Rollstuhl-Models auf dem Laufsteg und amputierte It-Girls in Hochglanz-Shootings – die Fashionbranche geriert sich gern als Hort der Inklusion, vergisst dabei jedoch, die Nische „Mode für Behinderte“ mit dem nötigen Stoff zu füllen. Bleibt Menschen mit Handicap und Stilbewusstsein also nur der Weg zur Maßschneiderei? Wir haben nachgeforscht.
Recherche Part 1: Zum Thema „Mode für Behinderte“ schlägt Google auf den ersten Seiten mit „Rolli-Moden“, „Rolling Pants“ und „Reha-Fashion“ genau die zu erwartenden „All Function, no Fashion“-Anbieter vor, um die es in diesem Artikel nicht gehen soll. Kann das schon alles sein? Schließlich wird das Sujet bereits seit geraumer Zeit als der große vergessene Markt der Branche gehandelt, der nur darauf wartet, abgeerntet zu werden. Und das wohl zu Recht, denn laut einer Erhebung des Statistischen Bundesamts leben aktuell mehr als 7,6 Millionen Schwerbehinderte in Deutschland. Fast jeder Zehnte ist demnach also betroffen.
Was nicht passt, wird passend gemacht
Die Frankfurter Modeberaterin Jutta Horn von vivepink hilft Menschen mit Handicap bei der Wahl der richtigen Kleidung und weiß um die Schwierigkeiten auf beiden Seiten. „Das Marktpotenzial erscheint natürlich erst einmal recht groß, aber man darf nicht vergessen, dass Behinderte finanziell häufig schlechter gestellt sind und sich teure Kleidung nicht leisten können. Zudem sind Behinderungen in ihrer Ausprägung einfach zu vielfältig, als dass sie mit konfektionierter Ware wirklich abgedeckt werden könnten.“
Statt zu Teilen von einschlägigen Nischenlabels zu greifen („stilistisch fast immer langweilig“), rät sie ihren Kunden, von der Stange zu kaufen und anschließend passend abändern zu lassen – oder, sofern es der Geldbeutel zulässt, direkt zur Maßanfertigung. Eine Meinung, die die Hamburgerin Anastasia Umrik teilt. Sie ist nicht nur Betroffene und Aktivistin, sondern hat mit inkluWAS auch ihr eigenes Shirt- und Sweaterlabel zum Inklusionsdiskurs gegründet. „Es gibt nicht DEN Behinderten. Rollstuhlfahrer sind ein eigenes Thema, Amputierte sind ein eigenes Thema und Kleinwüchsige sind auch ein eigenes Thema – die Liste ist eigentlich endlos. Es gibt keine Mode für Behinderte, weil sich die Investition für Unternehmen nicht lohnt. Das ist die traurige Wahrheit. Ich kaufe online ein und probiere dann alles durch. Ich kenne meinen Körper ja gut genug, um zu wissen, worauf ich achten muss und welche Schnitte und Materialien zu mir passen. Den Rest übernimmt der Änderungsschneider.“
Die Macht der Internationalisierung
Recherche Part 2: Und es gibt sie doch, die Modeschaffenden, die sich dezidiert der Thematik angenommen haben. Christine Wolf, Designerin aus Berlin, hat bereits 2012 mit einer Kollektion für Rollstuhlfahrer den zweiten Platz beim von der russischen NGO Bezgraniz (russisch für „ohne Grenzen“) ausgerufenen Bezgraniz Couture Award in Moskau gewonnen und zwei Jahre später eine Kollektion für Blinde hinterhergeschoben.
„Mode für Blinde zu gestalten, war für mich natürlich völliges Neuland. Also habe ich Kontakt zu Blinden aufgenommen, um herauszufinden, wie sie Mode wahrnehmen, und da geht es nicht nur viel um Materialien, Nahthaptiken und das Abtasten von Details, sondern auch um ganz praktische Dinge wie Pflegefragen. Viele Betroffene waschen ihre Kleidung beispielsweise nur kalt, damit sich nichts verfärbt. Zudem sollten die Styles nicht zu weit geschnitten sein, damit man nicht irgendwo hängen bleibt. Ach ja, und auf Kapuzen sollte man verzichten, weil sie den wichtigen Hörsinn irritieren.“ Um ihre Kollektion für Blinde les- und somit erlebbar zu machen, hat Wolf Hinweise zu Größe, Material, Pflege, Farbe und Kombinationsmöglichkeit in Brailleschrift aufgestickt – für Sehende raffinierte Musterspiele, für Blinde wichtige Informationen.
