Eine Chance für den Wandel

Psychologie

„Wir haben jetzt tatsächlich die Zeit und den Raum, etwas wirklich Neues zu schaffen!“ Thomas Rückerl ©Jo Jacobs
Autorin: Katja Vaders

Die Corona-Krise ist allgegenwärtig und bedrohlich. Sie konfrontiert uns mit bisher unbekannten Situationen, auf die wir uns ständig neu einstellen müssen. Tom Rückerl ist sich sicher, dass die Krise vor allem eins bedeutet: eine echte Chance für einen gesellschaftlichen Wandel. Fashion Today sprach mit dem Psychologen und Coach darüber, was man tun kann, um möglichst gut und motiviert durch die Krise zu kommen.

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FT: Herr Rückerl, laut Angela Merkel sieht sich Deutschland gerade mit der „größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg“ konfrontiert. Ist das tatsächlich so? Oder jammern wir Deutschen derzeit (noch) auf hohem Niveau?
Tom Rückerl: „Ich bin kein Prophet, niemand weiß, was noch alles passieren wird, aber ich kann eine Prognose stellen. Für mich als Business-Coach gilt: Leben ist Bewegung, ein stetiger Veränderungsprozess – sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft. Es ist ja nicht so, als hätten wir vor dem Virus keine Probleme gehabt. Eins der wichtigsten Themen unserer Zeit ist der Klimawandel, gegen den Covid-19, langfristig gesehen, eine erheblich kleinere Dimension darstellt. Es kommt sehr auf die Perspektive an, aus der man eine Situation betrachtet und welche Werte dabei gelten. Die aktuelle Krise setzt einen gesellschaftlichen Lernprozess in Gang. Wir sollten die momentane Situation mit offenen Wahrnehmungsfiltern betrachten. Jede neue Situation bietet auch Chancen. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch seine enorme Lernfähigkeit. Die Krise motiviert uns, etwas Neues zu lernen. Wer das nicht tut und stattdessen die Zeit vor der Krise glorifiziert, der wird frustriert zurückbleiben.“

Die Krise wird viele Verlierer generieren und verlangt jedem von uns einiges ab. Wie kann man sich trotzdem immer wieder neu motivieren und die Zuversicht behalten?
„Die aktuelle Situation hat verschiedene Ebenen, die man differenziert betrachten sollte. Natürlich gibt es viele Schwierigkeiten, doch gleichzeitig bekommt unsere Gesellschaft die Chance, ein neues Selbstverständnis zu entwickeln. Für die nötigen Lernprozesse braucht es Motivation. Diese resultiert immer aus einem Spannungsfeld zwischen positiven und negativen Reizen. Derzeit haben viele Menschen eine negative Wahrnehmung und fokussieren sich nur auf Einschränkungen, Sorgen und Gefahren. Sie empfinden Leidensdruck, den es zu transformieren gilt – in konstruktives Chancen-Denken und zielführendes Handeln. Das kann gelingen, indem man sein Gehirn trainiert, sich von der allgemeinen Problem-Hypnose zu lösen und sich stattdessen kreative Fragen zu stellen: ,Was könnte ich tun, anstatt zu leiden? Wie wird es sein, wenn ich dieses Problem nicht mehr habe? Was will ich in einem, in drei, in zehn Jahren erreichen? Welche Ressourcen brauche ich, um meine Wünsche und Ideen zu realisieren?‘ Dabei hilft eine Besinnung auf unsere Werte. Wir sollten überprüfen, ob sie noch zeitgemäß sind und ob sie uns helfen, konstruktiv auf das Coronavirus zu reagieren.“

