Autor: Markus Oess
Reset! Die Corona-Pandemie bedeute für jeden Einzelnen, für die Staatengemeinschaft und nicht zuletzt für die Wirtschaft eine der größten Herausforderungen der vergangenen Jahrzehnte, urteilt die Organisation mit Sitz in Zürich. Wie viele andere Wirtschaftszweige auch stehe die Textilbranche vor einem großen Umbruch und globalen Herausforderungen. Und während hierzulande die meisten Arbeitnehmer durch Kurzarbeit, Soforthilfe oder soziale Absicherungen unterstützt werden, kämpfen in Asien viele Mitarbeiter der Textilindustrie um die Grundsicherung ihrer Lebensgrundlage.
„Unser bisheriges Wertesystem und die tradierten Denkmuster sind obsolet. Digitalisierung, Umweltschutz, Globalisierung – diese Schlüsselwörter im sozialen und politischen Diskurs der letzten Jahre gilt es gerade jetzt nicht aus den Augen zu verlieren“, sagt der Generalsekretär von OEKO-TEX®, Georg Dieners. Die Pandemie könne durchaus als Weckruf für grundlegendes Umdenken und notwendige Verhaltensänderungen begriffen werden. Dieners formuliert fünf Trends, die die Branche verändern werden. Wir haben ihn dazu befragt.
-
ESG – Environment, Social, Governance als Benchmark für verändertes Konsumverhalten und unternehmerischen Erfolg
Nachhaltiges Wirtschaften bedeutet für die Unternehmen nicht nur wirtschaftlich erfolgreich, sondern auch sozial und ökologisch verantwortlich zu agieren. Die Einbeziehung von ökologischen, sozialen sowie Governance-Kriterien (ESG-Kriterien) spielt deshalb auch im Konsumverhalten der Verbraucher eine wichtige Rolle. ESG – Environment, Social, Governance – wird sich in den nächsten Monaten und Jahren als Synonym für Nachhaltigkeit und Schlüssel für wirtschaftlichen Erfolg auch in der Textil- und Lederbranche entwickeln. Nachhaltigkeit umfasst neben Umweltthemen auch den Umgang eines Unternehmens mit seinen Mitarbeitern, das Thema Menschenrechte und die Grundsätze guter Unternehmensführung. Die Integration dieser Aspekte wird einen langfristig positiven Einfluss auf den wirtschaftlichen Erfolg haben.
FT: Herr Dieners, ESG als Maß des unternehmerischen Erfolges, Verantwortung als Leitlinie unternehmerischen Handelns. Klingt gut, aber hat der Konsument tatsächlich die Macht, die Textilbranche zu verändern, und wenn, will er das überhaupt?
Georg Dieners: „Die Konsumenten von heute nehmen Händler und Hersteller zunehmend in die Pflicht und verlangen Transparenz und Verlässlichkeit. Sie wollen für ihre Entscheidungen Verantwortung übernehmen und ethisch handeln. Kunden können sich heute online schnell und einfach informieren und so durch Kaufentscheidungen globale Wirtschaftsstrukturen und Prozesse beeinflussen. Produzenten und Händler sind daher mehr und mehr gefragt, ihre Produktions- und Vertriebsprozesse so transparent wie möglich zu gestalten, um die Konsumenten von sich zu überzeugen und diese langfristig an sich zu binden. Konsumenten können durch diese Forderungen daher eine gewisse Macht ausüben und Unternehmen dazu bringen, nachhaltig etwas zu verändern.“
Welche zeigen Ihrer Meinung nach den richtigen Weg in diese Zukunft?
„Es gibt bereits viele gute Beispiele, national wie international: Brands, Retailer und Hersteller, die die Informationspflicht gegenüber dem Kunden ernst nehmen und ihre Prozesse und die Lieferkette transparent darlegen.
Auf der anderen Seite gibt es aber noch viel zu tun. OEKO-TEX® entwickelt so zum Beispiel gemeinsam mit Partnern und externen Stakeholdern die Standards laufend weiter.“
Welche Rolle wird OEKO-TEX® im Zusammenspiel von Produktion, Handel und Konsumenten übernehmen können?
