Ist die Messe gelesen?

Strategie

Branchenkorsett sprengen ©pixabay

Autor: Markus Oess

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Festival, virtuell oder doch nur klassisch? Dass Messen an Bedeutung verlieren, bestreiten Experten. Aber die Aufgaben und Ausgestaltung von solchen Branchenplattformen werden sich deutlich verändern und das branchenunabhängig. Selbst Veranstaltungen ohne die klassische Produktschau sind keine Hirngespinste von Nerds, die aus dicken Brillengläsern blinzeln. Fest steht, der Feind ist nicht der technische Fortschritt, sondern die Einfallslosigkeit und das Festhalten an tradierten Ritualen.

28. Genauso viele Länder beteiligten sich im Oktober 1851 an der ersten Weltausstellung, der Great Exhibition, der Londoner Industrieausstellung, die im Hyde Park in London, Großbritannien, stattfand. 17.062 Aussteller nahmen teil, um genau zu sein. Ausgerechnet 28, genauso viele Länder, wie der EU kurz vor dem wie auch immer gearteten Brexit angehören. Wegen der für damalige Verhältnisse großen internationalen Resonanz bekam die Messe bald den Titel World’s Fair weg. Heute, 168 Jahre später, heißt die Weltausstellung Expo und kein Mensch diskutiert mehr über den ersten Kunststoffstuhl aus vulkanisiertem Kautschuk, der damals in London der Welt vorgestellt wurde. Ebenso alltäglich wie der Kunststoffstuhl sind dafür die Diskussionen über die Zukunft von Messen. So wurde erst jüngst der weltgrößten Computermesse CeBIT das Todesurteil gesprochen. Kennen Sie die britische IPEX? Auch eine der dereinst bedeutendsten Fachmessen der Druck- und Medienindustrie. Sie ist Geschichte. Selbst die Automobil-Industrie scheint den Zug der Zeit verpasst zu haben. Die Detroit Motor Show in Las Vegas oder die IAA sind keine Selbstläufer vergangener Tage mehr. Haben sich die Messen überholt? Müssen wir uns mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass bald die digitale Welt das Geschehen bestimmt mit unendlich skalierbaren Eins-zu-eins-Situationen?

Dr. Peter Neven, Hauptgeschäftsführer des AUMA – Verband der deutschen Messewirtschaft, sieht gegenüber FT keinen Grund zur Sorge: „Generell sinkende Besucherzahlen bei Messen können wir nicht bestätigen. Die internationalen Messen in Deutschland hatten in den Jahren 2016 und 2017 im Durchschnitt konstante Besucherzahlen, 2018 sind sie nach vorläufigen Ergebnissen um maximal 1 Prozent zurückgegangen. Natürlich ist das ein Saldo: Es gibt Messen mit teils deutlichen Rückgängen, wobei die Ursachen in Branchenentwicklungen oder auch in konzeptionellen Schwächen liegen können. Es gibt aber auch Messen mit zweistellig wachsenden Besucherzahlen, vorrangig in innovativen Branchen im Investitionsgütersektor. Der Konsumgütersektor steht generell etwas schwächer da, aber auch hier muss man stark nach Branchen unterscheiden. Anzeichen dafür, dass Messen in absehbarer Zeit ausgedient haben, können wir nicht erkennen.“

Allerdings sagt auch der Verbands-Chef, dass Messen sich heute immer wieder neu positionieren müssten. Dazu gehöre auch die Frage, wer Fachbesucher einer Branche ist. „Vor Jahren hat man hier fast nur auf die Händlereigenschaft des Besuchers gesetzt. Heute versucht man in vielen Fällen, die gesamte Branchen-Community einzubeziehen, ohne die Messe gleich für das Publikum zu öffnen. Im Bereich Mode hat sich das Messeangebot in der Tat besonders stark verändert. Auslöser waren dabei zum einen die Tendenz großer Marken, auf Showrooms zu setzen, oft parallel zu bestehenden Messen, und zum anderen die Vertikalisierung von der Produktion bis zum Einzelhandel. Vergleichbare Entwicklungen gibt es in anderen Branchen in deutlich geringerem Umfang“, meint Dr. Neven.

