ländern, wieder unter ansonsten gleichbleibenden Bedingungen, zu geringerer Nachfrage und sinkender Produktion und Beschäftigung. Das zusätzliche Problem ist, dass Länder mit Defiziten leicht in Finanzkrisen mit restriktiver Wirtschaftspolitik und Einbruch der Produktion geraten, wenn sie die Defizite nicht mehr finanzieren können. Im Interesse einer stabilen Weltwirtschaft und auch der Europäischen Währungsunion sollte Deutschland seine Exportüberschüsse abbauen.
Ein elegantes Mittel zum Abbau der deutschen Überschüsse ist die Anregung der deutschen Importe. Deutschland kann die inländische Ökonomie durch fiskalische und Umverteilungsmaßnahmen anregen und damit die Überschüsse abbauen. Denkbar wäre etwa ein langfristig angelegtes mit Europa abgestimmtes Investitionsprogramm zum Umbau der Wirtschaft in Richtung ökologischer Nachhaltigkeit, gekoppelt mit deutlich steigenden Mindestlöhnen und genereller Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen.“
Deutschland ist eine der führenden Exportnationen. Bringen wir auch wirtschaftlichen Wohlstand, etwa wenn wir in Ländern wie Bangladesch Bekleidung produzieren lassen?
„Für Länder wie Bangladesch ist die Integration in globale Wertschöpfungsketten etwa in der Bekleidungsindustrie ein zweischneidiges Schwert. Zunächst steigt durch eine steigende Textilproduktion in Bangladesch die Beschäftigung dort. Das ist positiv. Aber zur Anregung eines Aufholprozesses in Bangladesch mit dem Ziel eines ähnlichen Lebensstandards wie etwa in Europa ist das nicht genug. Zu beachten ist, dass die Integration in die Bekleidungsbranche für Bangladesch auch Risiken mit sich bringt. Die Produktion in Bangladesch konzentriert sich auf die einfachen, arbeitsintensiven Produktionsstufen mit geringer Wertschöpfung. Höhere Stufen der Wertschöpfung wie Design, Marketing, Aufbau von Markennamen, Entwicklung neuer Stoffe und so weiter werden nicht nach Bangladesch verlagert. Die führenden Modeunternehmen, etwa in Deutschland, haben kein Interesse, ihre Kernkompetenzen nach Bangladesch zu verlagern.“
Warum wehren sich viele Firmen gerade aus der Textilbranche gegen das Lieferkettengesetz?
„Der einfache Grund ist, dass sie befürchten, dass dadurch ihre Profite sinken, da ein Lieferkettengesetz gewisse Kosten mit sich bringt.“
Zu Recht?
„Teilweise. Ein ordentliches Lieferkettengesetz, das nicht nur kosmetische Veränderungen impliziert, würde bestimmte Kostenbelastungen mit sich bringen. Es müssten beispielsweise bei Zulieferern bessere Löhne bezahlt werden, Umweltstandards müssten beachtet werden oder Sicherheitsstandards. Dies würde die Preise für Vorprodukte erhöhen. Auf der anderen Seite würden Unternehmen in Deutschland auch Vorteile haben. Sie müssten stabile Beziehungen zu Zulieferern aufbauen. Dies würde die Risiken von globalen Wertschöpfungsketten für die beteiligten Unternehmen reduzieren. Die Produktivität in Zulieferbetrieben würde verbessert, insbesondere wenn Unternehmen in Deutschland die Qualifikationen und Technologien bei Zulieferern verbessern helfen. Auch sollte bedacht werden, dass menschenwürdige und ökologische Produktion ein Kaufargument für Konsumenten ist.“
„Deutschland sollte nach einem deutschen Lieferkettengesetz auch ein solches auf europäischer Ebene anstreben.“
Was würde das Gesetz bringen?
„Ein Lieferkettengesetz würde eine Reihe von positiven Veränderungen bringen.
Erstens würde die Transparenz entlang der Lieferketten für die Allgemeinheit und selbst die beteiligten Unternehmen erhöht. Eine mehr auf Vertrauen basierende Interaktion von Unternehmen innerhalb einer Lieferkette würde gestärkt.
Zweitens würde ein Lieferkettengesetz Mindeststandards bei der Entlohnung und den Arbeitsbedingungen bei den Zulieferern fördern. Beispielsweise müsste darauf geachtet werden, dass zumindest die in den Zulieferländern geltenden Standards erfüllt werden, die oftmals aufgrund institutioneller Schwächen in den Ländern nicht kontrolliert werden.
Drittens würde ein Lieferkettengesetz ökologische Mindeststandards garantieren. Solche ökologischen Standards wie auch menschenwürdige Arbeitsverhältnisse würden in den Zulieferländern auch eine Signalfunktion für andern Branchen haben.
Es versteht sich von selbst, dass ein Lieferkettengesetz mit ausreichenden Sanktionsmechanismen ausgestattet sein sollte. Die Erfahrungen mit Corporate Social Responsibility, also der freiwilligen Verpflichtung von Unternehmen, haben dies gezeigt. Eine Reihe von Unternehmen hat freiwillig Arbeitsstandards und ökologische Standards bei Zulieferern verbessert, aber viele Unternehmen nicht. Die schwarzen Schafe haben sich durch ihr Vorgehen Wettbewerbsvorteile verschafft und den Druck auf andere Unternehmen erhöht.“
Die Solidarität der Weltgemeinschaft wird gerne bemüht, um globale Ziele zu definieren, aber dann scheitert es an der Umsetzung. Warum sollte ausgerechnet Deutschland nach vorn gehen und die eigene Wettbewerbsfähigkeit aufs Spiel setzen? Andere Nationen sehen schließlich auch die eigene Volkswirtschaft zuerst.