„Als Zertifizierer von Textilien und Lederartikeln fungieren wir als Vermittler und sorgen mit unseren standardisierten Lösungen dafür, dass unsere Kunden ihre Herstellungsprozesse optimieren können. Mit allen Produkten und Dienstleistungen des OEKO-TEX®-Portfolios können wir die Systeme, Prozesse und Produkte unserer Kunden stärken und letztendlich nachhaltigeres Wirtschaften fördern. So können wir als Zertifizierer sowohl Produzenten und Herstellern als auch Händlern und Konsumenten als Berater und Partner zur Seite stehen und dank unserer Labels und Zertifizierungen Vertrauen und Transparenz schenken.“
Was heißt das strategisch für OEKO-TEX®?
Die Krise hat die gesellschaftliche Entwicklung hin zu mehr Nachhaltigkeit extrem vorangetrieben. Sie kann gar als ein Weckruf für ein grundlegendes Umdenken gesehen werden. Wir als OEKO-TEX® Association sind bereits seit fast 30 Jahren in diesem Bereich zu Hause und möchten auch weiterhin das Know-how an Konsumenten und Unternehmen weitergeben, um unseren Planeten durch verantwortungsvolles Handeln zu schützen. Zertifizierungen sind hier eine wichtige Größe.
-
Grenzenlose Verantwortung – Die neue Globalisierung
Die COVID-19-Pandemie zeigt, wie anfällig die Globalisierung ist, auch weil Lieferketten zusammenbrechen und obwohl wir ihr einen erheblichen Anteil unseres Wohlstands verdanken. Diese Entwicklung lässt sich nicht einfach zurückdrehen. Wir brauchen eine neue, nachhaltige Globalisierung, auch um die Corona-Folgen zu bewältigen. Eine Rückholung der gesamten Produktion nach Europa hätte zunächst deutliche Kostensteigerungen zur Folge: Produkte würden also teurer. Eine weitere Folge wäre, dass Arbeit aus anderen Ländern abgezogen wird, was diese vor große wirtschaftliche und soziale Probleme stellen würde. Produktions- und Lieferketten müssen stattdessen stabil und fair gestaltet werden. Es ist unsere gemeinsame Herausforderung für die Zukunft, bestehende Konsum- und Produktionsmuster so zu verändern, dass für alle Menschen und auch für zukünftige Generationen Ressourcen erhalten bleiben und ein menschenwürdiges Leben möglich ist. Globalen Herausforderungen kann nur durch neue Formen globaler Kooperation begegnet werden.
FT: Herr Dieners, globale Kooperation statt Nationalismus und Konfrontation. Aber leider haben Populisten und national bis nationalistisch gesinnte Politiker gerade Hochkonjunktur und selbst Optimisten sehen erst mal keine schnelle Änderung. Woher nehmen Sie ihre Zuversicht, dass sich die Welt neu orientiert?
Georg Dieners: „Die Corona-Pandemie hat die Welt auf den Kopf gestellt. Sie hat Lieferketten zusammenbrechen lassen und gezeigt, wie anfällig die Globalisierung ist. Trotzdem verdanken wir ihr einen großen Teil unseres Wohlstandes. Um allerdings aus dieser Krise gestärkt herauszugehen, muss diese Globalisierung überdacht werden. Wir müssen Produktions- und Lieferketten fair und stabil gestalten und aktuelle Produktions- und Konsummuster so verändern, dass für alle Akteure in der Textil- und Bekleidungsindustrie ein menschenwürdiges Leben ermöglicht wird. Nur so können alle davon profitieren.“
Selbst Institutionen wie die UNO oder WHO, die nun nicht gerade im Ruf stehen, linke Ideologien zu fördern, geraten in den Strudel nationaler Interessen von USA, China, Russland, der Türkei, den arabischen Ländern und Europa. Was können angesichts der fundamentalen Verschiebung unseres Wertesystems private Firmen und die Konsumenten erreichen?
„An der Produktion und dem Vertrieb eines Kleidungsstückes sind viele Menschen in unterschiedlichsten Ländern beteiligt. Man erkennt hier also, dass Autarkie insbesondere in der Textil- und Bekleidungsbranche nur schwer umsetzbar ist. Würde die gesamte Produktion in ein Land zurückgeholt werden, hätte das nicht nur eine Kostensteigerung zur Folge, sondern auch wirtschaftliche und soziale Probleme für die Länder, aus denen die Produktion abgezogen wird. Daher ist für mich nur die globale Kooperation eine sinnvolle und langfristige Option, die Unternehmen und Konsumenten durch ihr Handeln einfordern sollten.“
Wie kann OEKO-TEX® hier unterstützen?
