Menswear on the Move

Pitti Uomo #97

©Pitti Uomo
Autor: Winfried Rollmann

„Show Your Flags“ war das Motto der Januar-Pitti. Es heißt, die eigene Identität, Herkunft und Werte ernst zu nehmen und damit Profil zu zeigen. In Florenz faszinierte, wie facettenreich und multipel sich Männer in Szene setzten. Das hat nicht mehr viel zu tun mit dem Klischee des „bello ragazzo“ und auch die sartoriale Klassik sieht mit Business-Dresscodes im Moment ziemlich alt aus. Ihre Bedeutung schwindet unaufhaltsam, weil sie mit den Lebensgewohnheiten und dem Selbstbild mobiler Großstädter nichts mehr zu tun hat. Umso mehr sucht die Branche nach neuen Ausdrucksmitteln, Menswear zeitgemäßer darzustellen. Die Pitti ist hier ein extrem engagiertes Labor, um dem Neuen zum Ausdruck zu verhelfen.

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Die Modenschau „Otherwise Formal“ wurde von den Machern des DUST-Magazins kuratiert. Ihnen gelang es, den Contemporary Spirit der Moderne mit Street Attitude einzufangen. Provokativ und challenging hat sich Stefano Pilati mit „Random Identities“ neuen Männerrollen genähert. Er hinterfragte in seiner Show in der Stazione Leopolda Männlichkeit in einer „Gender Fluid“-Inszenierung. Extrem feminine Boys deuteten die Männergarderobe auf Absatzschuhen und in fließenden Silhouetten komplett um. Auch wenn wir es hier eher mit einer Hypothese als mit einer Street Reality zu tun haben, drängt sie den Macho ins modische Abseits.
Wie New Menswear in Street-Manier funktioniert, zeigten die jungen Finnen um Rolf Ekroth. Erfrischend lässig und unprätentiös verbanden sie Funktion mit Avantgarde.

Im Folgenden visualisieren wir die Storys und Must-haves der kommenden Wintertrends aus Florenz.

Make it simple!

Informal und smart bringt ein skandinavisch-moderner Minimalismus Klarheit in die Kleiderschränke. Souverän statt aufgeregt. Funktionell und komfortabel zeigen sich die Looks in neutraler Helligkeit. Sie kommen ohne Pattern aus. Mit „Back to essence!“ ist ihre Zeitlosigkeit Programm. Die abgeräumte Outerwear von nanamíca hat wärmendes Filling, kann aber auf banale Steppungen verzichten. NORSE PROJECTS spielt ihre Minimal Padded Styles wertig in GORE-TEX. Relaxte Contemporary Looks bei JOOP!
Der Key Style der Saison ist das Overshirt. Es rückt immer stärker in den Fokus. Als Übergangsjacke bei ETON und ORIAN oder als De-Stressed Suit bringt es Männern eine neue Lässigkeit, die sie selbst im unkonstruierten Blazer nicht haben. Dieser Jackentyp wird mittlerweile im Markt sehr gut aufgenommen. Selbst in gediegenen Anzugstoffen kommt Business-Flair wie bei OSCAR JACOBSON deutlich entspannter rüber. Accessoiriert wird mit edlen Caps, den neuen Wallabys von BRANDBLACK aus Kalifornien oder gestrickten Edelsneakern von BRUNELLO CUCINELLI.

Respect your origins!

Nach Athleisure und Smartness sucht die Mode neue Werte in Nachhaltigkeit und Authentizität. Dazu gehören eine „unfaked“ Ursprünglichkeit und die positive Bewertung des Alterns. Patina und Vintage-Oberflächen erzählen ihre Geschichte. Die recycelten Outdoorjacken von Ethique zeigen dies exemplarisch.
Gebrushter Strick bei IRISvARNIM, zottelige Teddys bei snow peak oder Lammfell bei RUFFO bringen eine Menge Authentizität auf die Waage. Verwischte Muster wirken wie Schneegestöber bei roberto collina oder MACKAGE. In den Looks erden diese Unikate und brechen sonst zu smarten Auftritt mit Charakter. GUDRUN + GUDRUN von den Färöern lassen handgesponnene Garne von den Inseln in palästinensischen Flüchtlingscamps handstricken. Damit verwenden sie nicht nur nachhaltige Garne, sondern geben Frauen in den Camps eine Chance auf ein eigenes Einkommen.
Nachhaltigkeit ist DAS Saisonthema und ist eigentlich so gut wie in allen Kollektionen auf der Agenda. Recycling – in Strick viel Recycled Cashmere (PRESIDENT’S), Outerwear mit recyceltem PES oder Nylon. Recycelte Wolle oder Baumwolle zeigt typische farbige Noppen (XACUS), bei Recycled Technics passen Vintage-Färbungen zum Auftritt der textilen Reinkarnation. Am ökologischsten sind ungefärbte Garne verschiedenster Wollen wie die Alpaka-Pullover von knit brary, die gar nicht auf Farbchemie angewiesen sind.

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Fight for nature!

