Da maßte nix! So arbeitet die Branche

Maßkleidung

Autor: Markus Oess

Klassische Herrenausstatter gehören zu einer aussterbenden Spezies im deutschen Textilhandel, der sich in den Extremen von Billigmaßen, Luxus- und Öko-Anbietern aufzuteilen beginnt. Ein Markt, in dem die Mitte zusehends ihren Lebensraum verliert. Da haben auch Maß-Anbieter keinen Platz, möchte man meinen. Weit gefehlt. Der Individualismus, und bisweilen nur der Wunsch danach, ist immer noch ein praktikabler Lebensentwurf im textilen Einzelhandel: Eigenmarke, Service und Beratung – allesamt klassische Erfolgsfaktoren, die immer wieder dem stationären Handel anempfohlen werden, um sich im harten Wettbewerb zu behaupten. Boom ist in dieser Branche inzwischen ein Fremdwort, aber ein einträgliches Auskommen ist durchaus möglich. Praxisbeispiele.

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Stefan Piel, Head of Design, Product and Marketing, Atelier Torino, CORPUS LINE by WILVORST

„CORPUS LINE gibt es seit 2000 und wird seit 2010 unter WILVORST geführt“, erklärt Stefan Piel, Head of Design, Product and Marketing, Atelier Torino, CORPUS LINE Line by WILVORST. CORPUS LINE bietet Händlern an, relativ unkompliziert Maßkleidung ins Sortiment zu holen. Die Investitionskosten der Händler beschränken sich auf die Einrichtung einer Maßecke nach ihren eigenen Vorstellungen. Und sie müssen einmalig einen Satz Schlupfgrößen pro Body anschaffen. Ein Satz kostet 3.000 Euro. Dazu erhalten sie mit dem Handbuch eine Art Gebrauchsanweisung, wie CORPUS LINE vom Maßnehmen bis hin zur Order funktioniert. „Wir schulen auch die Händler vor Ort oder bei uns und unterstützen sie auch bei den ersten Maßtagen mit ihren Kunden. Händler erhalten überdies kostenlos PoS-Material wie Saisonfolder, Prospekte, Deko-Artikel etc.“, sagt Piel.

Die Größe wird zunächst über Schlupfgrößen austariert. Aus den Abweichungen nach unten beziehungsweise oben ergibt sich dann das genaue Maß. Piel erklärt den Ablauf: „Der Händler kann dann die Maße direkt über das Internet per Log-in ordern. Der Endkunde kann dabei aus verschiedenen Bodys auswählen: Modern, Slim, Casual, Drop 8 und Classic. Über den Styleprofiler kann der Kunde am Rechner seinen Anzug individuell zusammenstellen und sich direkt das Ergebnis ansehen. Das geht von den eingesetzten Materialien und Stoffen über Detaillösungen bis hin zu den Grundschnitten. Rein rechnerisch ergibt sich damit eine Kombination von mehr als 2,7 Milliarden Varianten.“

Die Kunden können ihre Stoffe aus einem Hausbündel oder aus Fremdbündeln wie zum Beispiel Zegna, Loro Piana oder HOLLAND & SHERRY auswählen. „Wir haben Anzüge, Hosen, Westen und Sakkos im Programm. Wir lassen in Europa bei einem festen Partner produzieren, die kürzeste Lieferzeit beträgt zehn Arbeitstage“, weiß Piel. „Wir empfehlen generell zwei Maßtage pro Saison, einmal als Kick-off in die Saison und ein zweites Mal zum Saisonende, mit verschiedenen Aktionspaketen.“

Generell werden bei CORPUS LINE keine UVP ausgesprochen. Das sei auch gar nicht möglich, da die Artikel individuell zusammengestellt werden. „Aber wir können schon sagen, dass ein gängiger Maßanzug zu einem Preis möglich ist, der dem der gehobenen Konfektion entspricht. Die durchschnittliche Spanne im Handel pendelt um die 2,6. Wir arbeiten in Deutschland mit rund 350 Händlern zusammen und wollen auch in den kommenden Jahren linear im einstelligen Bereich zulegen.“

 

Der Mensch macht den Unterschied

Siggi Gröschel, Inhaber von SIGGI GRÖSCHEL Maßbekleidung

Einer dieser Händler, mit denen WILVORST zusammenarbeitet, ist Siggi Gröschel. Gröschel ist weder Schneider noch Schuster, sondern technischer Kaufmann für Bekleidung. Aber er hat lange Jahre in der Bekleidungsindustrie und auch im Handel gearbeitet. „Ich lebe von meiner Erfahrung und von meiner Menschenkenntnis“, erklärt Gröschel. Er betreibt seinen Laden im bayrischen Erlangen in einer 1b-Lage. „Seit 2000 verkaufe ich Maßkleidung, seit 2006 betreibe ich ein Ladengeschäft, weil sich die Gewohnheiten ändern und der Kompetenztransfer in einem Laden doch ungleich leichter fällt. Ich verstehe mich als echter Herrenausstatter, meine Konkurrenz ist nicht der Laden nebenan oder in Nürnberg, sondern die Shops in den Metropolen und in den Flughäfen, wo die Menschen unterwegs sind und aus Lust oder Frust Geld ausgeben“, erzählt er gegenüber FT. Im Geschäft ist noch Reno, sein schwarzer Labrador. „Zu mir kommen keine Kunden. Zu mir kommen Menschen! Sie haben einen Wusch, ein Bedürfnis und suchen eine Lösung. Maßkleidung wird gekauft, weil die Menschen sich individuell kleiden wollen, sie sonst keine passende Kleidung finden oder das gewünschte Kleidungsstück einfach nicht mehr angeboten wird.“