Wenn zusehends große Hersteller einer Plattform ihr Vertrauen entziehen, wird das oft mit einem nicht mehr gerechtfertigten Preis-Leistungs-Verhältnis begründet. Es fehlt der Ertrag, konkret: Es fehlen Neukunden. Wenn die Messeveranstalter dann technologische, genauer gesagt digitale Neuerungen aus dem Hut zaubern, um wieder eine stärkere Kundenbindung zu erzeugen, kann das aber das Gegenteil auslösen, meint Marketingprofessor Dr. Manfred Kirchgeorg von der HHL Leipzig Graduate School of Management. Er hat sich in seinen Forschungsarbeiten unter anderem auch mit Messen beschäftigt. Für Professor Kirchgeorg behält die physische Messe immer noch die Oberhand: „Trotz beziehungsweise gerade wegen der wachsenden digitalen Kundenerfahrungen werden wir in den nächsten Jahren eine Renaissance der Live Communication erleben. Hierbei geht es um multisensuale Erlebnisse, bei denen alle Sinne markenadäquat angesprochen werden, um Kunden zu begeistern. Im Gegensatz zu digitalen Kanälen können mit der Live Communication drei zusätzliche Sinneskanäle angesprochen werden. Letzten Endes werden Touchpoints nur über die Sinneskanäle auch zu ,Brainpoints‘ beim Kunden. Die Stärke der Live Communication liegt darin begründet, dass alle fünf Sinne aktiviert werden können“,argumentiert Professor Kirchgeorg gegenüber der Absatzwirtschaft. Ob solche multisensualen Erlebnisse aber dann noch auf Messegeländen und in sterilen Messehallen ablaufen, erscheint ihm fraglich. Es falle Unternehmen immer schwerer, ihren Kunden ein multisensuales Top-Erlebnis zu bieten.

Das Spiel mit Virtual & Augmented Realities wird auch auf Messen beliebter. Klar, der Einsatz von VR- und AR-Brillen eröffnet zum Teil großartige Möglichkeiten. Es ist aber auch eine Gratwanderung. Sitzt die Brille erst mal auf der Nase, reduziert sich der Live-Kontakt doch wieder zu einem virtuellen. Unternehmen sollten digitale Tools intelligent vor, während und nach Messen beziehungsweise Live Events so einsetzen, dass möglichst viel Zeit für den analogen und multisensualen Kontakt mit dem Kunden bleibt, rät Professor Kirchgeorg. Gleiches gilt für die Obertrends Gamification, Clever Floors und Smart Visit Tools, die mit Matchmaking oder automatisierten Eintrittskontrollen den Messebesuchsprozess vereinfachen sollen. Digitale Begleiter können eine Messe spürbar verbessern. Aber gleich eine ganze Messe digitalisieren? „Bisher waren die Versuche, virtuelle Messen einzuführen oder wenigstens physische Messen virtuell zu verlängern, nicht gerade von Erfolg gekrönt. Wir werden in naher Zukunft weitere virtuelle Messekonzepte sehen, die aufgrund verbesserter Hard- und Software einen weit stärkeren Eindruck hinterlassen. Aber sie werden dann immer noch nicht die Kraft einer multisensualen Live Communication entfalten. Mit der Intensivierung des digitalen Kundenkontakts sehen wir einen Bedeutungszuwachs der analogen Live-Kontakte. Ein Blick in die Fußballstadien oder auf die Konferenzen im Silicon Valley oder auf das Coacella Festival in Kalifornien ist der beste Beweis dafür, dass analoge Live-Erlebnisse einen Besucherrekord nach dem anderen reißen, obwohl die Inhalte auch digital übertragen werden.“