Die Krise bringt offenbar völlig neue Fragestellungen auf. Glauben Sie, dass die Menschen Hilfe brauchen, um sie zu lösen, zum Beispiel in Form eines Coachings?
„Coaching ist wirksame Hilfe zur Selbsthilfe. Je größer die Probleme, desto stärker wächst der Bedarf, wirksame Hilfe zu bekommen. Als Coach bin ich ein professioneller Problemlöser. Ich helfe Menschen dabei, aus der Problem-Hypnose zu erwachen, ihre Motivation und ihre Kreativität neu zu entdecken und dann ins Handeln zu kommen. Die Nachfrage für Coaching wird in der nächsten Zeit sehr stark ansteigen. Derzeit befinden sich viele Menschen noch in einer Art Schockstarre. Weil sie verunsichert sind, suchen sie noch nicht aktiv nach Lösungen. Viele meiner Kunden sind Unternehmer und Führungskräfte. Sie kommen ins Coaching, um Lösungen für aktuelle Problemstellungen zu entwickeln: ,Wie motiviere ich meine Mitarbeiter zur Mehrarbeit, weil sie in einem systemrelevanten Beruf tätig sind?‘ Oder: ,Wie stärke ich meine Mitarbeiter, damit sie nicht resignieren, wenn sie in Kurzarbeit gehen?‘ Führungskräfte müssen ihren Mitarbeitern jetzt Modelle bieten, die sinnstiftend sind! Sie brauchen positive Zukunftsvorstellungen, die Kraft geben und motivieren, auch neue Wege zu gehen. Nach der Krise wird es anders sein. Es gilt, positiv auf die neuen Anforderungen zu reagieren. Alle Lebewesen müssen lernen, sich erfolgreich anzupassen. Auch der Homo sapiens ist ein Kind der Evolution. Wir sind momentan die erfolgreichste Spezies auf dem Planeten, weil wir so kreativ und anpassungsfähig sind.“

„Social Distancing“ ist etwas, was den meisten von uns sehr viel Anpassungsfähigkeit abverlangt. Was kann den Menschen dabei helfen, mit der staatlich verordneten Isolation besser umzugehen?
„Zurzeit halten sich die meisten Deutschen sehr diszipliniert an die Vorgaben der Bundesregierung, weil sie verstehen, dass diese aktuell notwendig sind. Doch diese Vorgaben fordern einen hohen Preis. Neurowissenschaftler haben bewiesen, dass Menschen in erster Linie soziale Wesen sind. Einen großen Teil unseres Gehirns nutzen wir für soziale Beziehungen. ,Social Distancing‘ bedeutet für die meisten Menschen daher eine enorme Einschränkung – obwohl es natürlich auch einige Zeitgenossen gibt, die gerne auf Distanz gehen. Doch die Mehrzahl braucht soziale Nähe als ,emotionale Nahrung‘. Derzeit beschränken sich viele Kontakte auf das Digitale. Natürlich können wir froh sein, dass die digitale Welt uns Möglichkeiten bietet, auf diesem Weg zu kommunizieren. Wenn es nur darum geht, Informationen auszutauschen, dann funktioniert es. Aber wenn wir Kommunikation unter dem Aspekt der psychischen Gesundheit betrachten, dann sind digitale Kontakte auf Dauer lediglich emotionales Junkfood – sie bieten keine echte, nachhaltige emotionale Ernährung. Positiv ist jedoch, dass viele Zeitgenossen gerade begreifen, wie wichtig reale Sozialkontakte tatsächlich sind. Es entsteht ein neues Bewusstsein dafür, echte Kontakte wertzuschätzen, und daran sollten wir uns erinnern, wenn wir ihnen wieder ungehindert nachgehen können.“

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Neben dem „Social Distancing“ ist Entschleunigung ein großes Thema. Was bedeutet das überhaupt? Sind wir in unserer bisher so schnellen Gesellschaft überhaupt noch in der Lage, tagelang im Jogginganzug auf dem Sofa zu bleiben? Oder ist gerade das der falsche Weg?
„Die Frage impliziert, dass es beim Handeln so etwas wie richtig oder falsch gibt. Das macht Sinn in einer Wissenschaft wie der Mathematik, in der alles genau definiert ist. In unserer derzeitigen Situation ist jedoch vieles überhaupt nicht definiert, im Gegenteil, es sind so viele Variablen im Spiel, dass sich kaum jemand traut, eine zuverlässige Prognose abzugeben. Im Coaching fragen wir zunächst: ,Was will der betroffene Mensch? Und inwieweit ist sein momentanes Handeln zielführend? Welches Mittel ist am besten geeignet, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?‘ Wenn man die aktuelle Zeit dafür nutzen möchte, sich selbst und sein Potenzial besser kennenzulernen, dann könnte es zielführend sein, sich einfach mal eine kreative Pause zu gönnen. Der Wissenschaftsjournalist Ulrich Schnabel hat ein sehr interessantes Buch mit dem Titel ,Muße – Vom Glück des Nichtstuns‘ veröffentlicht. Darin beschreibt er, dass kreative Prozesse oftmals durch eine Phase der Muße initiiert werden. Auch ich empfehle meinen Coachees, sich mit dem Prinzip der Muße anzufreunden. Natürlich braucht es dafür den passenden Zeitrahmen, um sich ganz bewusst eine Phase der Ruhe zu gönnen und so ganzheitlich in Kontakt mit den eigenen Bedürfnissen zu kommen: emotional, mental und körperlich. Auch Freude am guten Essen, ein schönes Glas Wein, Sport, Meditation oder ein inspirierendes Buch können Wege zur Muße sein. Entscheidend ist, dass wir zur Ruhe kommen, die eigene Mitte finden … und die Entspannung, das Nichtstun für diesen klar definierten Zeitraum als angenehm und sinnstiftend empfinden. Dabei laden wir nicht nur den inneren Akku auf, sondern geben auch unserem Unbewussten die Chance, die aktuelle Krisensituation neu zu bewerten und kreative Ideen zu entwickeln.“