Gröschel ist überzeugt: Wer Maßkleidung anbiete, müsse sich auf seinen Industriepartner voll und ganz verlassen können. „Er verheiratet sich mit ihm. Umgekehrt erwarte ich das Engagement, das ich für meine Partner erbringe, auch für mich, denn warum sonst sollten wir zusammenarbeiten, wenn nicht beide voneinander profitieren und sich unterstützen? Ich arbeite mit CORPUS LINE nun seit 16 Jahren zusammen. Ein im Sinne des eben Gesagten verlässlicher Partner.“

Sein Sortimentsmodell ist einfach aufgebaut. „Für jeden Bereich habe ich einen Lieferanten und das muss passen.“ Die Hemden produziert die Rieder Maßmanufaktur, Herxheim. Schuhe, Gürtel und Taschen bezieht Gröschel von Handmacher aus Wels in Österreich. Maßjanker kommen von der Firma Klotz. Als Abrundung des Sortimentes verkaufe er noch Krawatten und Fliegen von Ascot/Hemley Karl Moese GmbH, Krefeld, Socken von Kunert, Immenstadt, und T-Shirts von Ragman, Waldshut-Tiengen, sowie Manschettenknöpfe von Lindenmann. Die Anfangspreislagen liegen für Anzüge bei 649 Euro, für Hemden bei 169 Euro und für die holzgenagelten Schuhe mit Buchenholzspanner bei 349 Euro.

Die Schuhe sind handgefertigt und holzgenagelt. Eine Besonderheit, die den Schuh besonders haltbar macht. „Mit Handmacher ist es möglich, auch Unpaare, also ungleiche Schuhe, fertigen zu lassen. Der Mensch ist nun mal nicht symmetrisch, das merkt man besonders bei den Schuhen. Ich hatte bei einem Kunden sogar zwei Schuhgrößen Differenz“, sagt Gröschel.

Bevor die Kleidung ausgeliefert wird, durchläuft sie eine intensive Qualitätskontrolle und den Maßcheck. Diese Überprüfung erfolgt immer erst am nächsten Tag, da die Stoffe nach dem Transport für den Maßcheck auf Raumtemperatur sein sollten. Die Lieferzeit beträgt zwischen dem Maßtermin und der Auslieferung vier bis fünf Wochen. Das ist branchenüblich.

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Demokratisierungsmaßnahmen

Thomas Kuschel, einer der MASSNAHME-Gründer

Selbst Franchisemodelle sind inzwischen im Maßatelier angekommen. So ist in Konstanz Anfang 2004 die MASSNAHME gestartet. Ende 2015 folgte ein zweiter Standort in Köln. „Ein echter Franchiseladen ist das in Köln noch nicht, denn diesen betreibt ein alter Studienfreund von mir und wir sind an dem Geschäft zu zwei Dritteln beteiligt. Allerdings steht das Konzept und wir sind in konkreten Gesprächen über Standorte in Frankfurt, Freiburg, München, Augsburg und eventuell Stuttgart“, berichtet Thomas Kuschel, der mit seinem Geschäftspartner Sebastian Zapf die MASSNAHME entwickelt hat.

„Die Grundidee ist, Männer passend einzukleiden. Passend meint die Mode selbst und die Passform gleichermaßen. Und das zu fairen Preisen. Natürlich wollen wir auch Geld verdienen, aber in einer Weise, dass unsere künftigen Franchisepartner, die Lieferanten und natürlich unsere Kunden profitieren“, erläutert Kuschel. Kuschel und sein Partner betreiben eine Full-Service-Werbeagentur und sind über Kunden in Kontakt mit der Modebranche gekommen. „Uns macht das Produkt viel Spaß und da sind wir den letzten Schritt gegangen und haben die MASSNAHME entwickelt. Unser Vorteil ist sicher auch, dass wir zwar kein Geld verlieren wollen, aber nicht zwingend verdienen müssen. Das verschafft uns Freiräume.“

