Für mehr echte Vielfalt in der Modeindustrie
Im Bereich Toleranz ist die Modebranche nicht unbedingt eine Vorreiterin, wie die anhaltenden Diskussionen um überperfekte Maße in der Modelszene zeigen. Nach wie vor hält sie nämlich daran fest, auf den internationalen Laufstegen, in Magazinen sowie Kampagnen ein Idealbild der Frau zu zeichnen, das der Marktrealität nicht entspricht, zumal allein in Deutschland die meistgekaufte Kleidergröße in der Womenswear die 42 ist.
Seit einigen Jahren rütteln erfolgreiche Models wie die Plus-Size-Schönheit Ashley Graham die Szene auf und stehen damit sinnbildlich für die naturgegebene Vielfalt des weiblichen Körpers. Leider liest man in diesem Zusammenhang dann häufig, sie habe Erfolg „trotz“ und nicht „aufgrund“ ihrer für die Branche ungewöhnlichen Maße.
Die Mode tut sich schwer mit Veränderungen. Das erwähnt auch einer der aktuell erfolgreichsten Designer im Luxussegment, Olivier Rousteing, Kreativdirektor des französischen Traditionshauses BALMAIN, immer wieder in seinen Interviews. Trotz aller Schnelligkeit, Kurzlebigkeit, Modernität und Wandelbarkeit hängt diese Branche immer noch nicht mehr zeitgemäßen Strukturen, Traditionen und Weltanschauungen an. Dass der damals 24-jährige Rousteing der erste schwarze Designer bei BALMAIN ist, ist für die Branche ein deutlich interessanteres Thema gewesen als sein eigentlich herausstechend junges Alter. Für den erfolgreichen Designer kann eine Kollektion nur dann modern und zeitgemäß sein, wenn sie auch die Diversität der Gesellschaft aufgreift. Er zeigt daher auf dem Laufsteg Models sämtlicher Hautfarben, was längst nicht alle großen Modehäuser machen.
Nicht umsonst zählt Kim Kardashian zu seinen Musen, obwohl deren Körperform keineswegs, wie auch die von Megastar Beyoncé Knowles, den Idealen der Catwalks genügt, wohl aber mit beachtlichen 103 Millionen Followern, Fans und Nachahmern auf Instagram dem Frauenbild der heutigen Generation entspricht. Olivier Rousteing scheut sich auch nicht, ein Luxus- und Traditionshaus wie BALMAIN trotz aller Kritik in den sozialen Medien zu etablieren. Zeitgeist ist in diesem Zusammenhang sicherlich ein wichtiger Begriff, der bei Wikipedia als Denk- und Fühlweise eines Zeitalters definiert wird.
Neue Anforderungen an Markenkommunikation
Mit dem Thema des gesellschaftlichen Wandels beschäftigt sich unter anderem das Hamburger Beratungsunternehmen Trendbüro in seiner Trendstudie 2017. Diese spiegelt Veränderungen in den Bereichen Kultur, Technologie und Wirtschaft wider, die den Konsumenten, seine Erwartungen und Entscheidungen beeinflussen.
Unter anderem wird dort beschrieben, dass es heute nicht mehr ausreicht, im Bereich der Markenkommunikation und Werbung „politisch korrekt“ zu sein. Stattdessen gilt es, die gesamte Bevölkerungsvielfalt zu berücksichtigen. Die Themen Geschlecht, Alter und Ethnie werden dort als besonders relevante Kriterien hervorgehoben und das nicht nur, weil dies auf juristischer Ebene oftmals gefordert wird.
Weiter ist in der Studie zu lesen, dass „Total Diversity“, wie es im Englischen heißt, alle Facetten des menschlichen Lebens einbezieht, wozu naturgemäß auch Menschen mit Behinderungen gehören. Das Thema Inklusion wird somit nicht nur auf gesellschaftlicher Ebene gefordert und gefördert, sondern in gleicher Weise auch von den modernen Marken erwartet. Und das mit einer klaren Haltung.