Das Leben im Großstadt-Dschungel scheint härter zu werden, die Green Rebels kämpfen für die Natur. Hyper Function im Militarylook war in Florenz allgegenwärtig und ist in der Outerwear ein herausragendes Thema. Ob bei den in Jacken recycelten Fallschirmen von RÆBURN, den toughen Parkas von TATRAS oder den Multipocket-Versionen von Raglan UNITED – Outdoor punktet. Auch bei Hosen sind Combat Styles en vogue (NILMANCE), Casual Jackets verbinden bei BOGLIOLI Military-Styling stimmig mit Vintage Dye. Als Farben Kaki oder Black, PU Finishes sind starke Rainwear-Argumente. Neo-Camouflage-Muster gehören zum Musterrepertoire (PRESIDENT’S, ELEMENT). Grafisch interpretiert werden sie bei SONRISA zum edlen Hemden-Print. Bei Schuhen sorgen Combat-Boots für neue Standpunkte (OFFICINE CREATIVE). Neon-Akzente beleben in Accessoires und Statement-Checks (MACKAGE) die Looks.

Remain Anglophile!

Wer hätte das gedacht – kaum haben die Engländer ihren Brexit durch, schwelgt die Mode im Brit-Feeling. Vielleicht ist diese Nostalgie nach Tweeds, Donegals und Country Check ja das Seelenpflaster, das uns die Trennung besser überstehen lässt. Der freie Umgang mit britischen Zitaten befreit sie von ihrer hölzernen Tradition. LBM 1911 schwelgt in warmen Highland-Farben und -Mustern. Cord ist die Softwear der Saison. In breiteren, volleren Rippen bei Bundfalten von MYTHS oder in den spektakulären Overjackets von DOPPIAA unterstreichen sie Trendaffinität. Checks reichen als Key Visual von Nerdy Oxfords bei Hartford bis zu groß karierten Hemden bei BRUNELLO CUCINELLI oder and wander. Spannend die mit geschredderten Baumwollshirts nachhaltig gefärbten Karohemden von VIYELLA. Zu den Donegalhosen von CAPTAIN SANTORS passen die Greenleaf-kolorierten Floral Prints von SONRISA. Chlorophylles Limegreen ist ein guter Akzent bei Knitwear (Drumohr).

Hands-on folks!

Kalifornien, Nevada oder Mexiko inspirieren mit ihren authentischen Folk-Pattern Muster-Fantasien. Die Fernweh-Mythen haben einen hohen visuellen Impakt am PoS, ideal fürs zeitgeistige Storytelling. Yuketen übersetzt sie in Ponchos und Boots, DOPPIAA druckt sie auf Puffer und Johnstons of Elgin verstrickt sie in spektakulären Cashmere-Jacken. Ein starker Fokus bei Strick sind die gebrushten, flauschigen Pullover, wie die verwischten Streifen bei roberto collina. Patchoptiken werden in Hemden bei Drake’s oder im Strick bei INIS MEÁIN zum Thema. Die Coldwater-Surfer von UNRIDDEN bringen Farbpatch in ihre übergroßen Nylonhüllen. Handcrafted Details wie Handstick bei den Hemden von J-B-J oder ALTEA und Patch-Verarbeitungen wie in den Trenchs von Children of the discordance geben der Story eine ganz persönliche Note. Die Filzhüte von SUPER DUPER werden mit angenähten farbigen Steinchen zum begehrten Unikat.

Dress in purple!

Als Farb-Highlights punkten Lila und Erika, sie sind neue und dramatische Farbakzente. Sie passen hervorragend zu Camel-Nuancen. Wie sich das inszenieren lässt, haben LARDINI mit seiner Hommage an den Transsibirien-Express und ALTEA in New Velvet gezeigt. Sportiver setzt CLOSED Lila mit Braun in Szene. In Paisley-Drucken oder allegorischen Liberty Prints harmonieren Purple Shades mit Kürbis-Nuancen (Broska). Der zweireihige Jersey Suit von CIRCOLO 1901 wird mit dem Erika-Turtleneck-Pullover zum Trendsetter. Wem das zu traditionell ist, kann mit kosmischem Purple (BONSAI) oder Nordlichtprints (Broska) à la Star Trek in die Zukunft aufbrechen.

Redefine your classics!

Auch wenn Anzugklassik im Moment im Handel eher der Partykiller ist, geben der Smart Coat und der Suit Männern Format. Der Schlüssel zur redefinierten Klassik sind weitere Silhouetten und eine fließendere Stofflichkeit. Das Gender Play von Stefano Pilati ist die zeitgeistige Antithese zum Macho. Auch wenn weitere Hosen und geradere Jacken von vielen im Handel noch als No-Go beurteilt werden, sind sie bei der Avantgarde schon längst angekommen. In der Fashion Show Otherwise Formal zeigte dies die Pitti beispielhaft. Der zweireihige Paletot wie bei Brioni oder OSCAR JACOBSON gehört diese Saison zur Grundausstattung. Bei Anzügen selbstbewusste, breitere Revers, top ist der Einreiher mit Spitzfaçon (TIGER OF SWEDEN). Dunkles Grün und Braun zeichnen als neue Farbstandards Klassik weniger hart (tintoriaMattei). Beim Glam Suiting kommt der Nite Cowboy in Jacquards bei SAND und in Skysilver bei DRYKORN modisch zum Zug. Als ultimatives Accessoire machen die „Vegas“ Boots von Sneum den Look perfekt.