„Man kann sich entscheiden“

„Die Art des Lebensstils ist wählbar." Philipp Hofstätter ©Zukunftsinstitut

Autor: Markus Oess

Beide sind Engländer, im gleichen Alter, vermögend, haben Kinder und sind sehr berühmt. Prince Charles und der Frontmann von Black Sabbath, Ozzy Osbourne, sind soziodemografische Zwillinge. Für die Werbewirtschaft wäre es fatal, beide in einen Sack zu stecken. Philipp Hofstätter, Zukunftsforscher und Co-Autor der aktuellen Lebensstile-Studie des Zukunftsinstitutes über Menschen, Medien und Manipulation. Wie Lebensstile helfen können, die Gesellschaft zu kategorisieren und die richtigen Zielgruppen zu definieren, und was die Digitalisierung der Medien mit uns macht.

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FT: Herr Hofstätter, welchem Lebensstil hängen Sie nach?
Philipp Hofstätter: „Gute Frage. Sinnkarrierist und Digital Creative trifft es vermutlich. (lacht) Aber Lebensstile sind natürlich Idealtypen. Sie sind zweifellos eine zugespitzte Darstellung. Streng genommen wird kein Mensch zu 100 Prozent nur einem Lebensstil angehören. Dazu ist die Gesellschaft zu komplex und wir Menschen sind zu vielfältig interessiert. Es ist daher eher eine Schnittmenge aus mehreren Lebensstilen. Wie eingangs erwähnt, passen bei mir der Sinnkarrierist und der Digital Creative ganz gut. Mir ist die Karriere wichtig, aber auch die Work-Life-Balance. Der Job muss mich auch erfüllen, sonst kann ich keine Leidenschaft entwickeln und Höchstleistungen abrufen. Digital Creative ergibt sich aus meinem Beruf als Zukunftsforscher von selbst.“

Passt Ihr Kleidungsstil dazu?
„Absolut. Als Sinnkarrierist bin ich modebewusst, trage Business Casual, aber als Digital Creative bevorzuge ich genauso einen lässigen Kleidungsstil.“

Können Sie noch einmal mit kurzen Worten das Grundmodell erklären, über das Sie die Lebensstile ableiten?
„Die Welt wird vernetzter und komplizierter, sodass einfache soziodemografische Ordnungsmuster nicht mehr ausreichen, um die Menschen sinnvoll zu kategorisieren. Mein Lieblingsbeispiel ist ein Vergleich von Prince Charles mit dem Frontmann von Black Sabbath, Ozzy Osbourne. Beide sind Engländer, im gleichen Alter, vermögend, haben Kinder und sind sehr berühmt. Sie sind deshalb als ,soziodemografische Zwillinge‘ zu bezeichnen. Aber trotzdem pflegen die beiden sehr verschiedene Lebensstile. Uns geht es darum, idealtypisch Lebensstile zu definieren, in die sich die Gesellschaft anhand bestimmter Kriterien wie Lebenseinstellung, Beruf, Hobby und so weiter aufteilen lässt. Und dann ordnen wir diesen Lebensstilen soziodemografische Daten zu. Wir gehen also gedanklich den umgekehrten Weg, wenn Sie so wollen.“

Welche Lebensstile sind für Mode besonders anfällig? Nicht nur die Reichen und Schönen sind Trendsetter.
„Reichtum an sich ist schon ein Kriterium, mit dem Sie sich am Rande der Gesellschaft bewegen. Es gibt natürlich Gruppen, die sich in der Mitte der Gesellschaft aufhalten, und Gruppen, die sich am Rande der Gesellschaft bewegen. Wer ist Trendsetter, wer schwimmt im Mainstream und wer lebt rückwärtsgerichtet? Aus unserer Sicht sind vor allem die Digital Creatives, die Vorwärtsmacher, interessant für die Modeindustrie, denn sie sind neugierig, offen, Neues zu probieren, und – für mich fast das Wichtigste – sie wollen auch verändern, aktiv werden. Während die Digital Creatives meist junge Menschen sind, die in der digitalen Welt aufgewachsen sind und ganz selbstverständlich Dinge wie Instagram nutzen, haben Vorwärtsmacher, ebenfalls meist junge Menschen, ein neues Wertesystem und wollen die Welt positiv verändern. Der Mainstream ist ja auch modeinteressiert, sucht aber die Sicherheit der Masse. Und Menschen mit einem rückwärtsgerichteten Lebensstil wie die Nervösbürger sind mit allem unzufrieden, wollen aber den Status quo nicht verändern, aus Angst, dass dann ja alles noch schlimmer wird.“

Kann ich meinen Lebensstil frei wählen oder ist nicht doch vieles durch das Leben, in das ich hineingeboren werde, vorgezeichnet?
„Natürlich nehmen Faktoren wie Herkunft, Reichtum oder Bildung einen großen Einfluss auf den künftigen Lebensweg. Aber wir kennen einen Megatrend, der sich überall in der Welt vollzieht: die Individualisierung. Sie führt dazu, dass wir immer unabhängiger von soziodemografischen Faktoren unseren Lebensstil ausüben. Wer vor 50 Jahren in einer Bauernfamilie aufgewachsen ist, wurde mit großer Wahrscheinlichkeit auch Landwirt. Heute kann dieselbe Person entscheiden, Architektur in den USA zu studieren und einen komplett anderen Lebensweg als die Eltern zu beschreiten. Die Art des Lebensstils ist wählbar, wenn Sie so wollen. Auch wenn bestimmte exogene Faktoren wie Reichtum nicht eben so einfach ausblendbar sind, wenn ich etwa ein Jetsetleben führen will. Aber man kann sich eben entscheiden.“