Zudem gibt es den Trend zur Festivalisierung. Party statt schnöder Warenträger. Aber die Frage dürfte sein, wie viel diese Partys tatsächlich auf die Marke und die Kundenbindung einzahlen. „In diesem Bereich gibt es noch eine Menge Arbeit und Messeveranstalter werden sich im wachsenden Umfang mit alternativen Live-Formaten auseinandersetzen müssen“, schätzt Professor Kirchgeorg. Der Marketingprofessor glaubt, dass die Digitalisierung eher dazu beitragen wird, dass die künftigen Wettbewerber nicht aus der eigenen Branche kommen. Denn klassische Messen sind vielfach in einem Branchenkorsett gefangen. Unternehmen versuchen, da rauszukommen, indem sie messebegleitende Events oder firmeneigene Plattformen kreieren. Beispiel Mercedes. Der schwäbische Autobauer hat auf der IAA neben seinem klassischen Messestand die me convention durchgezogen. 2.500 Besucher kamen. Besucher, die normalerweise nicht auf der IAA zu finden wären.

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Professor Kirchgeorg listet weitere Veranstaltungen auf, die sich geöffnet haben, um genau dieses Branchenkorsett zu sprengen: Die CES Las Vegas hat sich von einer Elektronikmesse zu einer branchenübergreifenden analogen Plattform entwickelt, auf der Kosmetik-, Fitness- oder Medizinanbieter genauso vertreten sind wie Automobilunternehmen. Auch die Düsseldorfer boot und drupa zählt der Marketingexperte auf. Den Erfolg brachten neben einem erweiterten Angebot die verstärkt emotionale Inszenierung sowie die Verbindung von B2C- und B2B-Zielgruppen.

Die heutigen Entwicklungen haben sich übrigens schon vor einiger Zeit ablesen lassen. Professor Kirchgeorg hat in zwei Studien in Zusammenarbeit mit dem Messeverband (B2C: Perspektiven, Potenziale und Positionierung von Publikumsmessen und B2B: Messewirtschaft 2020 – Zukunftsszenarien) die Zukunft der Messen näher skizziert. Was die B2C-Plattformen angeht, entwickelte Kirchgeorg schon 2007 drei Zukunftsszenarien, die auch heute von ihrer Gültigkeit nicht viel verloren haben: Messe-Szenario A: persönlich – kontinental – profiliert; Messe-Szenario B: vernetzt – fragmentiert – erlebnisreich; Messe-Szenario C: virtuell – bedürfnisgerecht – jederzeit. „Während die Szenarien A und B eine Weiterentwicklung der Geschäftsmodelle der Messegesellschaften beinhalten, spiegelt das Szenario C ein Zukunftsbild von Messen, in dem die traditionellen Geschäftsmodelle und Player im Messewesen einer Substitutionskonkurrenz ausgesetzt sind, bei der Anbieter aus dem Bereich der Online-Medien und virtuellen Realitäten neue Geschäftsmodelle aufsetzen“, schrieb Professor Kirchgeorg fast schon prophetisch. Es gibt Faktoren, wie die Globalisierung, politische Entwicklungen oder den Terror, denen Messebetreiber genauso wie andere auch ausgesetzt sind, ohne daran etwas ändern zu können. „Andererseits werden die Zukunftspfade jedoch auch durch die Strategien der im Messewesen tätigen Anbieter selbst geprägt. Der persönliche Kontakt zwischen Entscheidungsträgern, Unternehmen und Kunden in einem emotional ansprechenden Umfeld wird auch im Jahre 2020 eine hohe Wertschätzung erfahren. Dies bestätigen nahezu alle beteiligten Experten. In welchem Umfang physische Produktpräsentationen und Ausstellungsflächen weltweite Branchentreffs noch begleiten werden, ist mit einem Fragezeichen zu versehen.“Tatsache ist jedenfalls, dass in sehr naher Zukunft die Zahl 28 für die EU fallen wird. Dass eine rein rechnerisch lächerlich kleine Differenz von 1 so fatale Folgen haben sollte, ahnten die Macher der Great Exhibition nicht.

Real schlägt digital

Für Dr. Peter Neven, Hauptgeschäftsführer des AUMA – Verband der deutschen Messewirtschaft, ist die physische Messe nicht zu ersetzen. Die Vorteile wie Networking oder persönliche Beratung seien schlagende Pro-Argumente, die auch künftig ihre Bedeutung behielten.  