„Wir als Zertifizierer können sowohl Konsumenten als auch Unternehmen in ihrem Tun unterstützen. Wir müssen auf die Gesellschaft hören, die Nachhaltigkeit fordert, und der Textilindustrie hier die Weichen stellen, damit diese entsprechend handeln kann. Wir versuchen, stetig marktfähige Verbesserungen für unsere Standards zu entwickeln. Dadurch können wir nicht nur die Industrie fördern und fordern, sondern sie auch zukunftsorientiert agieren lassen – und das im Idealfall global.“
-
Transparenz als Basis für Kaufentscheidungen
Die Konsumenten nehmen Händler und Hersteller zunehmend in die Pflicht. Im digitalen Zeitalter kann sich jeder schnell und einfach informieren. Vertrauen, Integrität und Nachhaltigkeit gewinnen durch die Krise deutlich an Bedeutung. Klare und eindeutige Informationen sind der Schlüssel zum Herzen des Konsumenten. Nur wer es schafft, Produktions- und Vertriebsprozesse so transparent wie möglich zu machen, wird seine Marke positiver darstellen und die Kunden fester an sich binden. Umwelt- und Sozialsiegel als Vermittler von Orientierung und Sicherheit werden noch wichtiger.
FT: Herr Dieners, Siegel dienen der Orientierung und setzen Konsumentenvertrauen voraus. Der Grüne Knopf stand bei der Einführung in der Kritik. Unter anderem sei er Stückwerk und greife ohne die angekündigten Erweiterungen sowieso zu kurz. Andererseits gibt es ja schon eine Menge Siegel und Zertifikate, wie könnte hier für die Verbraucher mehr Klarheit geschaffen werden?
Georg Dieners: „OEKO-TEX® begrüßt grundsätzlich jede Initiative, die es sich zur Aufgabe macht, sich für eine nachhaltige und transparente Textilproduktion einzusetzen und damit Unternehmen und Konsumenten Orientierung zu bieten. Je mehr Aufmerksamkeit dieser Themenkomplex bekommt, desto besser ist dies für die zukünftige Entwicklung. Wir bieten unsere Lösungen bereits seit fast 30 Jahren an und sind somit ein Vorreiter auf diesem Gebiet. Besonders wichtig ist es, Glaubwürdigkeit und Vertrauen zu schaffen und transparent darlegen zu können, wie die einzelnen Schritte in der Herstellung aussehen – so können Verbraucher und Unternehmen von den Zertifikaten und Labels profitieren. Trotzdem ist die Bewertung für den Konsumenten schwierig, denn jedes Siegel hat seinen individuellen Fokus. Konsumenten kommen schlussendlich also nicht drum herum, sich grundlegend zu informieren.“
Könnte es auch zu einer engeren Zusammenarbeit durch die Zertifizierer selbst kommen?
„OEKO-TEX® arbeitet mit anderen Zertifizierern bereits eng in bestimmten Arbeitsgruppen zusammen. Schwierigkeiten in einer intensiveren Kooperation zwischen den Siegeln entstehen durch die Unvergleichbarkeit und die verschiedenen Schwerpunkte, die die einzelnen Siegel haben. Wir sehen aber auch einen wachsenden Bedarf eines Austausches und einer Abstimmung zu bestimmten Themen innerhalb dieser Gruppen.“
-
Digitalisierung als Teil des globalen Wertschöpfungsnetzwerks
Der Schlüssel zu mehr Transparenz ist die Digitalisierung. Sie wird in den nächsten Jahren für die Textilbranche Herausforderung und Chance zugleich sein und helfen, neue Potenziale zu erschließen. Durch Individualisierung und kluge Vernetzung vom Design über die Produktion und den Vertrieb bis hin zum PoS werden ganz neue Geschäftsmodelle hervorgebracht. Unverzichtbar sind gemeinsame Standards und Kriterien, denn nur sie ermöglichen die Zusammenarbeit vieler unterschiedlicher Partner in smarten globalen Wertschöpfungsnetzwerken und sind auch die Basis für die Transparenz, die Konsumenten einfordern. Dies setzt eine system- und unternehmensübergreifende Datennutzung voraus. Offene Kommunikationsstrukturen und crossfunktionale Arbeitsweisen sind gefragt. Stationärer Handel und Online-Shops arbeiten miteinander. Ein digitaler Textilkreislauf kann dazu beitragen, Ressourcen zu schonen und Textilien und weitere Werkstoffe schnell und gezielt in Recyclingsysteme zu überführen.
FT: Herr Dieners, Corona, sagten Sie beim letzten Interview mit FT, habe die Arbeit von OEKO-TEX® zumindest unmittelbar kaum verändert. Wie sieht es aber mit der Digitalisierung aus?