Mode schafft auch ein Zugehörigkeitsgefühl. Wie verändern Trends die Mode in diesem Sinne?
„Auf Trends, die sich im Lebensstil von Menschen ausdrücken, die vorneweggehen, schaut alle Welt, um zu erfahren, was wohl als Nächstes kommt. Wieder komme ich auf die Digital Creatives, die Vorwärtsmacher, oder die Neo-Hippies zu sprechen. Sie sorgen dafür, dass die Grenzen verschwinden. Sie brechen mit alten Traditionen und kündigen Dresscodes auf, indem sie auch bewusst mit Klischees spielen. Der Mercedes-Chef Dieter Zetsche trägt Sneaker und der Blogger Sascha Lobo kommt wie selbstverständlich mit einem Irokesenschnitt zum abendlichen Fernsehtalk.“

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Wie sollten die von Ihnen beschriebenen Avantgardisten von der Modeindustrie angesprochen werden?
„Da gibt es keinen Königsweg, zumal die Individualisierung gerade bei dieser Menschengruppe besonders ausgeprägt ist. Es empfiehlt sich, für jeden Lebensstil eine eigene Strategie festzulegen. Während Digital Creatives logischerweise sehr empfänglich für breite digitale Kommunikation sind, legen Neo-Hippies mehr Wert auf Empfehlungsmarketing und springen vielleicht sogar wieder auf klassische Druckerzeugnisse an, weil ihnen das Haptische, Ästhetische am Herzen liegt. Am wichtigsten ist, dass wir verstehen müssen, dass wir uns vom klassischen Generationendenken verabschieden sollten. Die Generationen X oder Y oder Z oder wie auch immer Sie sie nennen wollen, haben sich in der Kommunikation überlebt. Ich meine, schauen Sie sich an, wie viele Leute in ihren Mittdreißigern eine Auszeit nehmen, sich vom Lärm, der uns umgibt, zurückziehen, wieder auf analoge Geräte zugreifen und abends das Buch Netflix vorziehen.“

Was passiert mit dem Mainstream?
„Das ist eine wichtige Frage, denn der wird von der Werbeindustrie oft vernachlässigt, obwohl das vom Umsatzpotenzial her natürlich nicht passieren sollte. Auch bei Lebensstilen, die dem Mainstream zuordenbar sind, spielt die Mode eine wichtige Rolle. Die Menschen wollen mit der Zeit gehen, haben aber ein gewisses Sicherheitsbedürfnis und wollen sich eben nicht exponieren wie die Avantgarde. Diese Gruppe lässt sich gut über Influencermarketing und prominente Markenbotschafter beziehungsweise -träger erreichen.“

Sterben Lebensstile?
„Die Lebensdauer von Lebensstilen lässt sich nicht pauschal festschreiben. Lebensstile können sich verändern, an Bedeutung verlieren und verschwinden. Zum Beispiel können Digital Creatives als Lebensstil an Bedeutung verlieren, weil das, was sie ausmacht, zum Normalzustand für die ganze Gesellschaft geworden ist. Heute hat jeder sein Smartphone und ist auf den Social-Media-Kanälen unterwegs. Aber Facebook zum Beispiel ist inzwischen ein ‚altes‘ Medium, von dem sich die ganz Jungen mittlerweile beginnen zu verabschieden. Sie suchen sich neue Herausforderungen. Damit ist diese Lebenswelt auf dem Rückzug, auch wenn die Menschen natürlich immer noch den gleichen Charakterzug ausleben.“

Sie ordnen auch Altersgruppen bestimmten Lebensstilen zu. Hat die altersbezogene Werbung doch noch ihre Berechtigung, wenn etwa Rentner mit dem Skateboard durch die Halfpipe rasen und wild abfeiern?
Natürlich ist nicht alles in Stein gemeißelt und klar, auch das kann noch sehr gut funktionieren. Aber wichtig ist zu verstehen, dass wir einen Lebensstil als Wertegemeinschaft und nicht als feste Altersgruppe begreifen. Jeder Lebensstil kommt in einer bestimmten Altersgruppe häufiger vor als in anderen. Generell lässt sich aber sagen, dass Lebensstile altersunabhängig sind. Der Weg über die Ansprache des Wertesets ist daher eine gute Option zur Altersansprache. Aber denken Sie an bestimmte Gesundheitsprodukte, die man erst im hohen Alter braucht. Klar wird man sich dort für die Altersansprache entscheiden, weil dort einfach der Markt am größten ist.“

Beschleunigt die Digitalisierung die gesellschaftliche Veränderung, steigen mit ihr die Möglichkeiten der Manipulation?
„Absolut. In Zeiten von Fake News haben Populisten überall Konjunktur, auch bei uns in Österreich. Populisten arbeiten auch nicht mit Lösungen und Visionen, sondern mit Ängsten und verfestigten Vorurteilen, die sich aus einer diffusen Urangst speisen. Nervösbürger können so funktionieren. Generell nimmt die Dynamik der Veränderungen zu. Daran müssen wir uns gewöhnen.“

Haben damit andere Werbemittel ausgedient?
„Nein. Es kommt eher zu einer weiteren Aufspaltung. Fernsehen, Radio und Print wird es weiterhin geben. Aber sie müssen sich den Markt mit den digitalen Medien teilen. Wie gesagt, das Wichtigste ist, seinen Kunden so gut es geht zu kennen, ihn ganz spezifisch anzusprechen und mit ihm möglichst im Dialog zu kommunizieren. Nicht ohne Grund gewinnt Big Data aktuell so an Bedeutung. Mit der Gießkanne zu hantieren, hilft nicht.“