„Deutschland hat wie kaum ein anderes Land die Möglichkeit, bei einem guten Lieferkettengesetz voranzugehen. Zudem gibt es schon Lieferkettengesetze in anderen Ländern, etwa Frankreich. Deutschland hat die ökonomische Kraft, die internationale Wettbewerbsfähigkeit und die hohen Handelsbilanzüberschüsse, um sich ein Lieferkettengesetz zu leisten. Zudem sind die steigenden Kosten eines solchen Gesetzes moderat und verhältnismäßig.
Die deutsche Bundesregierung spricht immer davon, die Probleme von Armutsmigration an den Wurzeln zu fassen. Das Lieferkettengesetz kann dazu einen kleinen Beitrag leisten. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, dass der Entwicklungshilfeminister Gerd Müller von der CSU ein solches Gesetz unterstützt.
Ein gutes deutsches Lieferkettengesetz kann ein Vorbild für Europa sein. Deutschland sollte nach einem deutschen Lieferkettengesetz auch ein solches auf europäischer Ebene anstreben. Wettbewerbsnachteile könnten durch Importzölle auf Waren von Ländern, die kein ausreichendes Lieferkettengesetz haben, ausgeglichen werden. Die Diskussion über solche Importzölle wird sowieso an Fahrt gewinnen, wenn es in Europa eine ansteigende CO2-Steuer gibt.“
Die Corona-Pandemie hat die Lage verschärft. Hat die Weltgemeinschaft versagt, wenn selbst Institutionen wie die UNO oder die WHO zum Spielball nationaler Interessen werden?
„Die Corona-Pandemie hat die existierenden Machtasymmetrien in globalen Lieferketten offengelegt. Insbesondere in der Bekleidungsbranche haben teilweise führende Unternehmen bestellte Waren nicht angenommen oder weniger bezahlt. Lieferanten in Bangladesch, Kambodscha und anderen Ländern haben ihre Arbeitnehmer entlassen. Die Lasten der Corona-Pandemie werden schwerpunktmäßig auf Länder des globalen Südens verlagert, die in aller Regel gleichzeitig geringere fiskalische und geldpolitische Spielräume haben als etwa Deutschland oder Europa. Ein Lieferkettengesetz ist deshalb gerade jetzt wichtig.“
„Die Lasten der Corona-Pandemie werden schwerpunktmäßig auf Länder des globalen Südens verlagert.“
Was muss sich ändern?
„Mittel- und langfristig ist ein anderer Typus von Globalisierung notwendig, der die Interessen des globalen Südens mehr berücksichtigt, ökologischer ausgerichtet ist und die Verlierer der Globalisierung schützt. Ich habe vor einigen Jahren zusammen mit Sebastian Dullien und Christian Kellermann das Buch ,Decent Capitalism‘ beim Pluto-Verlag publiziert, das einen Beitrag zu diesem Thema liefert. Hier ist nicht die Zeit, Details auszuführen. Gerade ist zudem ein Schwerpunktheft der WSI-Mitteilungen mit dem Titel ,Ökonomisches und soziales Upgrading in globalen Wertschöpfungsketten‘ herausgekommen, das sich unter anderem auch mit dem Lieferkettengesetz beschäftigt.“
Wie sieht es mit den Verbrauchern aus, welche Rolle übernehmen die in diesem Spiel?
„Verbraucher spielen eine wichtige Rolle. Sie können durch ihr Kaufverhalten die Unternehmen, die menschenwürdige und ökologische Lieferbeziehungen einhalten, unterstützen.“
Solidarität endet aber meist beim eigenen Geldbeutel. Nach der Brandkatastrophe von Rana Plaza vor fünf Jahren war die Bestürzung groß, dem Discountboom hat das aber keinen Abbruch getan …
„Da haben Sie einen wichtigen Punkt getroffen. Freiwilligkeit reicht nicht aus, da solche Katastrophen wie Rana Plaza vergessen werden und Käufer in der konkreten Kaufsituation auch unbewusst auf den Preis sehen. Oft sind die Käufer gar nicht in der Lage zu erkennen, unter welchen menschenrechtlichen und ökologischen Bedingungen die Waren, die sie kaufen, produziert wurden. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn in ein Produkt Vorleistungen von verschiedenen Ländern eingehen.“
Was kann jeder Einzelne tun?
„Er kann sich als Konsument bewusst verhalten. Und er kann im politischen Prozess ein Lieferkettengesetz und Politiken unterstützen, die eine alternative Globalisierung diskutieren und anstreben.“
Der Gesprächspartner
Prof. Dr. Hansjörg Herr ist Professor für Supranationale Integration. Nach einer Gastprofessur an der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft Berlin 1993 lehrt er seit 1994 an der Fachhochschule für Wirtschaft Berlin. Zuvor arbeitete er lange Jahre am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und am Institut für Wirtschaftspolitik an der Freien Universität Berlin.Seine Forschungsschwerpunkte sind die Entwicklung des Weltwährungs- und Finanzsystems, Entwicklungsstrategien der Länder des Südens, ökonomische Probleme der europäischen Integration, makroökonomische Entwicklungsregime von Industrieländern und die Weiterentwicklung des keynesianischen Paradigmas. Herr studierte Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftspädagogik an der Universität Berlin, wo er auch 1986 promovierte und 1991 habilitierte.