Langsam, so scheint es wenigstens, keimt Hoffnung auf, dass Deutschland wieder aus dem verordneten Stillstand erwacht. Zumindest lassen sich Signale aus Politik und Wissenschaft so deuten, als sei ein erstes Herantasten an eine Öffnung in sehr absehbarer Zeit möglich. Ein Herantasten, mehr nicht, denn das Problem besteht darin, dass sich die Folgen der Öffnung erst in zwei Wochen ablesen und auch erst dann Fehler korrigieren lassen. Auf Sicht fliegen, lautet das Gebot der Stunde – mit Bedacht entscheiden und handeln. Und auch wenn die Sache gut geht, werden wir von alten Zuständen weit entfernt sein. Doch auch wenn es bei vielen Firmen ums nackte Überleben geht, birgt die Krise auch die Chance für Veränderungen – ob sie genutzt wird, ist ungewiss.
„Die Stilllegung betrifft 70 Prozent des Kundenstammes, im Moment gibt es nicht viel zu tun. Den Wünschen der Verbände haben wir weitgehend entsprochen“, berichtet Wolfgang Müller, Geschäftsführer von hajo POLO & SPORTSWEAR, Weiden. Die Handelsverbände Textil (BTE), Schuhe (BDSE) und Lederwaren (BLE) wollen unter anderem die Saison um sechs Wochen nach hinten verschieben und den Lieferprozess entsprechend strecken. Aber auch wenn die Markenindustrie mitzieht, fehlt allen Liquidität, zumal die Engpässe ohne staatliche Hilfen in Form von Zuschüssen und Krediten weiter bestehen und obendrein an die vorgelagerten Vorstufen, also der Industrie und deren Vorlieferanten, durchgereicht würden.
So sorgt man sich in der Industrie um deutliche Ausfälle und ist bemüht, die eigenen Vertriebswege zum Endkunden zu stützen. Im Augenblick geht das bekanntlich nur digital. „Wir versuchen, täglich zu posten und auf den Online-Shop hinzuweisen. Allerdings sind das sehr geringe Umsätze, da auch der Online-Handel unter der Angst-Kampagne leidet“, sagt Müller. Er rechnet damit, dass die Frühjahr/Sommer-Saison tatsächlich um die geforderte Frist verschoben werden dürfte, und nimmt unter anderem auch den September-Termin der Pitti Uomo in Florenz als Indiz dafür. Wie es weitergehen wird, lässt sich aber erst abschätzen, wenn die Läden wieder aufschließen und ein Strich gezogen werden kann, wie groß der Ausfall tatsächlich ist.
Gegenüber FT haben sich Mark Bezner, Inhaber des Hemdenspezialisten OLYMP, Bietigheim-Bissingen, und Maro Nachtrab, Geschäftsführer des Hosenanbieters BRÜHL, Rotenburg an der Fulda, ausführlich dazu geäußert, was sie nach dem Ende des Lockdowns erwarten und wie sie die Krise erleben. „Ab dem Datum, an dem Schulen und Kindertageseinrichtungen bundesweit geschlossen wurden, ging es auch mit den Online-Umsätzen rapide bergab. Durch inhaltliche Anpassung des Contents, der fortan Modetrends für das Homeoffice, Hemden in stimmungsvollen Gute-Laune-Farben, Tipps für den Feierabend zu Hause oder ähnliche Themen in den Vordergrund stellte und insbesondere an unsere Bestandskunden adressiert war, konnten sich die Zahlen zwischenzeitlich wieder etwas erholen. Hierzu haben das Digitalmarketing und eine spezielle Branding-Kampagne zu einem nicht unerheblichen Teil beigetragen. Trotz einzelner Lichtblicke liegt weiterhin ein dunkler Schatten auf den Absatzzahlen“, sagt Bezner. Denn nach Unternehmensangaben erfolgt der Vertrieb von OLYMP-Produkten zu nahezu 80 Prozent über den Bekleidungsfachhandel. Über eigene Handelsaktivitäten, die Online-Shop und Monomarkengeschäfte einschließen, erwirtschaften die Schwaben „gerade einmal ein Fünftel der Erlöse. Die aus den Ladenschließungen resultierenden Umsatzeinbußen lassen sich nicht ansatzweise kompensieren, zumal sich die Kaufzurückhaltung infolge der allgemeinen Stimmungslage auch im E-Commerce bemerkbar macht“, sagt Bezner. Eine Situation, die bei anderen Herstellern nicht viel anders aussehen dürfte. Im Gegenteil, je höher der Anteil an eigenen Läden, umso stärker wird der Lockdown auf der Kostenseite auf die Ergebnisse durchschlagen.