Die Franchisenehmer zahlen eine Startgebühr in Höhe von 10.000 Euro. Im Gegenzug erhalten sie über die Agentur in der Kommunikation ein Komplettpaket von der Website bis zum Briefpapier. „Überdies haben wir bei der Ladeneinrichtung Rabatte von gut 40 Prozent ausgehandelt. Wie schreiben nicht jeden Tisch und jedes Regal vor, aber eine gewisse Grundordnung in der CI erwarten wir schon. Dazu kommt eine jährliche degressive Franchisegebühr in Höhe von 10 bis 7 Prozent auf den Wareneinsatz. Da müssen Sie aber die Rückvergütung von 10 Prozent auf den Umsatz gegenrechnen.“

Einen bestimmten Kundentyp kann Kuschel nicht nennen. Es kommen Männer, die Wert auf gute Kleidung und Individualität legen. „Und weil wir das zu bezahlbaren Preisen anbieten, kommen auch die jungen Leute. Meist sind es aber Geschäftsleute und Männer, die anlassbezogen kaufen, Hochzeiten und so etwas.“ In Konstanz verkauft die MASSNAHME inzwischen nach eigenen Angaben 1.000 Anzüge im Jahr, die nahe Schweiz hilft. In Köln gehen rund 500 Anzüge über die Theke. Der Laden kommt an und so hatte im vergangenen Jahr RTL 2 angeklopft. „Wir durften Lucas Cordalis bei seiner Hochzeit mit Daniela Katzenberger ausstatten. Gute Werbung für uns und das vergleichsweise günstig.“

Das Unternehmen beschäftigt in beiden Standorten zehn Mitarbeiter, ausschließlich Modedesigner, Einzelhandelskaufleute und zwei Schneider. Auch hier wird bei Anzügen, Hemden und Westen mit Schlupfgrößen gearbeitet. Diese gibt es in den Grundschnitten Slim, Klassisch und Weit. Beim Design selbst existieren im Grunde keine Grenzen. Bei dem Design orientieren sich die Kreativen an dem, was die Branche an Output so liefert, Messen, Fachmagazine oder schlicht die Beobachtung der allgemeinen Modetrends. „Modisch gesehen sind wir nun nicht gerade avantgardistisch, sondern eher Mainstream. Das aber mit gutem Geschmack“, sagt Kuschel.

„Wir haben lange gesucht und viele Fertigungsstätten getestet, bis wir fündig wurden. Heute lassen wir die Anzüge und die Hemden bei einem osteuropäischen Partner fertigen. Die Maßschuhe kommen aus Italien von einer kleinen Manufaktur. Der Preis mag im ersten Moment mit 599 Euro sehr hoch klingen. Dafür bekommen Sie aber einen rahmengenähten Top-Schuh mit Fußbett aus bis zu drei Lederarten gefertigt, der Sie lange Jahre trägt. Wir haben aber mit Gordon & Bros auch einen sehr guten rahmengenähten Schuh ab 149 Euro im Programm. Accessoires wie Einstecktücher kaufen wir zu, bieten aber auch hier zum Beispiel Krawatten aus individueller Fertigung an.“ Wenn alles klappt, kommt im Sommer die Maßjeans.

 

BOSS Made to Measure

Dass auch HUGO BOSS mit dem eigenen Selbstverständnis an Maßkleidung nicht vorbeigeht, ist eigentlich klar. Die Metzinger führten die Maßkonfektion BOSS Made to Measure 2011 ein. „Wir haben damit auf das steigende Bedürfnis unserer Kunden nach luxuriösen und individuellen Produkten und Services reagiert“, erklärt eine Sprecherin auf FT-Anfrage. Weltweit arbeiten derzeit 25 ausgewählte Stores mit BOSS Made to Measure. Auf dem alten Kontinent ist Maßkleidung aus dem Hause BOSS in der D-A-CH-Region (Frankfurt am Main, Düsseldorf, Hamburg, München, Berlin Kurfürstendamm, Stuttgart, Wien, Basel, Genf und Zürich), Großbritannien, Frankreich, Spanien und Portugal erhältlich. Dazu kommen noch Stores in China, Hongkong, Singapur, Malaysia und Japan sowie in Australien.

„BOSS Made to Measure wird sehr gut im D-A-CH-Markt angenommen und wir sind zuversichtlich, bestehende sowie neue Kunden für Made to Measure zu begeistern. Mit zehn Stores im D-A-CH-Markt sind wir gut aufgestellt. Wir arbeiten zusätzlich stetig an der Erweiterung unseres Made to Measure-Portfolios, um auch für den bestehenden, loyalen Kunden neue Produkte individuell fertigen zu lassen. So bieten wir neben Anzügen und Hemden auch maßgefertigte Mäntel und edle Kaschmirschals an. In diesem Sommer werden wir im Stuttgarter Store Made to Measure-Schuhe und Gürtel einführen“, berichtet die Sprecherin über die Perspektiven des Segments. Ab 1.700 Euro bietet HUGO BOSS Full-Canvas-Anzüge auf Maß an. Gefertigt werden die guten Stücke in Metzingen. „Es versteht sich von selbst, dass bei der Herstellung viel Handarbeit und nur die feinsten italienischen Stoffe zum Einsatz kommen.“