„Digitale Medien werden den realen Messebesuch effizienter machen.“ Dr. Peter Neven ©AUMA – Verband der deutschen Messewirtschaft

FT: Herr Dr. Neven, verlieren Messen global an Interesse oder nur hier in Deutschland?
Dr. Neven: „Messen verlieren generell weder in Deutschland noch im weltweiten Maßstab an Interesse. Der Modemesse-Sektor ist sicherlich auch in anderen Ländern schwächer geworden, aber nach unserem Eindruck in geringerem Umfang als in Deutschland.“

Viele Veranstalter suchen ihr Heil darin, mit Rahmenprogrammen und digitalen Services ihr Angebot, Messe plus Konferenzen sind ein beliebtes Doppel, aufzupeppen. Ist das der richtige Weg oder verwässert es nicht, schließlich geht es doch um die Ware und den zwischenmenschlichen Kontakt?
„Natürlich stehen Produkt und persönlicher Kontakt weiterhin im Mittelpunkt einer Messe, aber das Zielspektrum der Fachbesucher ist breiter geworden. Deshalb ist es sinnvoll, auf begleitenden Kongressen über generelle Branchentrends zu informieren oder auch über die Zukunft der Branche zu diskutieren. Und es darf auf Messen heute durchaus emotionaler zugehen, ohne dass es gleich Festival genannt werden muss.“

Haben sich die Kräfteverhältnisse zwischen Industrie, Einkäufer und Verbraucher bei den Fachmessen verändert? Während bei Autos oder Consumer Electronics Endverbrauchertage gang und gäbe sind, kommt es in der Mode fast schon einem Tabubruch gleich. Wobei es zugegebenermaßen organisatorisch nicht ganz einfach ist, für gerade mal einen oder zwei Tage eigens für Verbraucher den Stand neu zu bespielen. Sind Verbrauchertage immer ein Gewinn für die Messen?„Öffnungen oder Teilöffnungen von Messen für Verbraucher sind immer gut zu überlegen. Der Erfolg stellt sich hier nicht automatisch ein. Hier gibt es durchaus gelungene Beispiele, wie etwa im Möbelsektor. Im Modebereich besteht aus unserer Sicht immer das Problem, dass der Verbraucher erwartet, dass die Produkte quasi am nächsten Tag zu kaufen sind. Das ist aber in den meisten Fällen nicht der Fall, auch wenn heute die Innovationszyklen deutlich kürzer sind als in den Zeiten, als es nur Sommer- und Winterkollektionen gab. Und die Frage ist: Wie viel Mehrwert, wie viel Erlebnis bekommt der Verbraucher und animiert ihn das zu mehr Einkäufen? Alle Beteiligten müssen sich zunächst darüber einig sein, was das Ziel einer Öffnung ist.“

Haben Sie einen Prototyp der Messe der Zukunft im Kopf? Brauchen wir überhaupt noch die physische Präsenz, wenn wir in der Zukunft in der Lage sein sollten, einen typischen Messebesuch eins zu eins im virtuellen Raum abzubilden?
„Wir haben den Eindruck, dass die Präsentation realer Produkte und die Möglichkeit zu realen Kontakten weiterhin eine ganz erhebliche Bedeutung haben. Nach einer kürzlichen Ausstellerbefragung, die wir in Auftrag gegeben hatten, sagen 99 Prozent der Unternehmen, dass das persönliche Networking ein entscheidender Vorteil von Messen gegenüber digitalen Medien sei. 95 Prozent sehen einen Vorteil in der Möglichkeit zu umfassender persönlicher Beratung und rund 60 Prozent der Aussteller schätzen die Möglichkeit, dem Kunden Erlebnisse zu bieten, die er anderswo nicht bekommt. Insofern sehen wir gegenwärtig keinen nennenswerten Trend zu virtuellen Fachbesuchermessen. Digitale Medien werden aber den realen Messebesuch effizienter machen, von der Vorbereitung bis zum Matchmaking. Die Messe der Zukunft wird auf die Faszination des Realen setzen.“