Die Freuden des Kapitalismus und die Freiheiten des digitalen Zeitalters sind groß, der Preis für beides jedoch zuweilen hoch. Konzerne wie auch Regierungen sind auf unsere Daten aus und diese stellen wir ihnen teilweise sehr freigiebig zur Verfügung.
In China bekommt man seit Dezember letzten Jahres ohne Gesichts-Scan nicht einmal mehr einen Mobilfunkvertrag und bei uns in Europa gibt es eine zunehmende Privatisierung des öffentlichen Raums, die eine fast schon flächendeckende Überwachung mit entsprechenden Kameras zur Folge hat, die jeden unserer Schritte dokumentieren sollen. Kritiker befürchten, dass spätestens die App Clearview das Ende unserer Privatsphäre einläuten könnte: Das Geschäftsmodell des Start-ups besteht darin, jeden Menschen innerhalb von Sekunden identifizierbar zu machen, indem man ein Foto in eine App hochlädt, die es mit Milliarden von Bildern abgleicht, die Clearview auf Social-Media-Plattformen gesammelt hat.
Was kann man tun, um sein Recht auf Privatsphäre und den Schutz seiner Daten zu sichern? Ein Thema, das nicht nur Datenschützer, sondern vermehrt Wissenschaftler, aber auch Künstler und Designer umtreibt. Der Forscher, Ingenieur und Künstler Adam Harvey zum Beispiel beschäftigt sich mit Computern, Datenschutz, Überwachung und Privatsphäre im digitalen Zeitalter. Sein Projekt „HyperFace“ hat den Algorithmen von Gesichtserkennungssoftwares den Kampf angesagt. Mit dem Entwurf eines Musters, das aus einer Aneinanderreihung von stilisierten Gesichtern besteht, gelingt es Harvey, die Algorithmen auszuspielen, die auf der Suche nach einer eindeutigen Identifizierung sind. Ein von ihm entwickeltes Make-up, „CV Dazzle“, ändert die erwarteten dunklen und hellen Bereiche eines Gesichts so, dass es dem Algorithmus schwer gemacht wird, eine konkrete Identifikation einer Person vorzunehmen.
Auch die Leipziger Modedesignerin Nicole Scheller beschäftigt sich mit Themen wie Überwachung, Datenschutz und Privatsphäre: Sie hat bereits eine Kollektion kreiert, deren Teile es ihrem Träger ermöglichen sollen, sich anonym durch den öffentlichen Raum zu bewegen. Die Arbeit an ihrem Label „IP/privacy“ hat damit nicht nur einen ästhetischen, sondern vor allem einen politischen Ansatz. Die Idee, eine Art Mode-Aktivismus zu starten, kam der 27-Jährigen bei einem Auslandssemester in Skandinavien. Hier steht man der stetig fortschreitenden Entwicklung einer digitalen Infrastruktur oder dem vermehrt bargeldlosen Zahlungsverkehr sehr entspannt gegenüber. „Wir Deutschen sind da erheblich kritischer eingestellt und hinterfragen vieles. Das hat mich dazu gebracht, tiefer in das Thema reinzugehen“, erzählt Nicole Scheller. „Es ging mir um Fragen des Datenschutzes und der Videoüberwachung. Wem gehören eigentlich unsere Daten, unsere Identität? Und haben wir ein Recht auf Privatsphäre im öffentlichen Raum?“
Bei ihren Recherchen stieß Nicole Scheller auf Adam Harvey und sein „CV Dazzle“-Make-up. „Das war eine große Inspiration für das Muster meiner Stoffe. Harvey hat versucht, ein Gesicht zu chiffrieren, meine Mode soll nun die menschliche Gestalt chiffrieren“, so Scheller. Aber wie funktioniert das? Indem man eine Silhouette deformiert und ein Muster erstellt, das die Illusion einer Menschenmenge mit vielen Gesichtern transportiert. „Die Kamera wird mit Sinusdaten überflutet, der Algorithmus erkennt gleich mehrere Personen und kann nicht mehr eindeutig identifizieren. So provoziert man Falschdaten, ‚False Positives‘. Die Muster, die für unser Auge unübersehbar sind, sind für die Kamera nämlich nicht auffällig“, erklärt Nicole Scheller. Derzeit sind ihre Teile noch Prototypen und in der Entwicklung. Um dabei technisch immer auf dem neuesten Stand zu bleiben, arbeitet sie inzwischen sogar mit einem Informatiker zusammen.
Neben dem Muster hat Scheller noch einen Mantel in ihrer Kollektion, der aus einem IRR-beschichteten Stoff gefertigt ist. Er isoliert Körperwärme und kann daher nicht von einer Wärmekamera gesichtet werden. In die Kapuze hat sie eine LED-Beleuchtung eingearbeitet, die die Bilder einer Überwachungskamera überblendet und somit das Gesicht unkenntlich macht. „Für das menschliche Auge ist die Wellenlänge dieses Lichts jedoch nicht wahrnehmbar. Das sind so Spielereien, die ich derzeit umsetze und die ich sehr interessant finde.“
Aber nicht nur Scheller – viele weitere Künstler greifen aktuell das Thema Datenschutz auf. So hat das niederländische Project KOVR der Designer Marcha Schagen und Leon Baauw einen Anti-Surveillance Coat herausgebracht, den sie selbst als „a wearable countermovement“ bezeichnen, und auch Künstler wie Leonardo Selvaggio oder Simone C. Niquille beschäftigen sich in ihren Arbeiten mit Überwachung und Datenschutz. Nicole Scheller ist sich sicher, dass das Thema an Gewicht gewinnen wird und sich immer mehr Leute für den Schutz ihrer Privatsphäre einsetzen werden; in ihrer ersten kaufbaren Kollektion wird es daher auch definitiv Unisex- und Männerteile geben. Der Launch ist für 2022 angepeilt.