Ein Statement auf einem T-Shirt reicht nicht aus
Im Bereich der Statements ist die Mode derzeit ja sehr laut. „We should all be feminists“ ist sicherlich einer der Slogans aus dem Hause Dior geworden, die auf modischer Ebene wieder den Stein losgetreten haben, mit klaren Worten Stellung zu beziehen, sei es auf politischer oder gesellschaftlicher Ebene, sei es politisch korrekt oder eben nicht. Natürlich reicht ein Statement auf einem T-Shirt nicht aus, aber Dior hat ja Maria Grazia Chiuri, der ersten Frau überhaupt, das kreative Ruder übergeben und damit eine Tradition gebrochen. Es geht also nicht ohne Glaubwürdigkeit.
Marken, die die menschliche Diversität thematisieren, bekommen also, gerade weil sie dieses Bedürfnis der Gesellschaft aufgreifen, mehr Aufmerksamkeit. Transgender-Models, Werbekampagnen, die das Thema Homosexualität aufgreifen, Plus-Size-Shootings, Beauty-Models, die jenseits der 70 sind, und Schönheitsideale, die gegen die gängige Norm verstoßen, sehen wir bereits vermehrt bei unterschiedlichen Marken und Models in unterschiedlichen Branchen.
Diversity meint Vielfalt in allen Lebensbereichen
Die Vielfalt des menschlichen Lebens bezieht dabei nicht nur die Vielfalt von Schönheitsidealen oder Geschlechtsidentitäten, sondern vor allem auch Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen sowie Anomalien ein. 2017 ist die neue Netflix-Serie „Atypical“ an den Start gegangen – der Hauptdarsteller ist ein autistischer Teenager. Die amerikanische Sitcom „Speechless“ (ebenfalls in der Trendbüro-Studie erwähnt) beschreibt das Leben einer Familie, die einen stummen, an den Rollstuhl gefesselten Sohn hat. Unvergessen ist in diesem Zusammenhang sicherlich der erfolgreichste und mit einem Golden Globe gekürte Film des Jahres 2011 – „Ziemlich beste Freunde“. Das Thema Behinderung wird als Alltagsphänomen dargestellt, dem mit Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit gegenübergetreten wird.
Während die Filmbranche in diesem Bereich wenig Berührungsängste zeigt, ist das Thema in der Markenwelt der Modebranche außerordentlich selten anzutreffen, obwohl Bekleidung ein unverzichtbarer Bestandteil des Alltags eines jeden von uns ist.
Spezialisierung und Individualisierung
Zunehmend spezialisierte Bekleidungskonzepte zeigen, dass die Modebranche sich bereits gezielt mit den Bedürfnissen und Anforderungen von besonderen Konsumentengruppen beschäftigt. Die Commuter-Serie von LEVI’S beispielsweise sorgt mit Spezialmaterialien und Hightech für einen anspruchsvollen Mix aus Mode und Performance, der dem urbanen Lifestyle ebenso gerecht wird wie gezielt den sportlichen Anforderungen von Radfahrern. Reflektoren, verstärkte Partien, wasserabweisende Stoffe und höher geschnittene Gesäßteile sind nur ein Auszug von Eigenschaften, die dem Radfahrer seinen Sport mit Komfort und Bequemlichkeit erleichtern sollen. Ein Produkt für die breite Masse? Eher nicht, aber ein spezialisiertes, das sich mit einer sehr konkreten Aufgabenstellung befasst und dieser gerecht wird.
In einer Zeit, in der Materialinnovation und Funktionalität die Modebranche dominieren und die individualisierte Gesellschaft im urbanen Umfeld in ihrer Diversität bereits mehr und mehr bedacht wird, ist es sicherlich angebrachter denn je, auch den Sektor Mode für Behinderte vermehrt zu berücksichtigen; denn dort besteht ein deutlicher Bedarf an spezialisierten Produkten. Die Voraussetzungen des Marktes für Konzepte und Umsetzungen dieser Art sind vorhanden – ein hoffnungsvolles Zeichen für die Zukunft?