Bleibt die Frage, ob sich der Aufwand auszahlt. „Ich habe natürlich Anfragen bekommen und gemerkt, dass es da einen Riesenbedarf gibt, aber ich denke, es ist noch ein weiter Weg hin zu einer behindertengerechten Mode, die am Markt bestehen kann. Bezgraniz ist aber ein gutes Beispiel dafür, dass sich hier aktuell eine Menge tut. Die Organisation ist mittlerweile weltweit aktiv, hält Workshops ab, organisiert Modenschauen und Kunstaktionen und unterstützt Designer bei der Produktion und dem für die Nische so wichtigen internationalen Labelaufbau.“
Zu groß, um klein zu bleiben
2013 im Rahmen einer Bachelorarbeit erdacht, verpasst das Berliner Label ‚Auf Augenhöhe‘ kleinwüchsigen Menschen einen kompromisslos stilbewussten Fashionlook. Wie es dazu kam, haben wir Gründerin Sema Gedik gefragt.
FT: Was bewegt eine Modedesignstudentin dazu, ein Label für Kleinwüchsige zu gründen?
Sema Gedik: „Meine Cousine Funda, die in der Türkei lebt, ist kleinwüchsig und gleichzeitig absolut fashionbegeistert. Leider findet sie kaum adäquate Mode für ihre Körpermaße und hat mir darüber immer wieder ihr Herz ausgeschüttet. Ich war also schon früh sensibilisiert. Doch erst während eines gemeinsamen Urlaubs wurde mir bewusst, dass Kleinwüchsige nicht nur einfach kleiner sind, sondern auch völlig andere Proportionen haben. Die Arme sind etwas kürzer, das Gesäß ein wenig breiter und der Schenkelumfang größer. Sie würden also, um gleich mit diesem Vorurteil aufzuräumen, in der Kinderabteilung nichts Passendes finden. Im Rahmen meines Bachelorstudiums bin ich intensiver in das Thema eingestiegen. Ich habe zunächst drei kleinwüchsige Menschen vermessen, auf dieser Basis dann Grundschnitte entwickelt und schließlich Outfits entworfen. Das Projekt bestimmte dann auch mein Masterstudium. In Auf Augenhöhe steckt einfach viel Forschungsarbeit, weil es überhaupt keine Zahlen gab, auf die ich zurückgreifen konnte. Mittlerweile habe ich die Maße von mehreren Hundert Kleinwüchsigen weltweit …“
… und Sie haben Ihre Entwürfe bereits auf dem Laufsteg der Fashion Week Berlin präsentiert. Ist das Label also aus der Projektphase heraus?
„Ja, und wir werden aktuell vom Startup Incubator Berlin unterstützt, der unter anderem vom Europäischen Sozialfonds gefördert wird. Mittlerweile mache ich Auf Augenhöhe auch nicht mehr allein, sondern habe mit Laura Knoops und Jan Siegel noch zwei Mitstreiter im Team. Parallel zum Label bieten wir übrigens auch Nähworkshops zum Thema an.“
Laut Statistik gibt es in Deutschland rund 100.000 Kleinwüchsige. Muss man in der Nische groß, sprich mindestens gesamteuropäisch denken, um auf die nötigen Absatzzahlen zu kommen, die solch ein Label trägt?
„Ich denke schon, und so gehen wir auch an Auf Augenhöhe heran. Unsere Styles sollen modisch und hochwertig, aber auch preislich fair sein, und da sind wir auf gewisse Produktionsvolumen angewiesen. Natürlich werden wir vom Preis her ein Stück weit über dem Niveau von H&M und Co liegen, aber ich denke, das ist okay. Nicht zuletzt dank meiner Vorarbeiten spricht sich das Labelkonzept auch international immer weiter herum. Wir bekommen laufend Anfragen und Aufträge, etwa für Anzüge oder Hemden. Die entstehen derzeit zwar noch an der heimischen Nähmaschine, zukünftig werden sie allerdings in größerem Rahmen produziert.“