In den letzten Wochen hat sich unser Bewusstsein für viele Dinge geändert. Es gibt auf einmal „systemrelevante Berufe“, gleichermaßen wird uns bewusst, dass die jahrelangen Sparmaßnahmen im Gesundheitssystem und die Globalisierung fatale Folgen haben können. Werden wir unsere neuen Erkenntnisse in die Zeit nach der Krise übernehmen oder weitermachen wie zuvor?
„Ich bin davon überzeugt, dass wir nicht einfach in den Zustand von ,vor der Krise‘ zurückkehren werden. Es wird eine ,upgedatete Welt‘ geben, geprägt durch die neuen Erfahrungen. Die Menschheit auf dem gesamten Planeten befindet sich in einem massiven Wandlungsprozess. Er wird zunächst enorme Probleme mit sich bringen, doch dann werden immer mehr Menschen lernen, auf die neuen Bedingungen konstruktiv zu reagieren und sich erfolgreich anzupassen. Wir werden unsere Werte überprüfen und auch berufliche Leistung neu bewerten. Grundsätzlich gilt im Business: Wer einen hohen Nutzen stiftet, der wird damit auch entsprechend gutes Geld verdienen. In der Vergangenheit war der Nutzen der pflegerischen Leistung leider nicht im Fokus der Öffentlichkeit. Das hat sich nun massiv geändert. Daher glaube ich, dass die Anerkennung für Pflegeberufe steigen wird, auch monetär. Berufsgruppen, die weniger Qualifikation erfordern, würden sicherlich davon profitieren, wenn man den Mindestlohn anhebt. Der Gesellschaft wird gerade bewusst, dass jede Form von Sicherheit ihren Preis hat, und wir müssen uns fragen: Wie viel Sicherheit wollen wir uns leisten? Globale Lieferketten und ,just in time‘ erscheinen kurzfristig profitabel, weil ein Teil des tatsächlichen Preises von Entwicklungsländern und zukünftigen Generationen bezahlt wird, aber jetzt sehen wir, wie fragil und verletzbar sie uns machen. Entscheidend für ein würdevolles Überleben der Menschheit ist, dass wir uns nicht länger von den kurzlebigen Versuchungen und scheinbaren Notwendigkeiten der Märkte hypnotisieren lassen, sondern uns vermehrt auf unsere Werte besinnen. Dieser Prozess des bewussten Erwachens ist neben einer kreativen Klimapolitik und dem Kampf gegen den Populismus die größte gesellschaftliche Aufgabe. Die aktuelle Krise bietet uns die Chance, ein neues Bewusstsein zu entwickeln und nachhaltig zu verstehen, dass die alten Programme in der globalen Welt nicht mehr funktionieren. Es gilt jetzt, das eigene Handeln bewusst nach echten, humanistischen Werten auszurichten. Wir haben jetzt tatsächlich die Zeit und den Raum, etwas wirklich Neues zu schaffen!“

Zur Person: Tom Rückerl, Diplom-Psychologe und Management-Coach, Unternehmer und Inhaber von V.I.E.L Coaching + Training, hat in Hamburg seit 2003 bereits über 1.500 Business-Coaches und -Trainer ausgebildet. Derzeit hilft sein Institut V.I.E.L Business Consulting zudem dem deutschen Mittelstand, gestärkt aus der Krise hervorzugehen.

www.viel-coaching.de und www.viel-consulting.de