Bezner geht fest davon aus, dass wir die Welt nach und vor Covid-19 unterscheiden können und die Pandemie auch lehrreich in anderer Weise ist: „Die Corona-Krise hat nicht nur der Bekleidungsbranche auf sehr drastische Weise vor Augen geführt, dass sich die bewährten Rahmenbedingungen schlagartig verändern können. Ich bin zwar kein Futurologe, aber überzeugt davon, dass diese einschneidende Erfahrung langfristige Veränderungen in vielen Lebensbereichen nach sich ziehen dürfte, positive wie negative. Interessant ist allein die Tatsache, dass sich immer dann neue Mittel und Wege finden, wenn man sich gezwungenermaßen nach Alternativen umsehen muss. Verlässlichkeit, Beständigkeit und Glaubwürdigkeit werden nach meiner Einschätzung in ihrer Wichtigkeit als Kriterium für die Kaufentscheidung bei Verbrauchern steigen und bei der kundenindividuellen Bildung des relevanten Markenrahmens eine größere Rolle spielen. Digitale Prozesse im Rahmen von Beschaffung, Kollektionserstellung, Kommunikation und Vermarktung werden an Bedeutung gewinnen. Hochwertigkeit, Langlebigkeit und Nachhaltigkeit als entscheidende Produktmerkmale. Klasse statt Masse, Qualität vor Quantität.“ Die Auswirkungen der Virus-Pandemie treffen die Schwaben mit einem hohen Never-Out-of-Stock-Anteil von rund 50 Prozent am Umsatz mit voller Wucht. Gebundenes Kapital, das Lieferanten mit einem starken Lieferprogramm wie zum Beispiel auch die Anzugspezialisten DIGEL und Co an anderer Stelle schmerzlich vermissen dürften. Was in normalen Zeiten einen klaren Wettbewerbsvorteil auch international darstellt, wird nun zur Belastung. „Saisonale Vororders erachte ich für unsere Branche daher auch weiterhin für unerlässlich“, argumentiert Bezner. Aber: „Was Orderrhythmen und -termine anbelangt, wird sich hingegen einiges tun. Diskussionen darüber finden auch bei uns im Unternehmen statt, wobei wir sicherlich bei einem Rhythmus von vier Vororderkollektionen bleiben werden. Als Informations- und Kommunikationsplattform führt auch an Messen weiterhin nichts vorbei. Die Verkürzung von Vorlauf- beziehungsweise Beschaffungszeiten halten wir gerade bei qualitativ hochwertigen Produkten mit einem herausragenden Preis-Leistungs-Verhältnis für unrealistisch. Hier sollten sich die Marktteilnehmer keiner Illusion hingeben. Zumindest für unser Kernprodukt Hemd sind die hierzu erforderlichen Fertigungskapazitäten in Europa schlichtweg nicht verfügbar.“ Auch in Zukunft würden Industrie und Handel Hand in Hand arbeiten, „inwieweit Hersteller das große Warenrisiko, das die Bevorratung eines umfassenden Lagersortiments mit sich bringt, auch in Zukunft in der bisherigen Dimension bereit und in der Lage sein werden zu tragen, ist allerdings ungewiss.“
