Autor: Markus Oess Die nächste Krise kommt bestimmt, sagt Frank Roselieb, Direktor des Krisennavigator – Institut für Krisenforschung. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute lautet: Die Natur hat den Menschen hilfreiche Mechanismen mitgegeben, Katastrophen zu meistern. Und die soziale Marktwirtschaft kann ihre Stärken gerade auch in der Krise ausspielen. Wie wir aus dem Tief wieder herauskommen und warum Welcome-back-Partys keine gute Idee sind.
FT: Herr Roselieb, warum sind viele Menschen auf Krisen nicht wirklich vorbereitet?
Frank Roselieb: „Krisen und Katastrophen – wie aktuell die Corona-Pandemie – sind außergewöhnliche Situationen, die nur vergleichsweise selten eintreten, glücklicherweise zudem mit deutlich abnehmender Tendenz. Aus der empirischen Krisenforschung wissen wir, dass die Zahl operativer Krisen – also von Flugzeugabstürzen, Hotelbränden oder Produktrückrufen – in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gesunken ist. Die Welt ist also immer sicherer geworden.
Gleichzeitig entwickeln Menschen zuweilen eigentümliche Mechanismen, um selbst recht offenkundige Anzeichen einer drohenden Krise – auch für das eigene Unternehmen – nicht zu erkennen. Meist werden sie in dieser Haltung auch noch durch ihr Umfeld bestärkt. ‚Groupthink‘ nennen wir das in der Krisenforschung.
Es mangelt also vielfach an Leidensdruck, um sich mit Themen wie Krisenprävention und Business Continuity Management zu beschäftigen. Hier sorgt die Corona-Krise gerade für ein ‚reinigendes Gewitter‘.“
Was macht die Corona-Krise, abseits der Tatsache natürlich, dass sie inzwischen die ganze Welt in Geiselhaft genommen hat, so gewaltig, ist es die Ungewissheit, was kommt? Was passiert in den Köpfen der Leute?
„Pandemien zählen zur Gruppe der Extremrisiken. Sie treten sehr selten ein, haben dann aber gewaltige Auswirkungen. Außerdem sind Pandemien schleichende Krisen. Sie entwickeln sich über einen sehr langen Zeitraum und es dauert vergleichsweise lange, bis sie überwunden sind. Daher können Behörden und Politik die Krisenmanagementmaßnahmen nur schrittweise zur Anwendung bringen, sonst fehlt irgendwann die ‚Munition‘. Zudem wirken die Maßnahmen erst nach längerer Zeit. Das verunsichert viele Menschen. Sie glauben, die Politik reagiere zu spät oder mache das Falsche. Das ist aber nicht der Fall. Vielmehr benötigt man bei einer Pandemie einfach sehr viel Geduld.“
Was macht einen guten Krisenplan aus, welche Punkte gehören unbedingt hinein?
„Im Kern sollten Unternehmen drei Aspekte im Blick behalten. Erstens müssen sie sich um das operative Krisenmanagement kümmern. ‚Business Continuity Management‘ nennen wir das. Hier werden Pläne für die Betriebsfortführung im Notbetrieb zusammengestellt. Zweitens gilt es, das bilanzielle Krisenmanagement im Blick zu behalten – also die Insolvenztatbestände ‚Überschuldung‘ und ‚Zahlungsunfähigkeit‘ zu vermeiden. Pandemien haben beim ersten Punkt den Vorteil, dass – anders als bei Orkanen wie in den USA, Buschbränden wie in Australien oder Tsunamis wie in Südostasien – die Vermögenswerte wie Gebäude und Produktionsanlagen erhalten bleiben. Im Mittelpunkt steht also der zweite Aspekt, der Blick auf die Liquidität. Hier hält der Staat derzeit ein reiches Instrumentarium bereit – von Kurzarbeitergeld bis hin zu Liquiditätshilfen. Und drittens sollte das kommunikative Krisenmanagement nicht vergessen werden. Mitarbeiter und Kunden möchten wissen, wie es nach der Krise weitergeht, und in regelmäßigen Abständen über den Status quo informiert werden.“
Woran können sich Führungskräfte jetzt orientieren, wenn sie eben keinen passenden Krisenplan vorbereitet haben?