Georg Dieners: „Die Digitalisierung ist ein wichtiger Schlüssel für mehr Transparenz und daher essenziell in der Branche. Nicht nur Konsumenten können schnell und einfach Informationen beschaffen und in Prozesse eingreifen, auch die Branche wird die massiven Auswirkungen der Digitalisierung spüren und darauf reagieren müssen. Werden die Möglichkeiten der Digitalisierung sinnvoll genutzt, können daraus neue und innovative Geschäftsmodelle entstehen. Unverzichtbar sind dabei jedoch immer gemeinsame Standards und Kriterien, damit viele unterschiedliche Partner erfolgreich zusammenarbeiten können.“
Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die Branche?
„Die Herausforderungen sind sehr vielfältig, was auch an der Komplexität der textilen Lieferkette liegt. Die wohl größte Herausforderung der Branche ist, gut und schonend mit den verfügbaren Ressourcen umzugehen und zu haushalten. Damit dies gelingt, müssen einheitliche Bewertungsmaßstäbe geschaffen werden, um Industrie und Endverbrauchern die Chance zu geben, nachhaltige und richtige Entscheidungen treffen zu können.“
Sie sprechen von smarten globalen Wertschöpfungsnetzwerken, die offen die Wertschöpfungsketten abbilden. Wie weit sind wir davon entfernt?
„Smarte globale Wertschöpfungsnetzwerke bilden nicht nur die Basis für die Transparenz, die die Verbraucher einfordern, sondern werden zukünftig auch nötig sein, um global mit verschiedenen Partnern zusammenarbeiten zu können. Die Digitalisierung ist hier als Schlüssel für eine globale Umsetzung zu nennen. Ich bin überzeugt, dass die COVID-19-Pandemie hier viel bewegt hat und das Bewusstsein verstärkt, wie wichtig Investitionen in diesem Bereich sind.“
-
CO2 als neue Währung
Nicht nur Preis und Produktqualität werden relevant für Kaufentscheidungen sein. Kunden fordern zunehmend transparente Daten über die Klimabilanz von Firmen ein. Klimaschutz wird mehr denn je eine große Bedeutung zukommen. Die Umstellung auf nachhaltig produzierte Fasern und Rohmaterialien muss dringend beschleunigt werden. Ebenso muss es einheitliche Standards zur CO2-Bilanzierung für Waren und Dienstleistungen geben, um für mehr Transparenz zu sorgen. Nur so können der ökologische Fußabdruck einer konventionellen Faser- und Materialproduktion verringert und die CO2-Emissionen aus der Textilfaserherstellung bis 2030 um 35 bis 45 Prozent gesenkt werden. Die Reduktion des persönlichen CO2-Abdrucks der Konsumenten wird zukünftig eine große Rolle bei Kaufentscheidungen spielen.
FT: Herr Dieners, wie preisen Sie den CO2-Abdruck ein?
Georg Dieners: „Die Schuh- und Bekleidungsindustrie ist für 10 Prozent der Treibhausgas-Emissionen verantwortlich. Deshalb muss die Branche umdenken und ihren CO2-Abdruck unbedingt verringern. Um Einkäufern, aber auch Endkonsumenten noch mehr zu verdeutlichen, wie sie gute Kaufentscheidungen treffen können, soll im kommenden Jahr der CO2-Abdruck in unsere Zertifikate integriert werden. So können die Industrie wie auch die Verbraucher direkt erkennen, wie hoch die CO2-Emissionen eines bestimmten Produktes sind, und auf dieser Grundlage ihre weiteren Entscheidungen treffen.“
Corona ist eine globale Krise und globale Krisen bieten auch die Chance zur Veränderung. Trotzdem würden wir Ihre Vision auch ohne COVID-19 erreichen können?
„Die Corona-Pandemie hat die Entwicklung hin zu einem nachhaltigeren Denken und Handeln massiv beschleunigt und ein grundlegendes Umdenken hervorgebracht. Doch auch vor der Pandemie hat sich bereits angedeutet, dass nachhaltiges Wirtschaften heute unverzichtbar ist, um wettbewerbsfähig zu sein und vor allem dauerhaft zu bleiben. Die Pandemie hat hier jedoch noch einmal den Turbo eingelegt und eine eigentlich langwierige Entwicklung in kurzer Zeit vorangetrieben und Unternehmen und Konsumenten zu einer notwendigen Verhaltensänderung bewegt.“