Der Hosenanbieter BRÜHL hat die Besonderheit, stark im Versandgeschäft vertreten zu sein, mit der eigenen Marke und als Private-Label-Lieferant. Geschäftsführer Maro Nachtrab, der früher auch im Segment der Businesswear unterwegs war, konstatiert, dass Order- und Lieferrhythmen schon vor Corona nicht mehr passten: „Die Ware muss viel zu früh fertig sein und auch die Auslieferungen sind zu weit vom saisonalen Tragebedarf weg. Wir sollten nun wenigstens in der Krise unsere Chancen suchen und über Möglichkeiten nachdenken, wie wir die neue Ware genau in den Saisonverlauf einsteuern können“, appelliert Nachtrab an die Branche. Auch wenn für hochmodische Brands andere Gesetzmäßigkeiten gelten mögen, legt sich Nachtrab fest: „Im Mainstream sind wir definitiv immer zu früh dran. Aus diesem Grund haben wir uns entschlossen, den gesamten Prozess um einen Monat nach hinten zu verschieben, und zwar dauerhaft. Das heißt, wir werden die Sommerware erst im August ausliefern und die Winterware im Februar. Einzige Ausnahme sind die Versender, die traditionell schon früher im Jahr mit Testkatalogen an den Start gehen.“
Überdies wird BRÜHL zumindest für dieses Jahr die Messen angesichts der bestehenden Unsicherheiten aussetzen, will sich aber dennoch bei dem Orderstart zur CPD in Düsseldorf nach der Mehrheit richten. Anderes bleibt ihm auch nicht übrig. „Aber es wäre nur konsequent, wenn sich die gesamte Branche zeitlich neu orientieren und ebenfalls den Prozess um vier Wochen nach hinten verlegen würde. Zumindest zur kommenden Saison Frühjahr/Sommer 2021 ist der Ordertermin schon produktionstechnisch nicht zu halten, da auch die Fertigung in unserer Vorstufe immer noch gestoppt ist und es dauert, bis diese wieder angelaufen ist und wir fertigen können. Ich bin überzeugt, dass einigen Anbietern jetzt auch ihr ausuferndes Lagerprogramm auf die Füße fallen könnte, wenn der Handel nicht mehr nachzieht.“ Italien, der größte Auslandsmarkt des Hosenanbieters, ist von der Pandemie besonders hart getroffen und gilt als einer der Krisenherde auf dem alten Kontinent. Vor Corona gab es kaum Ausfälle. „Italien ist immer noch unser größter Exportmarkt, jetzt aber ist die Entwicklung natürlich wie abgeschnitten. Ich befürchte, dass bis Juli dieses Jahres gut ein Drittel der Händler ihre Türen für immer schließen könnte. Schon in der zurückliegenden Wintersaison haben wir einen Orderrückgang von 15 Prozent zu verzeichnen gehabt“, konstatiert der Manager.
Nachtrab will angesichts voller Läger im Handel auch seine Fachhandelskollektion radikal zusammenstreichen und nur etwa ein Drittel neue Ware einstreuen, die sich dann dem Warenbild auf der Fläche anpassen soll. Und bei diesem Drittel wird es sich um leicht modifizierte Abverkaufsrenner der Vergleichssaison handeln. „Es geht darum, Lücken zu füllen. Im Augenblick heißt die Maxime für Handel und Industrie ,Cash Is King‘ und dafür müssen wir alle uns mächtig anstrengen. Auch für uns bedeuten diese Maßnahmen einen gewaltigen Kraftakt. Wir können jetzt nicht in großem Stil Hosen zurücknehmen oder unendlich valutieren, werden uns aber in jedem Einzelfall um eine faire Lösung bemühen. Wir rechnen mit einem Rückgang im deutlich zweistelligen Bereich für die gesamte Branche und haben auch unsere Mengenplanungen angepasst.“ Bis sich die Lage wieder aufklärt und auch verlässliche Planungen möglich sind, fliegen die Manager auf Sicht. Anders gehe es auch nicht, sagt Frank Roselieb, Direktor des Krisennavigator – Institut für Krisenforschung im Interview mit FT. Und dennoch gelte es, mögliche Hindernisse nicht aus dem Blickfeld zu verlieren.