„Glücklicherweise hat zum einen die Natur vorgesorgt. Allen Menschen wurden drei ,R‘s von Geburt an mitgegeben. Die Resilienz sorgt dafür, dass Menschen über ‚Stehaufmännchen-Qualitäten‘ verfügen – also unbewusst das Gute im Schlechten suchen und sich dadurch motivieren. Die Redundanz lässt uns nach alternativen Wegen zum Ziel suchen. Ist das Fitness-Studio während der Corona-Krise geschlossen, wird eben das YouTube-Video für Fitness-Übungen in der eigenen Wohnung verwendet. Und schließlich sorgt die Robustheit dafür, dass der Körper sich an die neuen Gegebenheiten anpasst und diese gar nicht mehr als so störend empfindet. Bildlich gesprochen merkt der 100-Meter-Sprinter, dass er auch den Marathon schafft.
Zum anderen spielt in Krisenzeiten die soziale Marktwirtschaft ihre ganze Kraft aus. Sie sorgt dafür, dass Unternehmen dezentral nach neuen Lösungen suchen. Das sehen Sie auch ganz praktisch in der Textilwirtschaft. Statt zu jammern und nach staatlicher Hilfe zu rufen, besinnen sich echte Vollblut-Unternehmer wie Wolfgang Grupp von trigema in Burladingen auf ihre Kernkompetenzen und produzieren nun wiederverwendbare Behelfs-Mund- und -Nasenmasken sowie Stoffkittel. Die passende Waschanleitung liefern sie in kurzweiligen YouTube-Videos gleich mit. Das hätte der Sozialismus mit seinen Fünf-Jahres-Plänen, den sich einige in Krisenzeiten gerne lautstark zurückwünschen, nie hinbekommen.“
Die Unsicherheit führt dazu, dass die Manager auf Sicht fliegen und situativ handeln beziehungsweise reagieren. Ist das eine gute Idee oder ist dennoch strategisches Handeln möglich?
„Extremrisiken wie aktuell die Corona-Pandemie entwickeln sich recht dynamisch. Eine langfristige Planung ist daher kaum möglich. Zudem werden viele Krisenmanagemententscheidungen gar nicht im Unternehmen selbst getroffen, sondern außerhalb von den Behörden und der Politik. Den Führungskräften bleibt daher gar nichts anderes übrig, als in Szenarien zu denken. Zu diesem Zweck sollten sie vier bis fünf mögliche Zeitabläufe im Kopf vorplanen – beispielsweise ‚Wiedereröffnung im Mai‘, ‚Wiedereröffnung im Juli‘, ‚Wiedereröffnung im Oktober‘ und ‚Insolvenzantrag im Juni‘.
‚Auf Sicht fliegen‘ ist also derzeit durchaus sinnvoll. Trotzdem gilt es, mögliche Hindernisse nicht aus dem Blickfeld zu verlieren. Das gilt ganz besonders für den Kunden. Aus der Krisenforschung wissen wir, dass Menschen nach Krisenzeiten ihren Konsum gerne grundlegend verändern. Folglich wird auch nicht jedes Unternehmen der Textilwirtschaft die Corona-Pandemie überleben. Das oben genannte Insolvenz- beziehungsweise Exit-Szenario ist daher durchaus realistisch, gerade für solche Unternehmen mit ‚tollen Hochglanz-Managern‘, aber schwachen Unternehmern an der Spitze.“
Welchen Verhandlungsansatz empfehlen Sie Handel und Industrie angesichts des Lockdowns und des Dilemmas, georderte Ware loszubekommen, obwohl die Läger im Handel noch voll sind?
„Auch hier sind marktwirtschaftliche Lösungen gefragt. Erstens bedeutet ein ‚Shutdown‘ der Textilgeschäfte für vier oder sechs Wochen natürlich noch lange nicht, dass das Frühjahrs- und Sommergeschäft komplett ausfällt. Vielmehr ist eher mit einem aufgeschobenen Konsum zu rechnen, der später in weiten Teilen nachgeholt wird. Zweitens ist manchmal einfach schnödes Marketing gefragt, um die Kunden nach der Corona-Schließung wieder in die eigenen Geschäfte zu locken. Andere Branchen laufen sich hier bereits warm. Beispielsweise hat die Automobilindustrie deutliche Preisnachlässe angekündigt. Und drittens haben sich bei zurückliegenden Krisen Kompromisslösungen in der Wertschöpfungskette bewährt – Tenor: ‚Wir sitzen alle im selben Boot. Wenn ihr uns bei der nächsten Saisonware keinen Rabatt gebt, werden wir nicht mehr bei euch ordern, sondern verkaufen im Jahr 2021 einfach die Sommerkollektion 2020 ab.‘“
Wenn Unternehmen aus dem Krisenmodus wieder in den Normalbetrieb schalten, wie sollte das passieren und welche Punkte sollten dabei unbedingt beachtet werden?
„Die Pandemiepläne sehen kein ‚Ad-hoc-Re-Opening‘ vor. Vielmehr werden Wirtschaft und Gesellschaft schrittweise und konditioniert hochgefahren. ‚Konditioniert‘ bedeutet, dass die Maßnahmen jederzeit wieder zurückgenommen werden können, wenn bestimmte Bedingungen nicht erfüllt werden. Sollten beispielsweise nach den absurden ‚Corona-Partys‘ von Jugendlichen nun ‚Welcome-back-Partys‘ in den Unternehmen gefeiert werden, ist die neue Freiheit schnell passé. Die Behörden und die Politik haben sogenannte ‚Kipppunkte‘ definiert, an denen das Re-Opening wieder gestoppt werden kann (zum Beispiel, wenn die gefürchtete ‚zweite Welle‘ kommt). Sowohl das Virus als auch das Verhalten der Menschen bestimmen also gleichermaßen die Art und Geschwindigkeit der Rückkehr zum Normalzustand.
Die Unternehmen der Textilindustrie werden sich nach der Corona-Pandemie auch auf neue Realitäten einstellen müssen. Beispielsweise wurde nach der BSE-Krise 2001 das Qualitäts- und Krisenmanagement der Agrar- und Ernährungswirtschaft auf eine ganz neue Stufe gehoben. Eine ähnliche Entwicklung erwarten wir auch nach der Corona-Krise. Fragen nach der Versorgungssicherheit, Absicherung gegen Extremrisiken und Redundanz der Wertschöpfungskette werden deutlich an Bedeutung gewinnen. Unternehmen der Textilindustrie sind also gut beraten, sich frühzeitig am ISO-Standard 22301 zum Business Continuity Management oder der deutschen Vornorm DIN CEN/TS 17091 zum Krisenmanagement zu orientieren. Die nächste Krise kommt bestimmt.“
Hinweis der Redaktion: Vor dem Hintergrund der dynamischen Entwicklung der Corona-Pandemie weisen wir darauf hin, dass das Interview am 12. April geführt wurde und keine Aktualisierung der Inhalte erfolgt.
Zur Person: Frank Roselieb (50) ist geschäftsführender Direktor des Krisennavigator – Institut für Krisenforschung, ein „Spin-off“ der Universität Kiel. Seit 22 Jahren beziehungsweise 1998 beschäftigt er sich in Forschung, Lehre, Training und Beratung (fast) ausschließlich mit Krisen, Skandalen, Konflikten und Katastrophen. www.krisennavigator.de /www.roselieb.de